Nietzsche hätte von Stirner lernen können

Quelle: GA 005, S. 096-100, 3. Ausgabe 1963, 1895

Man kann von Nietzsches Entwickelung nicht sprechen, ohne an den freiesten Denker erinnert zu werden, den die neuzeitliche Menschheit hervorgebracht hat, an Max Stirner. Es ist eine traurige Wahrheit, daß dieser Denker, der im vollsten Sinne dem entspricht, was Nietzsche von dem Übermenschen fordert, nur von wenigen erkannt und gewürdigt worden ist. Er hat bereits in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts Nietzsches Weltanschauung ausgesprochen. Allerdings nicht in solch gesättigten Herzenstönen wie Nietzsche, aber dafür in kristallklaren Gedanken, neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie ein bloßes Stammeln ausnehmen.

Welchen Weg hätte Nietzsche genommen, wenn nicht Schopenhauer, sondern Max Stirner sein Erzieher geworden wäre! In Nietzsches Schriften ist keinerlei Einfluß Stirners zu bemerken. Aus eigener Kraft mußte sich Nietzsche aus dem deutschen Idealismus heraus zu einer der Stirnerschen gleichen Weltauffassung durchringen.

Stirner ist wie Nietzsche der Ansicht, daß die Triebkräfte des menschlichen Lebens nur in der einzelnen, wirklichen Persönlichkeit gesucht werden können. Er lehnt alle Gewalten ab, die die Einzelpersönlichkeit von außen formen, bestimmen wollen. Er verfolgt den Gang der Weltgeschichte und findet den Grundirrtum der bisherigen Menschheit darin, daß sie nicht die Pflege und Kultur der individuellen Persönlichkeit, sondern andere, unpersönliche Ziele und Zwecke sich vorsetzte. Er sieht die wahre Befreiung des Menschen darin, daß dieser allen solchen Zielen keine höhere Realität zugesteht, sondern sich dieser Ziele als Mittel zu seiner Selbstpflege bedient. Der freie [] Mensch bestimmt sich seine Zwecke; er besitzt seine Ideale; er läßt sich nicht von ihnen besitzen. Der Mensch, der nicht als freie Persönlichkeit über seinen Idealen waltet, steht unter dem Einflusse derselben, wie der Irrsinnige, der an fixen Ideen leidet. Es ist für Stirner einerlei, ob sich der Mensch einbildet, der «König von China», oder ob «ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch usw. zu sein - das ist beides ein und dieselbe . Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen.»

Man braucht nur einige Sätze aus Stirners Buch: «Der Einzige und sein Eigentum» zu lesen, um zu sehen, wie verwandt seine Anschauung der Nietzscheschen ist. Ich führe einige Stellen aus diesem Buche an, die besonders bezeichnend für Stirners Denkweise sind.

«Vorchristliche und christliche Zeit verfolgen ein entgegengesetztes Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das Ideale realisieren, jene sucht den , diese den . Daher schließt jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der ; diese wird mit der Abwerfung des Idealen, mit der enden

Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waschungen und so weiter), so geht der der Verleiblichung durch die christliche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will sie erlösen, das heißt mit sich erfüllen; da er aber oder ist, so führt man (zum Beispiel Hegel) am Schlusse die Idee in alles, in die Welt, ein und beweist, . Dem, was die heidnischen Stoiker als aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung , jener wie dieser ein - fleischloses Wesen. Der unwirkliche , dieser leiblose , der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher , in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche , das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in Mir.

Daß der Einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen Weltgeschichte sein Eigentum besitzt, das geht übers Christliche hinaus. Dem Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie die Geschichte Christi oder ist; dem Egoisten hat nur seine Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht die Menschheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der Vorsehung, nicht die Freiheit und dergleichen. Er sieht sich nicht für ein Werkzeug der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf an, er wähnt nicht, zur Fortentwickelung der Menschheit dazusein und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich aus, unbesorgt darum, wie gut oder schlecht die Menschheit dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverständnis zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so könnte man an Lenaus erinnern. - Was, bin Ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee durch mein Bürgertum das Meinige zu tun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht Mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach [] einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet.

Das Ideal ist realisiert, wenn die christliche Anschauung umschlägt in den Satz: Die Begriffsfrage: - hat sich dann in die persönliche umgesetzt: Bei suchte man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei ist's überhaupt keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.

Man sagt von Gott: Das gilt von Mir: kein Begriff drückt Mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft Mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von Mir.

Eigner bin Ich meiner Gewalt, und Ich bin es dann, wenn Ich Mich als Eingen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins: Stell' Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen:

Dieser auf sich selbst gestellte, nur aus sich heraus schaffende Eigner ist Nietzsches Übermensch.

[] Diese Stirnerschen Gedanken wären das geeignete Gefäß gewesen, in das Nietzsche sein reiches Empfindungsleben hätte gießen können. Statt dessen suchte er in Schopenhauers Begriffswelt die Leiter, auf der er zu seiner Gedankenwelt hinauf kletterte.