Erkenntnis, Gesetz und Vertrag

Quelle: GA 337a, S. 202-207, 1. Ausgabe 1999, 16.06.1920, Stuttgart

Die Menschen fühlen, sie müssen sich an etwas Geistigem halten und das Geistige muß auch da sein, um ins soziale Leben einzugreifen, um die soziale Struktur des ja vom Menschen belebten sozialen Organismus zu bilden. Was hat denn im Grunde genommen bis in unsere Tage herein die Struktur unseres sozialen Organismus gemacht? Der Geist? Nein, ich denke, es ist nicht der Geist. Wenn ich zum Beispiel ein großes Landgut von meinem Vater erbe, da ist es etwas anderes als der Geist; da ist es ein natürlicher Zusammenhang, da ist es das Blut. Und das Blut ist dasjenige, das zusammen mit allen möglichen anderen Verhältnissen, die sich daran geknüpft haben, einen Menschen heute noch in eine bestimmte Position hineinbringen kann. Von dieser Position hängt dann wiederum ab, wie er im geistigen Leben steht. Er kann gewisse Erziehungsinhalte rein dadurch aufnehmen, daß er aus alten Verhältnissen heraus, die zum großen Teil von Blutsbanden herrühren, in eine bestimmte soziale Position hineingestellt ist. Das fühlt die Menschheit im Grunde genommen gegenüber dem geistigen Leben zunächst als etwas, was nicht mehr ertragen werden kann. Instinktiv fühlt die Menschheit: Statt daß, wie von altersher, alles durch das Blut bestimmt wird, muß in sozialen Einrichtungen in der Zukunft der Geist mitsprechen. Nicht wahr, die Kirche hat ja, um Genosse desjenigen zu sein, was sich [auf diese Weise in der Vergangenheit] entwickelt hat und was so heute nicht mehr ertragen werden kann, sich wohl gefügt jenem Konzilbeschluß, der auf dem achten ökumenischen Konzil im Jahre 869 in Konstantinopel gefaßt wurde, wo gewissermaßen der Geist abgeschafft worden ist, wo bestimmt worden ist, daß die menschliche Seele zwar einzelne geistige Eigenschaften habe, daß der Mensch aber nur aus Leib und Seele bestehe, nicht aus Leib, Seele und Geist. Unter dem, was da als Weltanschauung uber die zivilisierte Welt sich ausbreitete, konnte sich eben - weil zurückgehalten wurden die Forderungen des Geistes - in dem ganzen Betrieb des geistigen Lebens dasjenige entwickeln, was nicht vom Geiste bestimmt ist.

Und heute will der Mensch aus seinem tiefsten Innern heraus, daß der Geist mitspreche bei der Bestimmung der sozialen Struktur. Das kann aber nur geschehen, wenn das Geistesleben nicht mehr ein Anhängsel des aus alten Blutseroberungen hervorgegangenen Staates bleibt, sondern wenn das Geistesleben auf sich selbst gestellt wird, wenn das Geistesleben nur nach den Impulsen, die in ihm selbst liegen, wirkt. Dann kann man bei den führenden Menschen in diesem Geistesleben voraussetzen, daß sie das, was ihnen obliegt - wir werden gleich von einigem weiteren sprechen, was ihnen obliegt; in den «Kernpunkten» ist ja vieles angeführt -, nämlich die Menschen in die soziale Struktur hineinzuführen nach Erkenntnissen der Begabungen, des Fleißes und so weiter, daß sie das wirklich ohne Gesetze, rein durch die Erkenntnisse naturgemäßer Verhältnisse tun. Und man wird sagen müssen: Auf dem Gebiete des Geisteslebens, das für sich dastehen und aus seinen eigenen Impulsen wirken wird, da werden die Erkenntnisse des Tatsächlichen dasjenige sein, was bestimmend wirkt. Sagen wir also kurz: Das Geistesleben, der geistige Teil des sozialen Organismus, fordert als sein Recht Erkenntnisse [der tatsächlichen Kräfte], die aber Tatkraft-Erkenntnisse sind.

