Negierung eines allgemeinen Rechts aus Durst nach Wirklichkeit

Quelle: GA 018, S. 327-381, 9. Ausgabe 1985, 1901

In vergrößertem Maße tritt der Fehler, den Czolbe mit seiner Gehirnkreisbewegung gemacht hat, bei dem genialen Karl Christian Planck (1819-1880) auf. Die Schriften dieses Mannes sind ganz vergessen worden, trotzdem sie zu dem Interessantesten gehören, was die neuere Philosophie hervorgebracht hat. Ebenso lebhaft wie der Materialismus strebte Planck nach einer Welterklärung aus der wahrnehmbaren Wirklichkeit heraus. Er tadelt an dem deutschen Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels, daß dieser einseitig in der Idee das Wesen der Dinge suchte. «Die Dinge wahrhaft unabhängig aus sich selbst erklären, heißt sie in ihrer ursprünglichen Bedingtheit und Endlichkeit erkennen.» (Vgl. Planck, Die Weltalter, S.103.) «Es ist nur die eine und wahrhafte reine Natur, so daß die bloße Natur im engeren Sinne und der Geist nur Gegensätze innerhalb der einen Natur im höheren und umfassenden Sinne sind» (a.a.0. S.101). Nun tritt aber bei Planck das Merkwürdige ein, daß er das Reale, das Ausgedehnte für dasjenige erklärt, was die Welterklärung suchen muß, und daß er dennoch nicht an die sinnliche Erfahrung, an die Beobachtung der Tatsachen herantritt, um zu dem Realen, zu dem Ausgedehnten zu gelangen. Denn er glaubt, daß die menschliche Vernunft durch sich selbst bis zu dem Realen vordringen kann.

Hegel habe den Fehler gemacht, daß er die Vernunft sich selbst betrachten ließ, so daß sie in allen Dingen auch sich selbst sah; er aber wolle die Vernunft nicht in sich selbst verharren lassen, sondern sie über sich hinausführen zu dem Ausgedehnten, als dem Wahrhaft-Wirklichen. Planck tadelt Hegel, weil dieser die Vernunft ihr eigenes Gespinst aus sich spinnen läßt; er selbst ist verwegen genug, die Vernunft das objektive Dasein spinnen zu lassen. Hegel sagte, der Geist kann das Wesen der Dinge begreifen, weil die Vernunft das Wesen der Dinge ist und die Vernunft im Menschengeiste zum Dasein kommt; Planck erklärt: das Wesen der Dinge ist nicht die Vernunft; dennoch gebraucht er lediglich die Vernunft, um dieses Wesen darzustellen. Eine kühne Weltkonstruktion, geistvoll erdacht, aber erdacht fern von wirklicher Beobachtung, fern von den realen Dingen, und dennoch in dem Glauben entworfen, sie sei ganz durchtränkt mit echtester Wirklichkeit, das ist Plancks Ideengebäude. Als ein lebendiges Wechselspiel von Ausbreitung und Zusammenziehung sieht er das Weltgeschehen an. Die Schwerkraft ist für ihn das Streben der im Raum ausgebreiteten Körper, sich zusammenzuziehen. Die Wärme und das Licht sind das Streben eines Körpers, seinen zusammengezogenen Stoff in der Entfernung zur Wirksamkeit zu bringen, also das Streben nach Ausbreitung.

Plancks Verhältnis zu seinen Zeitgenossen ist ein höchst interessantes. Feuerbach sagt von sich: «Hegel steht auf einem die Welt konstruierenden, ich auf einem die Welt ... als seiend erkennen wollenden Standpunkt; er steigt herab, ich hinauf. Hegel stellt den Menschen auf den Kopf, ich auf seine auf der Geologie ruhenden Füße.» Damit hätten auch die Materialisten ihr Glaubensbekenntnis charakterisieren können.

