Anarchismus - John-Henry Mackay und Rudolf Steiner

Der Staat als soziale Frage: Terrorismus als Ende oder als Nachahmung der staatlichen Gewalt?

01.04.2000

Aus Anarchismus und soziale Dreigliederung - Ein Vergleich

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Vom Standpunkt der sozialen Dreigliederung läßt sich der Staat, beziehungsweise das Rechtsleben, mit dem Ideal der Gleichheit in Verbindung setzen. Dies betrifft zum Beispiel die soziale Frage des Arbeitsrechts. Darüber soll demokratisch entschieden werden. Die meisten Anarchisten können aber mit dem Staat überhaupt nichts an Ideal verbinden. Das Ideal der Gleichheit bleibt entsprechend bei ihnen etwas unterbelichtet. Am Fruchtbarsten zeigen sie sich bei den beiden anderen Idealen der Freiheit und der Brüderlichkeit.

Mit dem Staat haben aber die Anarchisten schon zu tun gehabt. Nicht in dem Sinne, daß sie von ihm etwas Positives erwartet hätten. Sie sind aber immer wieder auf seinen Widerstand gestoßen. Dies gilt zum Beispiel für all ihre Versuche, das Geistesleben und das Wirtschaftsleben selbst neu zu gestalten. Ihnen wurde vielfach verboten, es mit einer antiautoritären Erziehung zu probieren oder überhaupt ihre Gedanken zu verbreiten. Auf wirtschaftlichem Gebiet sah es nicht besser aus. Sei es die wilden Betriebsräte oder der spätere Versuch, eine eigene Währung zu schaffen, dem wurde alles per Gesetz oder sogar durch militärische Interventionen ein Ende gesetzt. Der Staat hat eben dieselbe Entwicklung durchgemacht wie der Anarchismus. Von einem ursprünglich rein politischen Begriff, hat er sich auf die anderen Bereiche des Lebens ausgeweitet. Der Unterschied ist nur, daß während der Anarchismus daran gewonnen hat und eigentlich erst recht interessant wurde, der Staat sich dagegen immer mehr blamiert hat.

Von dieser Entwicklung des Anarchismus ist aber von der breiten Öffentlichkeit kaum Notiz genommen worden. Die Aufmerksamkeit ist auf die andere Kollision zwischen Anarchismus und Staat fixiert geblieben, dort wo der Kernbereich des Staates, die Staatsgewalt getroffen wird, nämlich durch den Terrorismus. Einige Anarchisten bekennen sich nämlich zu dieser sogenannten Propaganda der Tat, die eigentlich eine Propaganda der Gewalttat ist. Anarchismus und Terrorismus sind daher vielfach für gleichbedeutend gehalten worden. Mackay ist diese Gleichsetzung so absurd, daß er kaum darauf eingehen will. Darüber spricht er sich in einem öffentlichen Brief an Steiner aus:

" Dringender als je in den letzten Jahren tritt in diesen Tagen die Bitte meiner Freunde an mich heran, gegen die " Taktik der Gewalt " von neuem Stellung zu nehmen, um meinen Namen nicht zusammengeworfen zu sehen mit jenen " Anarchisten ", die - keine Anarchisten, sondern samt und sonders revolutionäre Kommunisten sind. Man macht mich darauf aufmerksam, daß ich Gefahr laufe, im Falle der internationalen Maßregel einer Internierung der " Anarchisten " als Ausländer aus Deutschland verwiesen zu werden.

Ich lehne es ab, dem Rate meiner Freunde zu folgen. Keine Regierung ist so blind und so töricht, gegen einen Menschen vorzugehen, der sich einzig und allein durch seine Schriften, und zwar im Sinne einer unblutigen Umgestaltung der Verhältnisse, am öffentlichen Leben beteiligt. "

Steiner ist da nicht so optimistisch und daher eher bereit, näher auf die Frage einzugehen. Er setzt auseinander, warum sich der Anarchismus selber widerspricht, wenn er zum Mittel der Gewalt greift. Wer Gewalt anwendet, bekämpft nicht den Staat, sondern macht sich selber zum Staat. Sollte der jetztige Staat dabei zusammenbrechen, so wäre gar nichts gewonnen: Der Staat ist tot, es lebe der Staat.

