Der Begriff „Zivilgesellschaft“ und Rudolf Steiners Begriff „freies Geistesleben“

01.06.2001

Die gegenwärtige, von Nicanor Perlas angeregte, Auseinandersetzung zum Begriff der Zivilgesellschaft, kann zur Erhellung wesentlicher "Kernpunkte der sozialen Frage" beitragen - Kernpunkte, die bereits von Rudolf Steiner zukunftsweisend offengelegt wurden, die aber bis heute noch nicht die genügende Aufmerksamkeit gefunden haben.

Wer zur Wirkenszeit Rudolf Steiners als anthroposophisch interessierter Vortragshörer nur auf die politischen Forderungen des Proletariats schaute, der konnte nicht verstehen, warum Steiner gerade in den Tiefen des proletarischen Wollens die sozialen Zukunftskeime heraufkommen sah. Rudolf Steiner thematisierte immer wieder, dass sich hinter den sozialistischen Programmen und Klassenkampf-Parolen eine allgemein-menschliche Befreiungsbewegung bahnbrechen wollte: "In Bewegung ist gekommen der ganze Mensch auf dem Umweg über den proletarischen Menschen. Da wirken tiefere Motive mit."

Wie das Proletariat des 19. Jahrhunderts sich jedoch nicht zu einer freien Erkenntnisbewegung durchringen konnte, sondern der Bestrebung "proletarischer Vereinigung" erlag, so hat sich auch die Zivilgesellschaft ersteinmal in einer Art Opposition gegenüber dem Establishment aus Wirtschaft und Staat formiert. Ähnlich, wie Rudolf Steiner seinerzeit die "tieferen Motive" der Arbeiterbewegung von der einseitigen Klassenkampf-Ideologie zu lösen unternahm und den, die rein menschliche Individualität umfassenden Begriff des freien Geisteslebens entwickelte, gilt es heute die Zivilgesellschaft in der ihr eigenen Aufgabe zu erkennen. Überlagerte zu Steiners Zeit vorallem die Utopie einer "marxistisch geregelten wirtschaftlichen Großgenossenschaft" die eigentliche Zeitnotwendigkeit, so liegt die gegenwärtige Gefahr der Zivilgesellschaft in einer einseitig politischen Ausrichtung. Harrie Salman übernimmt in seiner Entgegnung auf Nicanor Perlas diese Einseitigkeit, wenn er "die Bürgergesellschaft bewußt auf die Demokratisierung der Gesellschaft" definiert und Mitteleuropa die Aufgabe zuspricht "das Rechtsleben neu zu ordnen und den Rechtsstaat zu gestalten". Gerade der von Salman in diesem Zusammenhang genannte Joseph Beuys betonte immer wieder: "Man sollte aber den ganzen Komplex von vorne klären, wieso das eine Frage des sozialen Organismus ist und nicht nur eine Frage der Demokratie, obwohl der Begriff der Demokratie im sozialen Organismus ein ganz wichtiger Begriff ist. Aber dass man mit der Demokratie noch lange nicht alles machen kann, das ist das Problem. [...] Immerhin hat die Organisation sehr fleißige Vorarbeit geleistet, z.B. für die freie Hochschule. [...] Aber es ist trotzdem noch zu einseitig auf den Begriff der Demokratie festgelegt."

Wie Beuys hier die Demokratie-Bewegung also nur als eine Konsequenz der eigentlichen (zivilgesellschaftlichen) Zusammenarbeit verstand, so finden sich bei Steiner bereits wegweisende Kerngedanken zur Entwicklung der Zivilgesellschaft: "Eine Universalarznei zur Ordnung der sozialen Verhältnisse gibt es so wenig wie ein Nahrungsmittel, das für alle Zeiten sättigt. Aber die Menschen können in solche Gemeinschaften eintreten, daß durch ihr lebendiges Zusammenwirken dem Dasein immer wieder die Richtung zum Sozialen gegeben wird. Eine solche Gemeinschaft ist das sich selbst verwaltende geistige Glied des sozialen Organismus."

