Staat als Grundlage der Struktur der sozialen Verhältnisse

Quelle: GA 182, S. 030-034, 3. Ausgabe 1986, 29.11.1917, Bern

Sie werden schon etwas gehört haben über den sokratischen Dämon, über den Dämon des Sokrates: wie Sokrates, der weise Grieche, davon gesprochen hat, daß alles, was er tut, unter der Einwirkung eines Dämons steht. Ich habe über diesen sokratischen Dämon in meiner kleinen Schrift «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit» gesprochen. In meiner neuen Schrift «Von Seelenrätseln», wo das zweite Kapitel über das gelehrte Individuum Dessoir handelt, kann man sehen, wie Dessoir auch solche Dinge behandelt; ich habe auf dieses Dämonium des Sokrates hingewiesen. Es ist Sokrates nur zum Bewußtsein gekommen, was bei allen Menschen gewirkt hat. Bis zum Mysterium von Golgatha waren es gewisse Wesenheiten, die richtunggebend waren für dasjenige, was die Toten ins Menschenleben hereinwirkten. Diese Wesenheiten haben ihre Kraft verloren in der Zeit des Mysteriums von Golgatha, und an ihre Stelle ist der Christus-Impuls getreten. Und jetzt haben Sie den Christus-Impuls mit dem Schicksalsmäßigen des Menschen geisteswissenschaftlich verbunden. In unsere Willens- und in unsere Gefühlssphäre wirken so, wie ich es geschildert habe, die Kräfte, die Impulse der Toten herein. Die Toten wirken; aber sie erleben auch Willensstärkungen und Willensschwächungen. Und dieses ganze Reich ist ein Erdenreich, es ist ebenso wie das natürliche Reich ein Erdenreich. Aber derjenige Impuls, der seit dem Mysterium von Golgatha lebt, der ist seit dem Mysterium von Golgatha der Christus-Impuls. Christus ist die dirigierende Macht in diesem Reiche, das ich Ihnen geschildert habe. Man wird also nicht nur eine Wissenschaft von dem Mysterium von Golgatha begründen, sondern man wird in der Zukunft wissen müssen: unsere Welt durchdringt, ebenso wie die Welt der natürlichen Tatsachen, ein Reich des Schicksalsmäßigen als der andere Pol. Dieses Reich des Schicksalsmäßigen wird heute noch wenig beachtet. Man wird es ebenso beachten müssen wie das Reich des Natürlichen. Aber man wird dann zu gleicher Zeit wissen, daß man in diesem Reich des Schicksalsgemäßen mit den Toten in Verbindung ist, man wird wissen, daß in diesem Reiche, das wir mit den Toten gemeinsam haben, zugleich das Reich Christi enthalten ist, daß Christus durch das Mysterium von Golgatha auf die Erde heruntergestiegen ist zu seiner Wirksamkeit, um mit uns Menschen auf Erden das wiederum gemeinsam zu haben, das wir mit den Toten, insofern die Toten im Erdenbereich wirken - ich meine jetzt nicht den Ausnahmefall, sondern den Normalfall -, gemeinsam haben.

Wenn dies nicht bloß eine abstrakte Wahrheit, nicht bloß eine Begriffswahrheit sein wird, so eine Sonntagswahrheit, an die man sich öfter einmal erinnert, weil einem einfällt, daß eben so etwas wahr ist, sondern wenn der Mensch in diesem Reich des Schicksals so bewußt wandeln wird, wie er im Reich der Sinneswahrnehmungen bewußt wandelt, wenn er gewissermaßen so, wie er durch die Welt geht und es mit seinen Augen macht, auch in dieses Reich des Schicksals sich einverwoben fühlt, und in diesem Reich des Schicksals die Kräfte des Christus mit den Kräften der Toten immer zusammen fühlt, dann, meine lieben Freunde, wird die Menschheit sich ein wirkliches, ein konkretes, ein empfindungsgemäßes Leben mit den Toten schon entwickeln. Man wird, wenn man selber dies oder jenes fühlt, wenn man selber dies oder jenes bewirkt, erleben, wie man mit den lieben Dahingegangenen darinnen zusammen ist. Das Leben wird unendlich bereichert werden.

Jetzt vergessen wir vielleicht in dem Sinne, wie wir das so nennen, unsere Toten nicht; wir halten ihr Andenken. Aber ein intensives Leben - und das wird erst das wahre Leben sein, weil eben sonst das Leben verschlafen wird, insofern es schicksalsmäßig ist -, ein intensives Leben wird die Menschheit ergreifen, und das wird schon dazu führen, daß man nicht nur das Andenken der Toten halten wird, sondern daß man wissen wird: Wenn du das tust, wenn du diesen Gang tust, wenn du das unternimmst, wenn dir das gelingt: es wirkt dieser oder jener Tote mit. - Es werden die Bande mit den Toten nicht aufgelöst, sie verbleiben. Diese Bereicherung des Lebens steht der Menschheit in Aussicht für die Erdenzukunft. Und wenn wir jetzt den fünften nachatlantischen Zeitraum haben, so wirkt dieser fünfte nachatlantische Zeitraum im wesentlichen zu der Erziehung der Menschheit nach der eben angekündigten Richtung hin, und den sechsten nachatlantischen Zeitraum wird die Menschheit gar nicht überleben können, wenn sie sich nicht anschickt, diese Dinge in der richtigen Weise zu fühlen: die Wirklichkeit des Schicksalsmäßigen aufzunehmen in das Bewußtsein, wie jetzt die Menschheit nur die Wirklichkeit des Naturgemäßen aufnimmt.