" Auf die Gewalt und die Autorität (...) sind die gegenwärtigen Staaten gegründet. Der individualistische Anarchist steht ihnen feindlich gegenüber, weil sie die Freiheit unterdrücken. Er will nichts als die freie, ungehinderte Entfaltung der Kräfte. Er will die Gewalt, welche die freie Entfaltung niederdrückt, beseitigen. Er weiß, daß der Staat im letzten Augenblicke, wenn die Sozialdemokratie ihre Konsequenzen ziehen wird, seine Kanonen wirken lassen wird. Der individualistische Anarchist weiß, daß die Autoritätsvertreter immer zuletzt zu Gewaltmaßregeln greifen werden. Aber er ist der Überzeugung, daß alles Gewaltsame die Freiheit unterdrückt. Deshalb bekämpft er den Staat, der auf der Gewalt beruht - und deshalb bekämpft er ebenso energisch die " Propaganda der Tat ", die nicht minder auf Gewaltmaßregeln beruht. Wenn ein Staat einen Menschen wegen seiner Überzeugung köpfen oder einsperren läßt - man kann das nennen, wie man will -, so erscheint das dem individualistischen Anarchisten als verwerflich. Es erscheint ihm natürlich nicht minder verwerflich, wenn ein Luccheni eine Frau ersticht, die zufällig die Kaiserin von Österreich ist. Es gehört zu den allerersten Grundsätzen des individualistischen Anarchismus, derlei Dinge zu bekämpfen. Wollte er dergleichen billigen, so müßte er zugeben, daß er nicht wisse, warum er den Staat bekämpft. Er bekämpft die Gewalt, welche die Freiheit unterdrückt, und er bekämpft sie ebenso, wenn der Staat einen Idealisten der Freiheitsidee vergewaltigt, wie wenn ein blödsinniger eitler Bursche die sympathische Schwärmerin auf dem österreichischen Kaiserthrone meuchlings hinmordet.

Unsern Gegnern kann es nicht deutlich genug gesagt werden, daß die " individualistischen Anarchisten " energisch die sogenannte " Propaganda der Tat " bekämpfen. Es gibt außer den Gewaltmaßregeln der Staaten vielleicht nichts, was diesen Anarchisten so ekelhaft ist wie diese Caserios und Lucchenis. Aber ich bin doch nicht so optimistisch wie Sie, lieber Herr Mackay. Denn ich kann das Teilchen Verstand, das zu so groben Unterscheidungen wie zwischen " Individualistischem Anarchismus " und " Propaganda der Tat " nun doch einmal gehört, meist nicht finden, wo ich es suchen möchte. "

Es fragt sich natürlich, warum ich selbst so lange gewartet habe, um auf diese Frage des Terrorismus einzugehen. Ist es nicht eine Frage, die erst geklärt werden sollte, bevor mit dem Anarchismus weitergegangen wird?

Die Antwort Steiners auf diese Frage ist natürlich bestechend. Den gewaltbereiten Anarchisten wirft er dasselbe vor, was diese Anarchisten immer den Kommunisten vorgeworfen haben, nämlich daß sie den Staat stärken, statt ihn zu beseitigen. Es hat eben nicht zu den Zielen solcher Kommunisten wie Lenin gehört, den Staat zu stärken. Dies war seiner Meinung nach nur vorübergehend notwendig, war nur ein Mittel, damit der Staat dann anschliessend von selbst absterben kann. Das hat nur nicht unbedingt geklappt. Anarchisten spielen als Terroristen ebenso den starken Staat und glauben auch, daß der Staat anschliessend vorbei sein wird. Und vor allem kann es auch nicht besser klappen als beim Kommunismus.

Schwieriger steht es um zwei andere Aussagen, die sich sowohl bei Mackay wie bei Steiner finden. Beide setzen einerseits individualistischen Anarchismus mit Gewaltlosigkeit gleich und halten andererseits Anarchismus und Kommunismus für unvereinbar. Und Steiner widerspricht Mackay auch nicht, wenn dieser Kommunismus und Gewalt gleichsetzt. Wer für Gewalt ist, sollte also darauf verzichten, sich einen Anarchisten zu nennen. Von Steiner kann man dies am ehesten annehmen, weil er selber darauf verzichtet, sich einen Anarchisten zu nennen. Allerdings nicht deswegen, weil er für Gewalt, sondern weil er gegen Gewalt ist und darin nicht mißverstanden werden möchte. Die Inhalte stehen ihm über den Worten und Bezeichnungen.

" Tief verhaßt war diesem Manne [J. H. Mackay] im sozialen Leben der Menschen alles, was Gewalt (Archie) ist. Die größte Verfehlung sah er in dem Eingreifen der Gewalt in die soziale Verwaltung. In dem " kommunistischen Anarchismus " sah er eine soziale Idee, die im höchsten Grade verwerflich ist, weil sie bessere Menschheitszustände mit Anwendung von Gewaltmitteln herbeiführen wollte.

Nun war das Bedenkliche, daß J. H. Mackay diese Idee und die auf sie gegründete Agitation bekämpfte, indem er für seine eigenen sozialen Gedanken denselben Namen wählte, den die Gegner hatten, nur mit einem andern Eigenschaftswort davor. " Individualistischer Anarchismus " nannte er, was er selber vertrat, und zwar als Gegenteil dessen, was man damals Anarchismus nannte. Das gab natürlich dazu Anlaß, daß in der Öffentlichkeit nur schiefe Urteile über Mackays Ideen sich bilden konnten. "

Es stimmt aber nicht, daß die kommunistischen Anarchisten samt und sonders Gewaltmenschen gewesen sind. Als Kropotkin, der sich selber zu den kommunistischen Anarchisten zählt, danach gefragt wird, wie er zur Propaganda der Tat steht, macht er klar, daß er sie ablehnt. Der Gesprächspartner fragt dann weiter, was er denn machen würde, wenn ein Terrorist ihn von einem geplanten Attentat unterrichtet, und es ihm nicht gelingen würde, ihn davon abzuhalten. Er wollte wissen, ob Kropotkin dann zur Polizei laufen würde oder nicht. Wenn ja, dann würde Kropotkin indirekt gestehen, daß er auf Seite der Staatsgewalt steht, wenn nicht, würde er sich zum Unterstützer des Terrorismus machen. Stattdessen antwortet Kropotkin, daß er zum Ort des Attentats gehen würde, um zusammen mit den anderen Opfern zu sterben. Auch eine Art der Brüderlichkeit.

