Gegenideale: Ordnung, Pflicht, Gerechtigkeit

Quelle: GA 173, S. 018-020, 1. Ausgabe 1966, 04.12.1916, Dornach

Die große Sünde unserer Kultur besteht heute darin, in inhaltslosen Sätzen zu leben, ohne sich klarzumachen, wie inhaltslos diese Sätze sind. - Mehr als zu irgendeiner Zeit erleben wir heute: «Mit Worten läßt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten.»

Aber wir erleben noch mehr; wir erleben, daß mit Worten, die inhaltslos sind, Geschichte, Politik gemacht wird, und das ist das Betrübliche, daß so wenig Neigung besteht, gerade dieses einzusehen. Nur selten trifft man auf eine wirkliche Empfindung für das, um was es sich auf diesem Gebiet eigentlich handelt. Ich konnte in diesen Tagen auf Sätze stoßen, die ein Empfinden für das große Manko unserer Zeit enthalten:

«Aber mit Staunen hören wir nun von den Propheten der neuen Zeit, daß die alten Worte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nur «Händler-Ideale» waren und durch neue ersetzt werden sollen. - So neulich von Professor Kjellén.... » ich bemerke ausdrücklich, weil das schon in der Gegenwart so notwendig ist: der Professor ist kein Deutscher, sondern ein Schwede, also ein Neutraler; «der in seiner Schrift über «die Ideen von 1914» den alten Worten von 1789 die neuen von 1914 entgegenhält. Er nennt sie Ordnung, Pflicht, Gerechtigkeit! Genau besehen sind diese angeblich neuen Worte allerdings auch recht alte, abgebrauchte Worte. Was sich in dieser Gegenüberstellung offenbart, ist der uralte Kampf, der das menschliche Geistesleben charakterisiert, der Kampf zwischen einer inneren Welt freier persönlicher Betätigung und der äußeren Welt des starren Gesetzes, der Zwangsmaßregeln. Schon zur Zeit Christi hat die Gerechtigkeit als Gesetzeserfüllung ihr Gegenwort in der Barmherzigkeit gefunden, so wie die Pflicht in der Liebe, wie die gesetzliche Ordnung in der freiwilligen Nachfolge. -

Allerdings denkt auch Professor Kjellén nicht an eine unbedingte Abschaffung der mit dem Absterben des «Ancien regime» überflüssig gewordenen Worte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern an eine Synthese zwischen ihnen und den neuen Worten von 1914: Ordnung, Pflicht und Gerechtigkeit. Auch diese Synthese wäre aber nichts Neues; denn sie hat doch wohl in dem England des 18. und 19.Jahrhunderts schon so weit eine Verwirklichung erfahren, als es die Unvollkommenheit aller menschlichen Einrichtungen zuläßt.

Daß in der Gegenwart diese Synthese nicht mehr wirksam ist, beweist nur, daß alle Werte und Gegenwerte mitsamt ihrer zeitweiligen Synthese zur Phrase werden, sobald der göttliche Funke erlischt, der sie wahr und lebendig macht. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bedeuten eine der Formeln, die durch das soziale Gewissen ihre wirkende Kraft erhalten - Ordnung, Pflicht und Gerechtigkeit hingegen setzen, um wirksam zu sein, die suggestive Macht einer Autorität voraus. Und da erst, nicht in der Herrschaft einer bestimmten Formel, offenbart sich der Mangel, der das Schicksal der modernen Menschheit im Tiefsten entscheidet: für die Herrschaft der befreienden Werte fehlt bei der Mehrzahl die Kraft des sozialen Gewissens, für die Herrschaft der von außen bindenden Werte - die Autorität. Werte, die nicht tief in der Entwicklung verankert sind, können sehr rasch zur Phrase werden und dem Mißbrauch verfallen ... » und so weiter.

Man trifft manchmal das Anschlagen einer so richtigen Empfindung. Ich brauche nicht besonders überrascht zu sein von diesen Worten, die mir wie eine Oase in der Wüste des gegenwärtigen Phrasenlebens entgegentreten. Sie sind eben niedergeschrieben von einer alten Freundin von mir, Rosa Mayreder, finden sich in der «Internationalen Rundschau» im Novemberheft 1916 und weisen hin auf vieles, was ich mit dieser Persönlichkeit vor vielen Jahren gesprochen habe. Ich brauche daher nicht besonders überrascht zu sein, daß mir dieses entgegentritt; aber in einer gewissen Beziehung war ich erfreut zu hören, wie eine solche Persönlichkeit weiterdenkt. Wenn sie sich auch nicht zu einer geisteswissenschaftlichen Auffassung der Welt aufschwingen kann und bei der unfruchtbaren Kritik stehenbleibt, so muß sie doch sagen:

«Alle Probleme der äußeren Weltgestaltung lassen sich auf eines zurückführen - auf das Machtproblem.»

Würde man dies nur beachten, so würde man heute viel weniger in Phrasen leben, als man es tut!