Sehen wir jetzt nach dem zweiten Gliede des sozialen Organismus, nach dem Rechts- oder Staatsgliede. Da kommen wir schon in etwas hinein, was gewissermaßen nicht so unterliegt dem Außerweltlichen wie das Geistesleben. Meine sehr verehrten Anwesenden, bis in die tatsächlichsten Verhältnisse hinein ist ja unser ganzer sozialer Organismus, insofern das Geistige in ihm wirkt, gebunden an das, was mit jeder neuen Generation erscheint, ja, was mit jedem neuen Menschen aus unbestimmten Tiefen in den sozialen Organismus neue Kräfte hineinführt. Nehmen Sie den jetzigen Zeitpunkt. Dürfen Sie irgendwie aus den Verhältnissen der jetzigen Zeit heraus, wenn Sie es ehrlich mit der Menschheit meinen, irgendeine Organisation einrichten, welche in einer ganz bestimmten Weise das Zusammenleben der Menschen bestimmt? Nein, das dürfen Sie nicht! Denn mit jedem einzelnen Menschen werden neue Kräfte aus unbekannten Tiefen heraus geboren; die haben wir zu erziehen, und wir haben zu warten, was sie hineintragen in das Leben. Wir haben nicht dasjenige, was da durch die geistigen Anlagen in das Leben getragen wird, zu tyrannisieren durch etwa schon bestehende Gesetze oder eine schon bestehende Organisation; wir müssen dasjenige, was uns hineingetragen wird aus geistigen Welten, unbefangen empfangen, wir dürfen es nicht tyrannisieren und dogmatisieren durch dasjenige, was schon da ist. Daher brauchen wir ein solches Glied des sozialen Organismus, das ganz aus der Freiheit heraus, aus der Freiheit der immer neu in die Menschheit hereingeborenen menschlichen Anlagen heraus wirkt.

Das zweite Glied des sozialen Organismus, das staatlich-rechtliche Leben, das ist schon etwas weniger abhängig von dem, was da hereinkommt aus geistigen Welten. Denn es betätigen sich, wie wir wissen, auf dem Gebiet des Rechtslebens, des Staatslebens die mündig gewordenen Menschen. Und, meine sehr verehrten Anwesenden, wenn wir mündig geworden sind, hat uns eigentlich schon ergriffen ein großes Maß von Durchschnittlichkeit. Da hat gewissermaßen das Nivellement des Philisteriums uns ins Genick geschlagen. Und insofern wir als mündig gewordene Menschen alle gleich sind, sind wir schon - das soll gar nicht in schlimmem Sinne gesagt werden - in einem gewissen Sinne ein bißchen in den Scheuledern der Philistrosität drinnen. Wir sind in dem drinnen, was man regeln kann durch Gesetze.

Sie werden aber sagen: Ja, wir können doch nicht alles geistige Leben von den Kindern abhängig machen; da muß doch auch die geistige Anlage, die geistige Fähigkeit und der geistige Fleiß über das Mündigkeitsalter hinausgehen. - Im Grunde genommen nicht, so paradox das klingt. Denn unsere über das Durchschnittsmaß hinausgehenden Fähigkeiten, wenn wir über die zwanziger Jahre hinausgekommen sind, die beruhen gerade darauf, daß wir uns - das zeigt uns die ernste geisteswissenschaftliche Forschung auf Schritt und Tritt -, daß wir uns bewahrt haben, was wir in der Kindheit als Anlage und so weiter gehabt haben. Und das größte Genie ist derjenige Mensch, der sich am meisten in die dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre hineinträgt die Kräfte der Kindlichkeit. Man übt dann nur diese Kräfte der Kindlichkeit mit dem reifen Organismus, der reifen Seele und der reifen Geistigkeit aus, aber es sind die Kräfte der Kindlichkeit. Unsere Kultur hat ja nun leider die Eigentümlichkeit, daß sie diese Kräfte der Kindlichkeit schon durch die Erziehung möglichst totschlägt, so daß bei einer möglichst geringen Anzahl von Menschen die kindlichen Eigentümlichkeiten bis in das philiströse Alter hinein bleiben und die Menschen entphilistern. Denn eigentlich beruht alles Nicht-Philister-Sein darauf, daß einen die bewahrten Kindheitskräfte eben gerade entphilistern, daß sie durchschlagen durch das spätere Philistertum.

