Gegenideale: Zwang, Verschiedenheit und Unterordnung

Quelle: GA 192, S. 082-084, 1. Ausgabe 1964, 11.05.1919, Stuttgart

Ich will Ihnen heute ein anderes Beispiel vorführen, an dem Sie so recht werden sehen können, wie auf der einen Seite bürgerliche Bildung dem Niedergang entgegengeht und sich nur retten wird können auf eine bestimmte Weise; wie auf der anderen Seite etwas Aufsteigendes vorhanden ist, das man nur hegen und pflegen muß in verständnisvoller und richtiger Weise, dann wird es der Ausgangspunkt für die Kultur der Zukunft sein.

So recht als ein symptomatisches, typisches Produkt des niedergehenden Bürgertums liegt mir hier ein Buch vor, das unmittelbar nach dem Weltkrieg erscheint, das sich nennt, etwas anspruchsvoll, «Der Leuchter, Weltanschauung und Lebensgestaltung». - Dieser Leuchter ist so recht geeignet, möglichst viel Finsternis ausstrahlen zu lassen mit Bezug auf alles dasjenige, was heute so notwendig ist als soziale Bildung und ihre geistigen Grundlagen. Eine merkwürdige Gesellschaft hat sich zusammengefunden, welche merkwürdige Sachen zum sogenannten Neubau unseres sozialen Organismus in einzelnen Aufsätzen schreibt. Ich kann natürlich nur einzelnes aus diesem etwas umfangreichen Buche anführen. Da ist zunächst ein Naturforscher, Jakob von Uexküll, wahrhaftig ein guter, typischer Naturforscher, der, und das ist das Bedeutsame, nicht nur Kenntnisse sich angeeignet hat in der Naturwissenschaft - da ist er ein nicht bloß beschlagener, sondern als Forscher vollkommener Mann der Gegenwart -, sondern der sich auch gezwungen fühlt, wie das ja auch andere tun, die aus naturwissenschaftlichem Boden herausgewachsen sind, nun seine Folgerungen für die soziale Weltgestaltung zum besten zu geben. Er hat am sogenannten Zellenstaat, wie man den Organismus oftmals in naturwissenschaftlichen Kreisen nennt, gelernt. Und zwar hat er gelernt, seinen Denkorganismus auszubilden, und mit diesem ausgebildeten Denkorganismus betrachtet er nun das soziale Leben. Ich will Ihnen nur Einzelheiten anführen, aus denen Sie sehen können, wie dieser Mann, und zwar, wie man sagen kann, nicht aus Naturwissenschaft, sondern aus naturwissenschaftlicher Denkungsweise im Grunde genommen ganz richtig, aber eben lebensgemäß total unsinnig die heutige soziale Gestaltung betrachtet. Er lenkt seinen Blick auf den sozialen Organismus und auf den natürlichen Organismus, und findet, daß die Harmonie in einem natürlichen Organismus zuweilen auch durch Krankheitsprozesse gestört werden kann, und sagt nun mit Bezug auf den sozialen Organismus das Folgende:

«Jede Harmonie kann durch Krankheit gestört werden. Wir nennen die furchtbarste Krankheit des menschlichen Körpers - "Krebs". Sein Merkmal ist die schrankenlose Tätigkeit des Protoplasmas, das sich nicht mehr um die Erhaltung der Werkzeuge kümmert, sondern nur noch freie Protoplasmazellen erzeugt. Diese verdrängen das Körpergefüge, können aber selbst keine Arbeit leisten, da sie des Gefüges entbehren.

Die gleiche Krankheit kennen wir im menschlichen Gemeinwesen, wenn die Parole des Volkes: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, an die Stelle der Staatsparole: Zwang, Verschiedenheit und Unterordnung tritt. »

Nun, da haben Sie einen typischen naturwissenschaftlichen Denker. Er betrachtet es als eine Krebskrankheit am Volkskörper, wenn aus dem Volke heraus die Impulse von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gesetzt werden. Er will an die Stelle von Freiheit gesetzt haben Zwang, an Stelle der Gleichheit Verschiedenheit, an Stelle der Brüderlichkeit Unterordnung. Das hat er gelernt am Zellenstaat als Betrachtungsweise in sich aufzunehmen, das überträgt er als Konsequenz auf den sozialen Organismus.