Liebe statt Zwang zu Sprache und Volk

Quelle: GA 209, S. 028-043, 1. Ausgabe 1968, 27.11.1921, Oslo (Kristiania)

Das ist ein großer Unterschied, ob wir durch die geschilderten Erlebnisse mehr mit Bewußtheit verfolgen können, was da mit uns sich abspielt zwischen Angeloi und Archangeloi, oder ob wir das nur in einem dumpfen, dämmerhaften Zustande erleben, wie es eben erleben müssen diejenigen Menschen, die sich nur mit materialistischem Bewußtsein durchdrungen haben. Es ist nicht ein ganz zutreffender Ausdruck, wenn ich sage: dumpf, dämmerig erleben die Menschen. Ich müßte vielleicht, um genauer zu charakterisieren, sagen: sie erleben es so, daß sie fortwährend herausgestoßen werden aus einer Welt, von der sie eigentlich aufgenommen werden sollen, daß sie fortwährend sich erkältet fühlen von einer Welt, die sie eigentlich warm empfangen soll. Denn sympathisch soll der Mensch von der Welt der Archangeloi in dem angeführten wichtigen Zeitmomente empfangen werden, warm soll er von ihnen empfangen werden. Dann wird er auch in richtiger Weise hingeführt zu dem, was ich in einem meiner Mysteriendramen genannt habe Die Mitternachtsstunde des Daseins!

Während bei einem Menschen, der in der rechten Weise geistig-seelisch jetzt an das Reich der Archangeloi herankommt, eingepflanzt wird in das Geistig-Seelische innerlich die Kraft, in dem späteren Leben wiederum auf der Erde, den Leib durchdringend, zu wirken, müssen die Angeloi, wenn der Mensch solche seelisch-geistigen Erlebnisse nicht mitgebracht hat, ihm die Sehnsucht nach dem irdischen Leben einpflanzen, so, daß das mehr unbewußt wird. Und bei diesem Einpflanzen entscheidet sich außerordentlich viel. Bei diesem Einpflanzen entscheidet sich nämlich jetzt, zu welchem Volke, zu welcher Sprache, zu welcher sogenannten Muttersprache der Mensch heruntersteigt zum nächsten irdischen Dasein. Und es entscheidet sich, ob dieser Drang zum Volkstum, zu der Muttersprache mehr innerlich eingepflanzt wird oder mehr äußerlich. So daß der Mensch durchdrungen wird beim Heruntersteigen von innerlicher Liebe zu dem, was dann seine Muttersprache wird, oder mehr automatisch hineinversetzt wird in dasjenige, was er als Sprache durch seine Sprachorgane später zu äußern hat.

Das aber macht einen großen Unterschied. Der eine Mensch nimmt diese Muttersprache innerlich auf, wie einen Teil seines Wesens.

Er wird eins damit. Die Liebe wird eine selbstverständliche; sie wird eine seelische Liebe. Der Mensch wächst mit Selbstverständlichkeit in die Sprache und in das Volkstum hinein, indem er so hineinwächst. Wenn der Mensch aber auf die andere Art hineinwächst, dann kommt er später, indem er durch die Geburt zum nächsten Erdendasein heruntersteigt, so auf der Erde an, daß er gewissermaßen nur instinktiv, triebhaft seine Sprache lieben kann. Was er innerlich nicht an Liebe, an selbstverständlicher Liebe für seine Sprache, für sein Volkstum aufbringt, das stößt er dann gleichsam aus seinem Leibesdasein hervor. Und das macht den großen Unterschied, ob wir in ein Volkstum, in einen Sprachzusammenhang hineinwachsen mit jener stillen, keuschen Liebe, die derjenige Mensch hat, der innerlich mit Volkstum und Sprache verwächst, oder ob wir mehr automatisch hineinwachsen in Sprachtum und Volkstum, so daß wir aus dem Triebe, aus den Instinkten gleichsam heraus stoßen eine innerliche Liebe für dieses Volkstum, für diese Sprache. Das erstere äußert sich niemals als dasjenige, was man in der Welt Chauvinismus nennt, was man ein äußerliches Pochen auf das Volkstum nennt. Die wirklich aus einem vorherigen idealen, frommen Erleben errungene, innerlich geistig-seelische Liebe zu Volkstum und Sprache äußert sich selbstverständlich und ist mit wahrer universeller Menschenliebe durchaus vereinbar. Niemals wird der kosmopolitische, der internationale Sinn durch eine solche geistig-seelische Liebe zu Sprache und Volkstum verkümmert. Wenn aber der Mensch mehr automatisch in seine Sprache hineinwächst, wenn er dadurch mit seinen Instinkten, mit seinen Trieben eine überhitzte, organische, animalische Liebe zu Sprache und Volkstum entwickelt, dann entsteht dasjenige, was falscher Nationalismus, was chauvinistische Gesinnung ist, was in einer äußerlichen Weise auf das Volkstum pocht!