Stirner fehlt die Naturwissenschaft

Quelle: GA 039, S. 193-194, 2. Ausgabe 1987, 05.12.1893

Hochgeschätzter Herr!

Mein Verleger Emil Felber in Berlin wird Ihnen im Laufe der letzten Tage mein eben erschienenes Buch «Philosophie der Freiheit» übersendet haben. Ich habe mir erlaubt, Ihnen diese Schrift, in der ich die Weltanschauung des Individualismus in wissenschaftlicher Weise zu begründen versuche, vorzulegen. Meiner Meinung nach bildet der erste Teil meines Buches den philosophischen Unterbau für die Stirnersche Lebensauffassung. Was ich in der zweiten Hälfte der «Freiheitsphilosophie» als ethische Konsequenz meiner Voraussetzungen entwickle, ist, wie ich glaube, in vollkommener Übereinstimmung mit den Ausführungen des Buches «Der Einzige und sein Eigentum». Ich hoffe auch über das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft am Schlusse des Kapitels «Die Idee der Freiheit» etwas der modernen Naturwissenschaft wie der Stirnerschen Ansicht in gleichem Maße Entsprechendes gesagt zu haben. Auf Stirner ausdrücklich zu verweisen, hatte ich keine Veranlassung, da sich mein ethischer Individualismus mit Notwendigkeit aus meinen Prinzipien ergibt. Sollte ich das Glück haben, eine zweite Auflage meines Buches erscheinen lassen zu können, so möchte ich dann in einem neu hinzukommenden Schlußkapitel die Übereinstimmung meiner Ansichten mit den Stirnerschen ausführlich zeigen. Auch arbeite ich gegenwärtig an einer kleinen Arbeit über «Max Stirner und Eduard von Hartmann», in der ich die zwei entgegengesetzten Pole des modernen Denkens kritisch kennzeichnen will.

Ich erlaube mir, diesen Zeilen nur noch die Bemerkung anzufügen, daß es mir zur ganz besonderen Befriedigung gereichen würde, wenn Sie, hochgeehrter Herr, in der Lage wären, meinen Bestrebungen einiges Interesse abzugewin nen.

Ich gestehe, daß mir an einem Urteile von Ihnen sehr viel gelegen wäre.

Mit besonderer Hochachtung

Ihr ergebenster

Dr. Rudolf Steiner