Dieses "geistige Glied des sozialen Organismus" umfasst alle Menschen ("Jeder Mensch ist ein Künstler", J. Beuys) in ihren individuellen Fähigkeiten: [...] "von den höchsten geistigen Leistungen in der Kunst, in der Wissenschaft, im religiösen Leben bis herab zu jener Form der Anwendung individueller menschlicher Fähigkeiten, wie sie mehr oder weniger im Seelischen begründet sind, die im gewöhnlichen materialistischen Prozesse verwendet werden müssen, der auf kapitalistischer Grundlage beruht, bis in den Wirtschaftsprozeß hinein, den man gewöhnlich mit einem absprechenden Worte den materiellen Bereich nennt."

Nur wenige der unmittelbaren Schüler Rudolf Steiners haben seine Ausführungen in ihrer vollen Tragweite verstanden, wie Karl Heyer: "Wer die Forderung des freien Geisteslebens nicht in die umfassenden Zusammenhänge hineinzustellen vermag, in die sie gehört, kann ihr nicht gerecht werden. So sehr der Impuls von Mitteleuropa ausgehen, von den Deutschen initiativ ergriffen werden sollte, so sehr würde er erst als ein solcher der größeren, internationalen Zusammenhänge seine volle Fruchbarkeit erweisen, wo er die Lebensgemeinschaften über die politischen Grenzen hinweg heraufzuführen vermöchte, zusammen mit dem gleichfalls zu entpolitisierenden Wirtschaftleben. Wer das, weil ungewohnt und von den meisten aus mangelnder Einsicht noch nicht entfernt gewollt, für unmöglich hält, mag nur gleich jede Hoffnung aufgeben, jemals zu einer zeitgemäßen, zeitgeistgewollten Gestaltung der menschlichen Verhältnisse auf Erden zu kommen. [...] Die Freiheit kann nicht angeordnet werden. Zwingen kann man niemanden zu ihr. Sie muß gewollt werden. Und dieser Wille muß, um zu Zielen zu gelangen, ein Wille von elementarer Kraft sein, in einer mächtigen Überzeugung wurzelnd. Je weitere Kreise er erfassen würde, desto früher würden Befreiungstaten vollbracht werden können."

Nicanor Perlas Deutung der Zivilgesellschaft als "Kulturkraft" eröffnet die Möglichkeit, die Zivilgesellschaft ihrem notwendigen Selbstverständnis näher zu führen. Diesem Selbstverständnis steht aber nicht allein die, durch Perlas Auffassung eingedämmte, einseitige Politisierung entgegen, sondern die privat-wirtschaftlichen oder betriebsegoistischen Organisationsformen der kulturellen (und insbesondere auch anthroposophischen) Einrichtungen selbst. Dass sich heute Zivilgesellschaft und Anthroposophie zumeist noch kaum vereinbar gegenüberstehen, ist Ausdruck dieser Misere. Doch, dass die Anthroposophie im Rahmen der Zivilgesellschaft noch allzu häufig als sektiererisch oder sogar faschistoid empfunden wird, liegt nur daran, dass sie noch kaum als Geistes-Wissenschaft zur Geltung kommt. Die von Perlas angesprochene "Reduzierung des Kulturellen auf das Ökonomische" ist eben auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung ein Zentralproblem. Die Waldorfschulbewegung beispielsweise hat durch ihre hochgradige staatliche Subventionierung zumeist jegliches Bestreben zu initiativer wirtschaftlicher Assoziierung verloren. Die Idee eines "Weltschulvereins" ist in der Versenkung verschwunden, obwohl Steiner mit ihr einen wesentlichen Impuls für ein freies Kulturleben und Erziehungswesen artikulierte: "Der Weltschulverein kann alle Kultureinrichtungen finanzieren [Hervorhebungen T.B.], wenn er in der richtigen Weise verstanden wird."