Andererseits beruft sich die Gewalt gelegentlich auf Stirner, der zum individualistischen Anarchismus gerechnet wird. Durch einige seiner Formulierungen gibt dieser auch Anlaß dazu. Einen solchen Stirnerianer hatte Steiner einige Jahre später unter seinen Schülern an der Berliner Arbeiterbildungsschule . Die Freiheit wird eben nicht immer so sozial verstanden, daß sie, wie bei Steiner, auch dem Andern zugesprochen wird. Solche Stirnerianer sagen natürlich weder etwas über Stirner, noch über Steiner. Dies hätte aber Steiner zum Anlaß nehmen können, sich im Gegenzug die kommunistischen Anarchisten etwas genauer anzuschauen als es Mackay gemacht hat.

Diese Vereinfachungen von Mackay, und zum Teil auch von Steiner, sind für mich der Anlaß gewesen, diese Polemik zunächst zu vermeiden und alle Anarchisten, auch diejenige, die eigentlich keine sein sollen, zu berücksichtigen. Es war dadurch möglich, die mehr freiheitliche und die mehr brüderliche Strömung des Anarchismus zu beschreiben. Andere Darstellungen des Anarchismus kommen meist nicht dazu. Es liegt daran, daß die beiden üblichen Bezeichnungen, nämlich individualistischer und kommunistischer Anarchismus, die Aufmerksamkeit auf eine ganz andere Frage lenken. Was die Anarchisten über Geistesleben und Wirtschaftsleben zu sagen haben, interessiert dabei überhaupt nicht. Es geht stattdessen nur um die Stellung der Anarchisten zur Frage des Eigentums. Wer sich für das Privateigentum ausspricht, ist ein individualistischer Anarchist, wer dagegen ist, gehört zu den kommunistischen Anarchisten. Mehr sagt die Bezeichnung nicht. Mehr haben die Leute auch nicht gefragt.

In seinem Roman Die Anarchisten läßt Mackay zwei Freunde, Auban und Trupp, sich um den wahren Anarchismus streiten. Trupp steht noch zum kommunistischen Anarchismus, während sich Auban inzwischen davon gelöst und zum individualistischen Anarchismus weitergearbeitet hat. Dort wird auch klar, warum Mackay die anarchistische und die kommunistische Weltanschauung für völlig unvereinbar hält . Das Privateigentum läßt sich Aubans und seiner Meinung nach nur durch Gewalt beseitigen und setzt daher den Staat voraus, den der Anarchismus doch abschaffen will. Dies ist der Grund, warum Mackay Kommunismus mit Gewalt gleichsetzt. Ohne ökonomische Unabhängigkeit ist die Freiheit nur ein wesenloser Traum 

Steiner ist auch für eine private Verfügung über das Kapital gewesen. Dies erklärt auch seine damalige Zusage zum wirtschaftlichen Liberalismus, die sonst eher verwirrend ist . Sie bezieht sich nicht auf das Marktprinzip, sondern meint die Ablehnung des Staatskapitalismus. Das Kapital rechnet Steiner eben, wie schon öfters erwähnt, weder dem Wirtschaftsleben noch dem Rechtsleben, sondern dem Geistesleben. Diese Verbindung von Kapital- und Freiheitsbegriff verleitet natürlich leicht dazu, Steiner zu den knallharten Kapitalisten zu rechnen. Nur enden bei ihm die Kapitalisten genauso knallhart. Wer das Kapital nicht mehr selber verwaltet, ist kein Kapitalist mehr und muß daher sein Kapital abgeben, das heißt schenken. Hier hätte Mackay wahrscheinlich auch gesagt, daß es ohne Gewalt, sprich Zwang, gar nicht zu machen ist. Dies stimmt auch. Zu dieser Gewalt oder Zwang ist aber Steiner bereit. Es gehört bei ihm zu den Aufgaben des Staates, den Einzelnen dazu zu zwingen, sein Kapital zur rechten Zeit zu schenken. Das Geistesleben soll dabei herausfinden, wie dieses Kapital so geschenkt werden kann, daß es für den Beschenkten nicht zur Rente wird, was der Fall wäre, wenn dieser unfähig ist. Ohne Staat kommt man hier aber nicht aus. Ein individualistischer Anarchist im Sinne von Mackay ist also Steiner, trotz seiner Beteuerung, nicht gewesen. Und Mackay, der selber bis zur Weltwirtschaftskrise von einer Rente gelebt hat, hätte es auch nicht leicht gehabt, hier den Ansatz von Steiner zu verstehen.

Sylvain Coiplet