Eine Elementarlehre des sozialen Organismus
Wie kann man sie begründen - was vermag sie zu leisten?

01.05.1981

Anmerkung der Redaktion

Die Schriften von Wilhelm Schmundt muss leider jeder kennen, der sich für die soziale Dreigliederung einsetzen will. Nicht etwa, weil sie irgend etwas zum Verständnis der sozialen Dreigliederung beigetragen haben. Sondern umgekehrt, weil sie vielen bei ihrem Verständnis der sozialen Dreigliederung im Wege standen - und immer noch stehen.

Rudolf Steiners Schriften und Vorträge zur sozialen Dreigliederung mögen eine noch so schwere Kost sein, man sollte nicht davor zurückschrecken, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Wer sich da durchbeisst, hat es auch nicht mehr so schwer, Wilhelm Schmundt als jemanden durchzuschauen, der das Spezifische des Wirtschaftslebens im Unterschied zum Rechtsleben nie verstanden hat, auch da wo er, wie hier, von Assoziationen spricht, und erst recht da wo er das Wirtschaftsleben zum Allumfassenden hochstilisiert.

Berlin, 04.10.2015
Sylvain Coiplet

Begriff des sozialen Organismus

Von einem »sozialen Organismus« zu sprechen, ist fragwürdig. Wo es geschieht, bleibt der Begriff oft unbestimmt - etwa im Sinne des Ganzen einer Menschengruppe, die durch Rechtsordnungen zusammengefaßt ist. Selbst wenn man bemerkt, daß innerhalb dieses Ganzen drei Bereiche unterschieden werden können, in denen sich das Leben dieser Gruppe vollzieht - der Geistbereich (mit Wissenschaft, Kunst, Religion), der Rechtsbereich, der Wirtschaftsbereich -, so ergibt sich doch damit noch keine Gestalt, die den Charakter eines organischen Gefüges aufweist.

Gewiß ist es sinnvoll, das soziale Ganze unter dem Gesichtspunkt jener dreigefügten Struktur zu betrachten und - wie dies Rudolf Steiner und seine Schüler am Ende des Ersten Weltkrieges taten - zu fordern, daß sich der Staat auf das Rechtsgebiet zu beschränken habe, - daß Schulen, Hochschulen, Bildungsinstitutionen sich auf eigene Füße stellen (nur freie Menschen können freie Menschen erziehen!), - daß der Staat nicht Wirtschaft treiben dürfe (sonst beeinflussen Wirtschaftsinteressen das Recht, das zu wahren doch seine Aufgabe ist). Aber der Begriff eines sozialen Organismus bliebe in einem solchen Zusammenhang eine unnötige und störende Beigabe.

Dennoch: aus dem Hintergrund der »Bewegung für soziale Dreigliederung«, die 1919/20 jene Forderungen zum Inhalt politischen Strebens machte, leuchtete die Idee des »sozialen Organismus« auf. In der Schrift »Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft« (April 1919) [1] veröffentlichte Rudolf Steiner sein Forschungsergebnis: Es gibt den »sozialen Organismus«; er ist eine Wirklichkeit; er weist drei Glieder auf -, diese aber sind gegenwärtig chaotisch ineinander verschlungen; es kann das soziale Leben der Kulturmenschheit nicht gesunden, solange der soziale Organismus nicht die wesensgemäße Gestalt erfahren hat. - Diese fundamentale Entdeckung trat damals gegenüber jenen aktuellen Forderungen in den Hintergrund. Man konnte hoffen, daß mit dem Erfüllen dieser Forderungen zugleich ein Umgestalten des kranken sozialen Organismus eingeleitet werde. Aus späteren Äußerungen Rudolf Steiners darf man vermuten, daß in jener Zeit niemand außer ihm diesen Zusammenhang durchschaut hat. [2] Heute nun steht die Notwendigkeit da, den umgekehrten Weg einzuschlagen: auszugehen von dem Erkennen des sozialen Organismus in den Tiefenschichten des sozialen Lebens und ihn gesundend zu gestalten. Damit - das wird sich auf dem Gedankenweg ergeben, der hier eingeschlagen werden soll, - erfüllen sich zugleich die genannten Forderungen.

Am Beginn des Weges gilt es, sich, der Entdeckung Steiners folgend, zunächst einen deutlichen Begriff des sozialen Organismus zu erwerben. - Wie der Leibesorganismus dem Seelenleben des Menschen zugrunde liegt, so der soziale Organismus dem Leben der Menschheitskultur. Jener Leibesorganismus mit seinen drei Gliedern - dem Nerven-Sinnes-System, dem rhythmischen System, dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, ist so eingerichtet, daß sich das Seelenleben mit seinem Vorstellen, Fühlen, Wollen auf sie zu stützen vermag. [3] Welche Vorstellungen, welche Empfindungen, welche Wollungen die Seele bewegen, wird gewiß zunächst vom Leibesorganismus angeregt, doch dann mehr und mehr von der Geistseite der Menschenseele her bestimmt. Je mehr das Geist-verbundene Menschen-Ich sein Seelenleben selbst führt, um so mehr erweisen sich die Leibessysteme mit ihren Organen als - sozusagen - selbstlose Grundlage dieses Seelenlebens.