Rudolf Steiner hat die Ursachen dieser verengenden Verdrängung deutlich charakterisiert. Restlos unmissverständlich skizzierte Steiner bereits in früheren Zusammenhängen die mit dem Weltschulverein impulsierte Notwendigkeit: "Nehmt dem Staat die Schulen ab, nehmt ihm das geistige Leben ab, gründet das geistige Leben auf sich selbst, laßt es durch sich selbst verwalten, dann werdet ihr dieses geistige Leben nötigen [Hervorhebung T.B.], den Kampf fortwährend aus seiner eigenen Kraft zu führen: Dann wird aber dieses geistige Leben auch von sich aus in der richtigen Weise zum Rechtsstaat und zum Wirtschaftsleben sich stellen können, wird zum Beispiel das geistige Leben gerade - ich habe das in meiner sozialen Schrift [Die Kernpunkte der sozialen Frage], die nunmehr fertig wird in den nächsten Tagen, ausgeführt -, dann wird das geistige Leben auch der richtige Verwalter des Kapitals sein."

Zwar gibt es einzelne soziologische Betrachtungen, die den manipulativen Charakter staatlicher Finanzierung für das Bildungsleben zur Sprache bringen; auch wird die unsachgemäße Einflußnahme besprochen, die durch wirtschaftliches Sponsoring dem sozialen Organismus einverleibt wird; doch herrscht zumeist noch weitgehende Unklarheit bezüglich der Notwendigkeit Kultur und Bildung grundsätzlich "individuell" zu finanzieren. Rudolf Steiner unterscheidet deutlich, einerseits: die "Abgaben", "die für das Rechtsleben notwendig sind", die "durch die Übereinkunft zwischen den Leitern des Rechtslebens und denen des Wirtschaftslebens" zu regeln wären; und andererseits: "alles, was zum Unterhalte der geistigen Organisation nötig ist, wird dieser zufließen durch die aus freiem Verständnis für sie erfolgende Vergütung der Einzelpersonen, die am sozialen Organismus beteiligt sind." (Hervorhebung T.B.) Dieser freien Finanzierung des Geisteslebens stehen Bedenken gegenüber, die durch die Loskoppelung von staatlicher Finanzierung das "gleiche Recht auf Bildung" verletzt sehen und deshalb wieder die staatliche Schulfinanzierung favorisieren oder zum Begriff der "institutionellen Schenkung" kommen. Doch diese Bedenken sind im Kern nur der Ausdruck einer mangelnden Differenzierung geistiger und rechtlicher Fragen. "Gleiches Recht auf Bildung" kann ja nicht heissen, dass der Staat als "Bildungsveranstalter" die Institution "Schule" definiert und einrichtet (und somit den pädagogischen Bereich "gleichschaltet"), sondern nur, dass die Bedingungen geschaffen werden, dass durch ein assoziatives Wirtschaftsleben der einzelne gestärkt wird, zur Finanzierung des Bildungswesens beitragen zu können. "Es geht ja heute durch die Lande der Ruf: Unentgeltlichkeit des Schulwesens. Ja, was soll denn das überhaupt heissen? Es könnte doch nur der Ruf durch die Lande gehen: Wie sozialisiert man, damit ein jeder die Möglichkeit hat, seinen gerechten Beitrag zum Schulwesen zu schaffen?" Indem Steiner vom "gerechten Beitrag zum Schulwesen" spricht, wird deutlich, dass er den einzelnen Menschen nicht nur als privaten Bildungskonsumenten anspricht, sondern ihm die Verantwortungsfähigkeit zum sozialen Ganzen zuspricht; denn die hier geforderte Gerechtigkeit kann ja nicht staatlich verordnet gedacht werden, wenn sie nicht wieder eine Bevormundung des Geisteslebens zur Folge haben soll. Der gefürchtete "Egoismus" ist eben selbst der Ausdruck, der - durch die staatliche Bevormundung deformierten - menschlichen Wesenheit, die, insofern sie sich frei entwickeln kann, in sich auch die "Liebe zur menschlichen gesellschaftlichen Ordnung" findet.