Weil da aber nun etwas auftritt, was nicht gegenüber den gegenwärtigen Bewußtseinsbedürfnissen der Menschheit fortwährend erneuert werden muß, können in der neueren Zeit die Verhältnisse des Rechts- und Staatslebens ja nur auf demokratischem Boden durch Gesetze geregelt werden. Gesetze sind nicht Erkenntnisse.

Bei Erkenntnissen müssen wir immer uns der Wirklichkeit gegenüberstellen, und aus der Wirklichkeit heraus müssen wir durch Erkenntnisse den Impuls zu dem bekommen, was wir tun sollen. So ist es bei der Erziehung und auch bei allem anderen, von dem ich gezeigt habe in den «Kernpunkten», daß es von dem geistigen Gliede des sozialen Organismus ausgehen muß. Bei Gesetzen, wie ist es denn da? Gesetze werden gegeben, damit das staatlich-politische Leben, das Rechtsleben, bestehen kann. Aber man muß warten, bis einer nötig hat, im Sinne eines Gesetzes zu handeln, erst dann muß er sich um dieses Gesetz kümmern. Oder man muß warten mit der Anwendung des Gesetzes, bis einer es übertritt. Kurz, es ist immer etwas da, das Gesetz, aber erst für den Fall, der eventuell eintreten kann. Immer ist das Wesen der Eventualität vorhanden, der casus eventualis. Das ist etwas, was immer dem Gesetz zugrundeliegen muß. Man muß warten, bis man mit den Gesetz etwas machen kann. Das Gesetz kann da sein; wenn es nicht einschlägt in meine Sphäre, dann interessiert mich das Gesetz nicht. Es gibt ja heute viele Menschen, die glauben, daß sie sich für das Gesetz im allgemeinen interessieren, aber es ist doch so, wie ich es jetzt angedeutet habe - wenn einer ehrlich ist, muß er das zugeben. Also: das Gesetz ist etwas, was da ist, was aber auf die Eventualität hin arbeiten muß. Das ist dasjenige, was nun zugrundezuliegen hat dem rechtlichen, dem staatlichen, dem politischen Teil des dreigegliederten Organismus.

Beim wirtschaftlichen Gliede kommt man mit dem Gesetz nicht aus, denn es reicht nicht aus, Gesetze bloß zu geben etwa darauf, ob einem aus diesen oder jenen Verhältnissen das oder jenes in einer bestimmten Weise geliefert werden soll. Da kann man nicht auf Eventualitäten hin arbeiten. Da tritt ein drittes neben der Erkenntnis und neben dem Gesetz auf, das ist der Vertrag, der bestimmte Vertrag, der geschlossen wird zwischen denen, die wirtschaften - den Korporationen und den Assoziationen -, der nicht wie das Gesetz auf das Eventuelle hin arbeitet, sondern der auf das ganz bestimmte Erfülltwerden hin arbeitet. Ebenso wie die Erkenntnis im geistigen Leben und wie das Gesetz im staatlich-politisch-rechtlichen Leben herrschen muß, so muß herrschen der Vertrag, das Vertragswesen in all seinen Verzweigungen im Wirtschaftsleben. Das Vertragswesen, das nicht auf Eventualität, sondern auf Verbindlichkeit hin vorhanden ist, das ist dasjenige, was bewirken muß alles das, was Sie in den «Kernpunkten» geschildert finden als das dritte Glied des sozialen Organismus.

Wir können also sagen, wir haben da drei anschauliche Gesichtspunkte, aus denen heraus wir verstehen können, wie dem Wesen nach diese drei Glieder sein müssen. Alles, was im Leben unterliegt den Erkenntnissen, das muß verwaltet werden auf dem freien Boden des geistigen Gliedes. Alles, was im Leben in Gesetze eingespannt werden kann, gehört dem Staate an. All das, was dem verbindlichen Vertrag unterliegt, muß dem Wirtschaftsleben eingefügt werden.