Bedürfnisse nicht durch Statistik sondern durch Assoziation zu ermitteln

Quelle: GA 332a, S. 102-104, 2. Ausgabe 1977, 26.10.1919, Zürich

Auf die Frage: Wie kann man richtig die Bedürfnisse eines Menschen feststellen oder die richtige Wertschätzung eines von ihm erzeugten Gegenstandes bemessen, wo doch die Warenbedürfnisse des Menschen so verschieden sind?

Gerade weil sie verschieden sind, müssen reale Einrichtungen geschaffen werden, welche darinnen bestehen, daß Menschen da sind, welche diese Bedürfnisse studieren, diese Bedürfnisse kennenlernen. Solche Dinge hängen nicht in der Luft, solche Dinge können durchaus auf einen realen Boden gestellt werden. Ein kleines Beispiel könnte ich Ihnen ja anführen. Es gibt eine Gesellschaft, sie steht sogar unterschrieben auf den Plakaten: die Anthroposophische Gesellschaft. Sie hat sich neben dem, was ihr manche Menschen zuschreiben, auch mit recht praktischen Angelegenheiten schon beschäftigt, die durchaus in der Linie liegen, wenn auch im kleinen, von dem, was ich hier über die soziale Frage auseinandergesetzt habe. So fand sich innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft ein Mann, der Brot erzeugen konnte. Weil man gerade zur Verfügung hatte eine Korporation von Menschen, die ja natürlich auch Brotkonsumenten sind, eine Korporation von Anthroposophen, konnte man gewissermaßen eine Assoziation herbeiführen zwischen dem Mann als Broterzeuger und diesen Konsumenten; das heißt, er konnte sich in seiner Produktion nach den Bedürfnissen des Konsums richten, so, daß man die Bedürfnisse kennt und nach den vorhandenen Bedürfnissen die Produktion durchaus einrichten kann. Das wird nicht der Markt tun, der das Ganze anarchisch zufällig gestaltet, sondern das kann nur geschehen, wenn Einrichtungen da sind, durch die Menschen, die die Bedürfnisse wirklich studieren, nach den Bedürfnissen die Produktion lenken, sie mit den Assoziationen regeln.

Diese Feststellung der Bedürfnisse möchten sozialistische Denker heute nach der Statistik machen. Das kann nicht nach der Statistik gemacht werden. Das lebendige Leben läßt sich nie nach der Statistik formen, sondern allein nach dem unmittelbaren Beobachtungssinn der Menschen. Es müssen also innerhalb des Wirtschaftsorganismus die Menschen durch die sozialen Zustände in gewisse Ämter oder dergleichen gebracht werden, die da sind zur Verteilung der Bedürfniserkenntnisse an die Produktion. Gerade weil die Bedürfnisse verschieden sind, handelt es sich darum, nicht etwa eine Tyrannisierung der Bedürfnisse hervorzurufen, die ganz gewiß entstehen würde auf Grundlage des heutigen sozialdemokratischen Programms, sondern es handelt sich darum, aus den lebendigen Bedürfnissen zu erkennen, wie diese Bedürfnisse befriedigt werden sollen.

Daß selbstverständlich gewisse Bedürfnisse dann nicht befriedigt werden können, das wird auch die Praxis als solche ergeben. Aus einem Dogma heraus, weil irgend jemand meint, dies oder das sei kein richtiges menschliches Bedürfnis, darf darüber nicht entschieden werden. Aber wenn eine Anzahl von Menschen Bedürfnisse haben, die nach Gütern rufen, zu deren Herstellung Menschen ausgenützt werden müßten - das wird sich gerade im lebendigen Wirtschaftsleben ergeben, das auf seine eigenen Füße gestellt ist -, wird man diese Güter nicht herstellen können, für die einzelne Bedürfnisse haben. Es wird sich gerade darum handeln, zu erfassen, ob die Bedürfnisse ohne Vernachlässigung, ohne Schaden für die menschlichen Kräfte wirklich berücksichtigt werden können.