Nicht das ist die Hauptproblematik, dass diese Loslösung des Geisteslebens aus staatswirtschaftlicher Finanzierung noch kaum möglich erscheint, sondern dass diese Gedanken noch fast gar nicht lebenserfüllt gedacht werden, ja von pragmatischer Seite zur "Utopie" degradiert werden. Doch dieser Pragmatismus verkennt, dass erst aus der Polarität von Jetzt-Möglichem und Denkbar-Notwendigem Entwicklung hervorgehen kann. Denn sonst "revolutionieren wir die Welt, dass alles beim alten bleibt", wie es Rudolf Steiner einmal formulierte. Die Anthroposophische Gesellschaft selbst verstand Steiner als Ausgangspunkt dieser Entwicklung, indem er fragte: "Hat diese Anthroposophische Gesellschaft in irgendeinem Staate je eine Staatssubvention gehabt? [...] Ist sie nicht in bezug darauf geradezu das praktischte Ideal?" und daraus die Aufgabe formuliert: "dass Sie das in die andere Welt hinaustragen, den Menschen klarmachen, dass alles Geistesleben von dieser Art sein muß, von dieser Art von Verfassung sein muß." Bezüglich dieser Thematik herrscht noch weitgehende Täuschung, denn natürlich können auch "freie Einrichtungen" staats-kultur-ähnliche Strukturen annehmen - nicht zufällig hat die Anthroposophische Gesellschaft seit Steiners Tod ein Konstitutionsproblem... Doch auch z.B. die Mitarbeiter der GLS-Bank, die ein "ethisches Investment" propagieren, zeigen, dass sie Immanuel Kant vor Rudolf Steiners "ethischem Individualismus" den Vorzug geben.

Darin liegt ja die hohe Aktualität des Wirkens Rudolf Steiners: "Gerade wer es ehrlich meint mit der sozialen Frage in der Gegenwart, der muß immer wieder und wiederum betonen: Notwendig ist vorallen Dingen eine freie Entfaltung geistiger Wissenschaft. Das ist nicht irgendwie die Einführung eines Unpraktischen in das gegenwärtige Leben, sondern das ist das Allerallerpraktischte, weil es unmittelbar, wirklich notwendig ist."

Noch hängt die Zivilgesellschaft häufig mit einem wort-wörtlichen Verständnis als "Bürgergesellschaft" in der Einseitigkeit eines sozial-demokratischen Gesellschaftsbegriffs und es ist ein Missverständnis, die anthroposophische Bewegung in diese Ausrichtung überhaupt als Mitarbeiter einbeziehen zu wollen. Die ungeheuerlichen Privatvermögens-Bildungen und Umverteilungen der letzten Jahre, dürfen nicht primär als Ausdruck mangelnder Sozialgesetze verstanden werden, denn diese Entwicklung ist vorallem die Folge einer einseitigen (die ganze moderne Technik hervorbringenden) Wissenschaftsentwicklung. Diese Einseitigkeit der neueren Wissenschaft zu überwinden, bedeutet an der Befreiung des Geisteslebens zu arbeiten. "Und Sie werden dann, wenn sie in dieser Weise die Sache durchschauen, wenn Sie richtig erkennen, dass Sie auf die Frage: Ja woher soll das freie Geistesleben kommen? zu antworten wissen mit voller Überzeugung: Ja, wir haben nicht nur zu reden von der Forderung des freien Geisteslebens, sondern wir haben etwas, was man auch in diesen freien Rahmen des freien Geisteslebens hineinlegen kann, was den Geist produziert, was lebendiger Geist ist, - wir werden dann auf die anthroposophische Quelle hinweisen können, die dazu gehört."

In diesem Sinne ist Nicanor Perlas Einsatz für eine "lebendige Anthroposophie" als wesentliche Anregung zur Belebung der Dreigliederungsbewegung zu begrüssen.


Quelle: Rundbrief Dreigliederung des sozialen Organismus, 06/2001. Vom Autoren überarbeiteter und genehmigter Nachdruck