Planck aber verfährt der Art und Weise nach genau so wie Hegel. Dennoch glaubt er so zu verfahren wie Feuerbach und die Materialisten. Sie aber hätten ihm, wenn sie seine Art in ihrem Sinne gedeutet hätten, sagen müssen: Du stehst auf einem die Welt konstruierenden Standpunkt; dennoch glaubst du, sie als seiend zu erkennen; du steigst herab, und hältst den Abstieg für einen Aufstieg; du stellst die Welt auf den Kopf und bist der Ansicht, der Kopf sei Fuß. Der Drang nach natürlicher, tatsächlicher Wirklichkeit im dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts konnte wohl nicht schärfer zum Ausdruck gelangen als durch die Weltanschauung eines Mannes, der nicht nur Ideen, sondern Realität aus der Vernunft hervorzaubern wollte. Nicht minder interessant wirkt Plancks Persönlichkeit, wenn man sie mit derjenigen seines Zeitgenossen Max Stirner vergleicht. In dieser Beziehung kommt in Betracht, wie Planck über die Motive des menschlichen Handelns und des Gemeinschaftslebens dachte. Wie die Materialisten von den wirklich den Sinnen gegebenen Stoffen und Kräften für die Naturerklärung ausgingen, so Stirner von der wirklichen Einzelpersönlichkeit für die Richtschnur des menschlichen Verhaltens. Die Vernunft ist nur bei dem einzelnen. Was sie als Richtschnur des Handelns bestimmt, kann daher auch nur für den einzelnen gelten. Das Zusammenleben wird sich von selbst ergeben aus der naturgemäßen Wechselwirkung der Einzelpersönlichkeiten. Wenn jeder seiner Vernunft gemäß handelt, so wird durch freies Zusammenwirken aller der wünschenswerteste Zustand entstehen. Das naturgemäße Zusammenleben entsteht von selbst, wenn jeder in seiner Individualität die Vernunft walten läßt, im Sinne Stirners ebenso, wie nach der Ansicht der Materialisten die naturgemäße Ansicht von den Welterscheinungen entsteht, wenn man die Dinge ihr Wesen selbst aussprechen läßt und die Tätigkeit der Vernunft lediglich darauf beschränkt, die Aussagen der Sinne entsprechend zu verbinden und zu deuten. Wie nun Planck die Welt nicht dadurch erklärt, daß er die Dinge für sich sprechen läßt, sondern durch seine Vernunft entscheidet, was sie angeblich sagen; so läßt er es auch in bezug auf das Gemeinschaftsleben nicht auf eine reale Wechselwirkung der Persönlichkeiten ankommen, sondern er träumt von einem durch die Vernunft geregelten, dem allgemeinen Wohle dienenden Völkerverband mit einer obersten Rechtsgewalt. Er hält es also auch hier für möglich, daß die Vernunft das meistere, was jenseits der Persönlichkeit liegt. «Das ursprüngliche allgemeine Rechtsgesetz fordert notwendig sein äußeres Dasein in einer allgemeinen Rechtsmacht; denn es wäre selbst gar nicht wirklich als allgemeines auf äußere Weise vorhanden, wenn es nur den einzelnen selbst überlassen wäre, es durchzuführen, da die einzelnen für sich ihrer rechtlichen Stellung nach nur Vertreter ihres Rechtes, nicht des allgemeinen als solchen sind.» Planck konstruiert eine allgemeine Rechtsmacht, weil die Rechtsidee nur auf diese Weise sich wirklich machen kann. Fünf Jahre vorher hat Max Stirner geschrieben: «Eigener und Schöpfer meines Rechts, erkenne ich keine andere Rechtsquelle als - mich, weder Gott, noch den Staat, noch die Natur, noch auch den Menschen selbst mit seinen 'ewigen Menschenrechten', weder göttliches, noch menschliches Recht.» Er ist der Ansicht, daß das wirkliche Recht des einzelnen innerhalb eines allgemeinen Rechtes nicht bestehen kann. Durst nach Wirklichkeit ist es, was Stirner zur Verneinung eines unwirklichen allgemeinen Rechtes treibt; aber Durst nach Wirklichkeit ist es auch, was Planck zu dem Streben bringt, aus einer Idee einen realen, den Rechtszustand, herauskonstruieren zu wollen.

Wie eine Planck im stärksten Maße beunruhigende Macht liest man aus seinen Schriften das Gefühl heraus, daß der Glaube an zwei ineinanderspielende Weltordnungen, eine naturgemäße und eine rein geistige, nicht naturgemäße, unerträglich ist.