Gesundes Rechtsbewußtsein als unerwünschte Folge der Volksbildung

Quelle: GA 330, S. 142-143, 2. Ausgabe 1983, 03.05.1919, Stuttgart

Gegenüber dem Staats- oder politischen oder Rechtsleben empfand sie [die aufwärts strebende Masse] gerade in ihrem Aufsteigen mehr und mehr, daß es etwas gibt für die Menschennatur, welches für alle Menschen ein Gleiches ist. Dieses Gleiche kann man nicht in irgendeiner Theorie entwickeln, es ist einfach vorhanden in den Erlebnissen jeder gesunden Seele. Wie man zu einem Menschen mit blinden Augen nicht sprechen kann über eine blaue oder rote Farbe, so kann man nicht sprechen mit einer nicht gesund entwickelten Seele über dasjenige, was in jeder gesunden Seele lebt als das Rechtsbewußtsein, jenes Rechtsbewußtsein, welches den Menschen auf dem zweiten Gebiete des sozialen Lebens, dem Staatsleben, gegenüber allen anderen Menschen gleich macht. Dieses Gefühl aber, das in alten patriarchalischen Zuständen, auch noch in den Zuständen des Mittelalters, in den breiten Massen noch zurückgedrängt war, dieses Gefühl von dem gleichen Rechte, es kam in den letzten Jahrhunderten und insbesondere in der proletarischen Entwickelung des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts immer intensiver herauf. Die leitenden, führenden Klassen konnten nicht anders, als die breite Masse zur Demokratie aufzurufen. Das brauchten sie für ihre Interessen. Sie brauchten ein immer mehr und mehr schulmäßig gebildetes Proletariat. Aber man kann nicht eines in der Seele ausbilden, ohne daß sich das andere mit ausbildet. Indem die herrschenden, führenden Klassen die Proletarier zu gelernten Arbeitern für die komplizierten Verrichtungen in ihren Fabriken und für anderes gemacht haben, mußten sie, weil das eine ohne das andere nicht möglich ist, weil sich das andere von selbst entwickelt, zugleich zulassen, daß in dem Proletariat jenes Rechtsbewußtsein heraufkam, das jeder zu sich selbst gekommenen Menschenseele eigen ist. Dieses Rechtsbewußtsein entwickelte sich aber bei dem Proletarier ganz anders als in den bisher leitenden, führenden Kreisen der Menschheit. In den bisher führenden, leitenden Kreisen der Menschheit entwickelten sich die Gefühle von Recht an den Interessenkreisen, in die diese Klassen seit langem hineingeboren waren. Der Proletarier war, indem er an die Maschine gestellt war, indem er eingespannt wurde in den seelenverödenden Kapitalismus, mit solchen Interessen nicht ausgerüstet. Jene Beziehungen, die überall bestanden zwischen dem, was die führenden Klassen im sozialen Leben vorstellten, und dem, was sie als ihr Menschliches empfanden, jene Interessenzusammenhänge gab es nicht für den Proletarier. Ich meine es wirklich nicht humoristisch, wenn ich sage: Für den Angehörigen der führenden Klassen mag aus dem sozialen Zusammenhang, in den er hineingestellt war, etwas hervorgegangen sein von einem innerlichen Menschheitsbewußtsein, das ihm ein gewisses Rechtsbewußtsein gab, wenn er, nun sagen wir, auf seine Visitenkarte schreiben konnte «Fabrikbesitzer» und dergleichen, oder auch «Reserveleutnant». Aber für den Proletarier gab es einen solchen Interessenzusammenhang nicht zwischen der seelenverödenden Maschine und seinem Menschlichen, und nicht zwischen dem Eingespanntsein in den Kapitalismus und wiederum seinem Menschlichen. Der Proletarier war auf sein bloßes Menschenrecht gestellt, und indem er hinsah auf die anderen, erblickte er statt allgemeiner Menschenrechte Klassenvorteile, Klassenvorrechte und Klassenbenachteiligung.