Den Zusammenhang des Mysteriums von Golgatha mit dem Todesproblem konkret einzusehen, das ist es, worauf ich heute hinweisen wollte. Das ist auch etwas, was innig zusammenhängt mit dem, was jetzt der Menschheit zum Bewußtsein kommen muß. Denn unter dem Mancherlei, das der Menschheit fehlt, ist gerade das, daß die Menschen verloren haben die Möglichkeit, in ihren Gefühls- und Willensimpulsen noch die wahren Realitäten zu erleben. In die großen Illusionen wiegen sich die Menschen allmählich ein: daß sie das Erdenleben nach irdischen Gesetzen formen können, die größte Illusion, der sich die Menschen hingeben können. Eine große Illusion, die ihr Extrem, ihr radikales Extrem findet zum Beispiel in dem reinen materialistischen Sozialismus, der natürlich niemals zulassen wird, daß, wenn wir Menschen das geringste untereinander machen, die Toten mitwirken, sondern der alles nach ökonomischen, das heißt, nach rein physischen Gesetzen ordnet. Das ist das eine Extrem. Auf der anderen Seite das Extrem, von dem jetzt alle möglichen sogenannten Idealisten träumen: Über die ganze Welt hin, von allem Spirituellen absehend, rein programmatische, inner- und zwischenstaatliche Organisationen zu schaffen, durch welche vermeintlich die Kriege abgeschafft werden sollen. Die Menschen werden sich davon überzeugen, wenn sie in eine solche Illusion sich einleben, daß sie gerade damit dasjenige, was sie abschaffen wollen, nicht abschaffen, sondern vielmehr heraufbeschwören, was sie abschaffen wollen. Es ist ein guter Wille in diesen Dingen. Es ist dasjenige, was aus dem materialistischen Zeitbewußtsein, ich möchte sagen, als eine politische Spitze des ganzen Erdenwesens hervorgehen muß, was aber genau zu dem Gegenteil von dem führen wird, was man damit eigentlich bezwecken will. Dasjenige, um was es sich handelt, das ist, daß über die Erde sich verbreiten muß das Verständnis des Schicksalsgemäßen, daß dieses Verständnis des Schicksalsgemäßen auch die Gesetzgebungen, die politischen Organisationen ergreifen muß, denn die bilden ja die Grundlage für die Struktur der sozialen Verhältnisse.

Dasjenige, was nicht mitgehen will mit dieser geistigen Entwickelung der Menschheit, das wird einfach in Auflösung hineingehen, das wird nur abbauen, nur abtragen. Deshalb hängt es innig zusammen mit dem, was die Zeichen der Zeit heute bedeuten. Wir brauchen hier nicht irgendwelche, um es grob zu sagen, politischen Dinge zu treiben; das werden wir natürlich nicht. Aber die Zeitforderungen, die müssen gerade von denjenigen gesehen werden, welche ihren Blick richten wollen auf die geistige Entwickelung der Menschheit. Und verstanden muß werden: Auf dem Wege, auf dem heute fast überall gewandelt wird, ist der Christus nur zu verlieren; gewonnen werden kann er als einzig wirklich berechtigter König und Herr der Erde nur durch die Erhebung der Menschheit zur Spiritualität. Dessen können Sie sicher sein: Wenn der Christus nicht so gesucht wird, wie ihn die einzelnen Konfessionen heute suchen - die sich ja nun wirklich in der letzten Zeit in merkwürdiger Art überall in alle, möglichen Kompromisse über eine Christus-Auffassung hineingefunden haben, die den Christus auch als Schlachtengott zu feiern wissen da und dort -, sondern wenn der Christus gesucht wird da, wo er in seiner Realität zu finden ist, indem die Menschen das Reich des Schicksalsgemäßen als eine Wirklichkeit verstehen werden, den Christus so finden werden, wie wir es heute angedeutet haben, dann wird jene zwischenstaatliche Organisation geschaffen werden, die da bedeutet die Ausbreitung des wirklichen Christentums über das Erdenrund.

Daß man diesem Ziele nicht sehr nahe ist, das können Sie ja ersehen, wenn Sie eine kleine Reflexion anstellen. Denken Sie einmal, Sie würden all den Leuten, die jetzt davon sprechen, wie sie den Frieden über die Welt herstellen wollen, die alle diese Programme vorbringen - wer redet nicht davon! -, Sie würden diesen Leuten entgegenstellen das Programm, den Christus der Menschheit zugänglich zu machen; dann würde Friede, dauernder Friede kommen, soweit er auf der Erde überhaupt möglich ist. Stellen Sie sich vor, was die verschiedenen Vereinigungen, die von dem ganz «guten Willen» ausgehen, sagen würden, wenn man ihnen dieses vorlegen würde! Wir haben es sogar erlebt, daß von dem Stellvertreter Christi auf Erden ein Friedensprogramm ausgegangen ist. Aber sehr viel werden Sie da vom Christus nicht drinnen gelesen haben!

Diese Dinge, ich weiß es, man nimmt sie gar nicht einmal ernst genug in der Gegenwart. Aber wenn sie nicht ernst genommen werden, wird die Menschheit auch keinen heilsamen Weg einschlagen können. Geradeso wie es eine Notwendigkeit ist, daß das Mysterium von Golgatha auf spirituelle Art begriffen wird, so ist es eine Notwendigkeit, daß die Menschen die Zeichen der Zeit so verstehen, daß sie in Geisteswissenschaft wirklich etwas sehen, ohne welches auch die äußere soziale Gestaltung der Zukunft nicht mehr auskommen kann.