Freiheit durch Erziehung statt durch Geburt

Quelle: GA 330, S. 260-265, 2. Ausgabe 1983, 16.06.1919, Stuttgart

Ich habe geglaubt, daß im Beginne der neunziger Jahre die Welt schon aus den damaligen Ereignissen heraus den Antrieb verstehen würde zum Hinweis auf Tiefen der Menschennatur, aus denen ein neues, befreites Geistesleben sich allmählich entwickeln kann. Und ich habe versucht, diesem Glauben Ausdruck zu geben in meiner zum erstenmal im Jahre 1894 erschienenen « Philosophie der Freiheit ». Diese « Philosophie der Freiheit », ich habe sie nicht wieder erscheinen lassen, trotzdem sie längst vergriffen war, weil ich sehen konnte, daß für die Gedanken, die in dieser « Philosophie der Freiheit » stehen, zunächst innerhalb derjenigen Jahrzehnte, die der Weltkriegskatastrophe vorangegangen sind, kein Entgegenkommen war. Insbesondere war kein Entgegenkommen in Mitteleuropa, wo man immerzu davon sprach: Wir brauchen Sonne -, aber wo man in dieses Wort nicht einbeziehen wollte die Sehnsucht nach einer geistigen Sonne. Und erst als der Glaube entstehen konnte, daß aus den Lehren der furchtbaren Weltkriegskatastrophe heraus die Menschen wiederum Verständnis gewinnen können für Freiheit des Geistes, da drängte es mich, die Neuausgabe meiner « Philosophie der Freiheit », die jetzt vorliegt, zu besorgen. Denn in dem, was sich aussprach, immer wieder und wiederum aussprach aus unterbewußten, nicht aus bewußten Untergründen der Menschennatur in der neueren Zeit, was sich besonders ausspricht in den Dingen, die das moderne Proletariat nun empfindet, obwohl noch nicht bewußt ausdrücken kann, weil man ihm dazu die Bildung vorenthalten hat, in dem liegt ein dreifaches. Es liegt darin das dunkle Gefühl: Die äußeren Einrichtungen des Rechts- und Wirtschaftslebens haben eine Gestalt angenommen, in die ich als Mensch so hineingeklemmt bin, daß ich bloß gehemmt bin, und daß es im Grunde genommen keinen Sinn hat, von einem freien Willen zu sprechen auf dem modernen Konkurrenzmarkt, wo jeder entweder kapitalistisch oder lohnhaft erwerben muß, wo erstorben ist aller Zusammenhang dessen, was der Mensch tun muß, das heißt dessen, was er arbeitet, mit dem, was dann Produkt ist. Da lebt nicht das Gefühl: Ich stehe mit der Welt so im Zusammenhang, daß mein Wille frei ist. Hemmung des Willens, das gerade empfand man. Und dann, wenn man sein Verhältnis zu anderen Menschen anschaute: Bis zu einem Höhepunkt scheint gekommen zu sein unter dem modernen kapitalistischen Konkurrenzkampf, unter der Zwangsarbeit der neueren Zeit im Lohn Verhältnis, bis zu einem Höhepunkt scheint gekommen zu sein, War man nennen kann Schwinden des Vertrauens von Mensch zu Mensch. An die Stelle der früher in alter, aber immerhin in alter Form vorhandenen sozialen Triebe sind im eminentesten Sinne antisoziale Triebe getreten, die sich zuletzt zusammengefügt haben in dem Sich Nichtverstehen der modernen Klassen der Menschheit, die zuletzt aufgerichtet haben jenen Abgrund zwischen Proletariat und Nichtproletariat, der in der neueren Zeit so schwer zu überbrücken ist. Das hat hervorgerufen die zweite Erlebnisart des inneren Menschen in der neueren Zeit, die Beklemmung in bezug auf das Rechtsgefühl. Und dazu trat ein drittes, das, was ich schon im Anfang meiner heutigen Auseinandersetzung angedeutet habe: Man sah die Leute ihre wirtschaftlichen Güter austauschen, man sah sie einschreiben dasjenige, was im Austausch dieser wirtschaftlichen Güter lebte auf die linke und rechte Seite der Bücher. Aber man sah, wie selbst Herr von Moellendorff zugeben muß, man sah keine Gedanken in diesen Einrichtungen des Wirtschaftslebens. Drittes Erlebnis der Seele: Es wurde einem gleichsam schwarz vor dem Gedanken, nenn man hineinblickte in jenes Durcheinanderwirbeln der modernen Märkte, in denen das Reale für die Menschen eigentlich nur das war, was auf kapitalistische Art erworben wurde. Das sind in der neueren Zeit die drei Erlebnisse gewesen: Hemmung des freien Willens, weil nichts da war, worin man den freien Willen entfalten konnte; vollständige Beklemmung des Rechtsgefühls und Verdunklung der Gedanken gegenüber den äußeren Einrichtungen des Rechts- und Wirtschaftslebens.

