Jurisprudenz verwirrt Realität, besonders im Zivilrecht

Quelle: GA 174, S. 281, 1. Ausgabe 1966, 30.01.1917, Dornach

Die Jurisprudenz arbeitet sich immer mehr und mehr hinaus zu bloßen Begriffsschablonen, die ganz und gar ungeeignet sind, das Leben zu beherrschen. Sie beherrschen trotzdem das Leben, weil das Leben auf dem physischen Plane Maja ist - wäre es nicht Maja, so könnten sie es nicht beherrschen -, aber indem sie angewendet werden, bringen sie die Welt immer mehr und mehr durcheinander. Es ist eigentlich die Anwendung der gegenwärtigen Jurisprudenz, namentlich im Zivilrecht, ein bloßes Durcheinanderbringen der Verhältnisse. Man sieht das nur nicht klar. Wie sollte man es auch sehen? Man verfolgt ja nicht dasjenige, was entsteht aus der Anwendung der juristischen Schablonenbegriffe auf die Wirklichkeit, sondern man studiert Jurisprudenz, das heißt, man wird Advokat oder Richter, man nimmt die Begriffe auf und wendet sie an. Was aus der Anwendung wird, das kümmert einen nicht weiter. Oder aber man sieht, wie das Leben ist, trotzdem es eine Jurisprudenz gibt, die sehr schwer zu lernen ist, nicht nur aus dem Grunde schwer zu lernen ist, weil gerade die Juristen gewöhnlich die ersten Semester verbummeln, sondern auch aus andern Gründen schwer zu lernen ist. Man sieht dieses Leben, und sieht, daß es verworren wird und schimpft höchstens.