Das war jene Empfindung, aus welcher hervorgegangen ist der Antrieb - er mag ja schwach und ungelenk gewesen sein, mag noch heute schwach und ungelenk sein, das gebe ich gerne zu -, aus der hervorgegangen ist der Antrieb, das Wesen des freien Menschen zu suchen, des Menschen, der sich so in die Menschheitsordnung hineingestellt fühlt, daß er sich sagen kann: Ich führe ein menschenwürdiges Dasein - der Antrieb, das Wesen dieses freien Menschen, das Wesen des freien Geistesmenschen in dem Sinne, daß alle Menschen solche freien Geistesmenschen sein können, innerhalb der Einrichtungen des modernen Rechts- und Wirtschaftslebens, zu suchen. Da ergab sich vor allen Dingen eines. Die Menschen fragen so leicht und haben seit Jahrhunderten immer wieder gefragt, und die Philosophen haben darüber spekuliert und unzählige Meinungen sind aufgestellt worden darüber: Ist der Mensch frei seinem Willen nach, oder ist er nicht frei? Ist er ein bloßes Naturwesen, das nur aus den mechanischen Antrieben seines Inneren heraus handeln kann? Die Frage wurde immer falsch angepackt, weil immer mehr und mehr im Okzident das Gefühl für die eigentliche Wirklichkeit des Geisteslebens schwand. Für den Orient hat die Frage nach Freiheit oder Unfreiheit fast gar keine Bedeutung, sie spielt gar keine Rolle dort. Im Abendlande wurde sie zur Grundfrage des Weltanschauungs- und schließlich sogar des politischen Lebens, ja des Strafrechts und so weiter. Und man kam auf eines nicht - Sie können dasjenige, was zu diesem Gedankengang, was zu dieser Erkenntnis im einzelnen führt, in meinem Buche « Die Philosophie der Freiheit » umfassend nachlesen -, man kam auf das eine nicht, daß die Frage: Ist der Mensch frei oder ist er nicht frei? eigentlich gar keinen Sinn hat, daß sie anders gestellt werden muß, daß sie so gestellt werden muß: Ist der Mensch von seiner Geburt an durch eine seinem Wesen angemessene Erziehung erziehungsgemäß und schulgemäß so zu entwickeln, daß in seinem Innern, trotz äußerlicher Rechts- und Wirtschaftseinrichtungen etwas als Erlebnis aufsteigen kann, das ihn zum freien Wesen macht? Ja, das ihn nicht nur innerlich zum freien Wesen macht, sondern das in ihm die Kraft der Freiheit zu einer solchen Stärke ausgestaltet, daß er dann auch das äußere Rechts- und das äußere Wirtschaftsleben in seinem Sinne einrichten kann? Das entstand ja als Grundantrieb in der modernen sich entwickelnden Menschheit, auf der einen Seite der demokratische Trieb nach gleichem Recht für alle, auf der andern Seite der soziale Trieb: Ich helfe dir, wie du mir helfen sollst. Man fühlte aber: Solch eine soziale Ordnung mit « gleiches Recht für alle » und mit « hilf mir, wie ich dir helfen will und muß », solch eine soziale Ordnung läßt sich nur einrichten von Menschen, die als freie Menschen, als freie Geistesmenschen eine wahre Beziehung zur ganzen Wirklichkeit entwickeln.

Verständnis muß man erst dafür haben, daß der Mensch weder zur Freiheit noch zur Unfreiheit geboren ist, daß er aber erzogen und entwickelt werden kann zur Freiheit, zum Verständnis der Freiheit, zu dem Erleben der Freiheit, wenn man dasjenige Geistesleben an ihn heranbringt, das ihn durchdringt mit Kräften, die ihn erst freimachen in seiner Entwickelung als Mensch; daß man sich hinaufentwickeln kann bis zu dem Punkte, wo unsere Gedanken nicht mehr die abstrakten, unwirklichen, ideologischen sind, sondern diejenigen Gedanken, die vom Willen ergriffen werden. Das versuchte ich, in meiner « Philosophie der Freiheit » vor die Welt als eine Erkenntnis hinzustellen: Die Ehe des Willens mit den innerlich frei gewordenen Gedanken. Und aus dieser Ehe des Willens mit den innerlich frei gewordenen Gedanken ist zu erhoffen, daß der Mensch hervorgeht, der auch die Fähigkeiten entwickelt, im Zusammenleben mit den andern, das heißt in sozialer Gemeinschaft, ein jeder für sich und ein jeder sozial mit jedem andern, solche Rechts- und solche wirtschaftlichen Ordnungen hervorzubringen, die man hinnimmt in ihrer Notwendigkeit, wie man die Notwendigkeit hinnimmt, daß man den physischen Leib an sich tragen muß, seinen Gesetzen gehorchen muß und nicht frei ist, sich einmal die rechte Hand nah links und umgekehrt wachsen zu lassen, oder den Kopf in die Mitte der Brust. Gegen das, was von Natur aus schon vernünftig ist, kämpfen wir nicht aus der Freiheit an. Gegen dasjenige, was an den menschlichen Rechts- und Wirtschaftseinrichtungen widermenschlich und widernatürlich ist, kämpfen wir mit unserer Freiheit an, wenn wir zu entsprechendem Bewußtsein gekommen sind, weil wir wissen, es ist anders zu machen. Und wir wissen und wollen wissen als moderne Menschen, daß jeder Mensch demokratisch mitarbeiten soll an dieser Umgestaltung der äußeren Wirtschafts- und Rechtsordnung zu einer solchen Vernünftigkeit, die unsere Freiheit nicht beeinträchtigt, ebensowenig wie die natürliche Gesetzmäßigkeit unseres physischen Leibes. Um das zu verstehen, muß man aber Herz und Sinn haben für die Wirklichkeit des Geisteslebens, denn dasjenige Geistesleben, das ein Anhängsel ist des Staats- und Wirtschaftslebens, dasjenige Geistesleben, das man nur erwirbt, wenn man der Sohn reicher Leute ist oder staatliche Stipendien gekriegt hat, oder aus dem Grunde, damit man ein staatliches Unterkommen sich erwirbt -, dieses Geistesleben macht nicht frei. Das auf sich selbst gestellte Geistesleben, das Geistesleben, das aus seiner eigenen Kraft heraus arbeitet, das macht frei, und das erzeugt gegenüber jenen Stimmungen, jenen drei Stimmungen: Hemmung des Willens, Beklemmung des Rechtsgefühls, Verdunkelung der Gedanken, die bei unfreiem Willen vorhanden sind, die andere Stimmung: die freie Willensausbildung im Geistesleben.

Wird das eintreten, was ich hier in einer Reihe von Vorträgen geschildert habe als das freie Geistesleben, das Geistesleben mit Selbstverwaltung des Pädagogisch-Didaktischen im dreigegliederten sozialen Organismus, dann wird der Mensch nicht mehr seinen Willen gehemmt fühlen, sondern er wird umgeben sein von einer Atmosphäre, die erzeugt wird aus diesem freien Geistesleben, so daß er sich sagt, dieses freie Geistesleben nimmt auch meinen Willen als einen freien auf. Und aus dem Verständnis des selbstverwalteten Geisteslebens wird hervorgehen, was die neuen sozialen Triebe sind, die bestehen in dem gegenseitigen, wahren, sachlichen Tolerieren und Verstehen eines Menschen durch den andern auf dem Gebiete des zweiten Gliedes des sozialen Organismus, des Rechtsstaates, wo jeder Mensch jedem anderen Menschen, sofern sie mündige Menschen sind, als gleicher gegenübersteht. Und als drittes wird hervorgehen, das werden wir übermorgen noch genauer sehen, eine solche Struktur des Wirtschaftslebens, daß diejenigen, die in diesem Wirtschaftsleben arbeiten, vom höchsten Geistesarbeiter bis zum letzten Handarbeiter, als selbständige, freie menschliche Individualitäten sozial mitwirken, so daß an die Stelle der Zeit, wo es den Menschen schwarz wurde vor den Augen bei den Gedanken an das Wirtschaftsleben, die Zeit treten wird, wo das vernünftige Handeln der Betriebsräte, der Verkehrsräte, der Wirtschaftsräte die Wirtschaft regeln wird, wo der Mensch nicht mehr dem Zufall von Angebot und Nachfrage und der Krisenhaftigkeit von Angebot und Nachfrage, der Kapitalwirtschaft, übergeben sein wird, sondern wo der einzelne Mensch wirtschaftend neben dem anderen Menschen im Leben drinnen stehen wird; wo gerechte Preis- und Arbeitsverteilung aus der Vernunft hervorgehen wird, so daß wir uns in das, was einmal notwendig ist im Wirtschaftsleben, als freie Menschen hineinstellen können. Und wie wir uns in den Leib hineinstellen in seiner naturgemäßen Notwendigkeit, so wird der Mensch sich seine Freiheit erringen im modernen demokratischen Sozialismus, in der modernen sozialen Demokratie.