Was soeben geschildert wurde, vermag eine fruchtbare Gedankenorientierung zu geben, wenn es sich darum handelt, eine Elementarlehre des sozialen Organismus zu entwickeln. Sie wird von jener grundlegenden Entdeckung ausgehen können: der soziale Organismus liegt dem Leben der Menschheitskultur so zugrunde, wie der Leibesorganismus des einzelnen Menschen seinem Seelenleben. Der soziale Organismus muß so eingerichtet sein, daß er ein gesundes Kulturleben ermöglicht. [4] Er muß so gestaltet sein, daß er die Menschen in Zusammenhänge bringt, die es ihnen erlauben, das soziale Leben vernunftgemäß zu führen. Nicht darüber ist nachzudenken, was die Menschen im sozialen Leben tun sollen - das liegt in ihren individuellen Entscheidungen -, sondern wie der soziale Organismus sachgemäß zu gestalten ist. Dieser hat sich bisher instinktiv entwickelt; mit dem Heraufkommen des industriellen Zeitalters und seinem Bewußtseins-Fortschritt aber wird von den Menschen gefordert, daß sie selbt diesen Organismus dem Fortschreiten der Kultur entsprechend wandeln.

Folgt das Besinnen dem hier entwickelten Gedanken, so bemerkt es, daß die Gestalt, die der soziale Organismus gegenwärtig zeigt, der Kulturentwicklung nicht angepaßt ist und daß alles Bemühen, die schweren Störungen des gegenwärtigen sozialen Lebens durch Maßnahmen, welcher Art auch immer, unmittelbar anzugehen, hoffnungslos bleiben muß, ehe nicht der soziale Organismus so gestaltet ist, wie es dem gegenwärtigen Zustand der Kulturmenschheit entspricht.

Man mag, was bisher im Verfolg des Gedankenweges ausgesprochen wurde, vorerst als Hypothese gelten lassen. Ihr Sachgemäßes wird sich daran zeigen, daß es sich mit dem Charakter einer Ideenganzheit erfahren läßt und durch seine Fruchtbarkeit bewährt.

Das Vorgegebene

Das Gefüge des sozialen Organismus, wie es der heutigen Stufe des Menschentums entspricht, ergibt sich aus den zutage liegenden Phänomenen dann, wenn man drei axiomatische Gegebenheiten beachtet. »Axiome« meint hier Aussagen, welche unmittelbar einleuchten und im Rahmen der Soziologie keiner weiteren Begründung bedürfen. Es handelt sich um das Gestalt-Axiom, um das Demokratie-Axiom und um das Freiheits-Axiom. Das Gestalt-Axiom hat es mit der Gestalt des sozialen Organismus zu tun, wie sie sich von der Vergangenheit her in die Gegenwart herein entwickelt hat. Das Demokratie-Axiom umschließt das Fordern der Gleichheit im Rahmen zwischenmenschlicher Rechtsvereinbarungen. Das Freiheits-Axiom fordert das Erfüllen dessen, was aus der Zukunft auf die Kulturmenschheit zugekommen ist: Daß nämlich der erwachsene Mensch die Möglichkeit freien Handelns habe, - daß es heute keine andere Quelle fruchtbaren Handelns mehr gibt als die sich selbst bestimmende Individualität. [5]

Was die Gegebenheiten der heutigen sozialen Welt bei den Kulturnationen zeigen, wenn man sie von dem Gesichtspunkt jener drei Axiome her betrachtet, kann man die Freiheitsgestalt des sozialen Organismus nennen. Man versteht dieses Gedankenbild dann richtig, wenn man sieht, wie es, ohne zunächst die Tatsachenwelt zu ändern, dieser eine jenen Axiomen entsprechende Grundlage schafft. Anders ausgedrückt: es werden durch dieses Gedankenbild die Zusammenhänge der Tatsachenwelt in Begriffen beschrieben, die wesensgemäß sind. Welche Konsequenzen für das praktische Tun dann sich ergeben, wenn diese Begriffe erkannt und hinlänglich Allgemeingut geworden sind - wenn also eine gesunde Grundlage für das soziale Geschehen da ist -, das muß man schlechthin abwarten.

Für die Elementarlehre des sozialen Organismus bilden die genannten drei Axiome das Vorgegebene, das in ihrem Rahmen keiner Begründung bedarf. Es findet seine Begründung im Rahmen der Anthroposophie als der Wissenschaft, welche das Menschenwesen umfassend zu beschreiben vermag. Dieser Sachverhalt erklärt, warum die soziale Problematik, insofern sie die Ganzheitsordnung betrifft, ohne den Beistand anthroposophischer Orientierung nicht gelöst zu werden vermag. Wenn im Folgenden jene Elementarlehre des sozialen Organismus skizzenhaft umrissen wird, so werden daher Gedanken eingeflochten sein, welche in der Menschenkunde der Anthroposophie wurzeln.

Das Gestalt-Urbild

Man kann den sozialen Organismus als den Erdenort betrachten, auf welchem sich die Menschenseelen, die durch das Tor der Geburt ins irdische Dasein strömen, sich begegnen und sich aufgefordert finden, miteinander ein soziales Ganzes zu bilden, bis sie wieder durch das Tor des Todes den Erdenschauplatz verlassen. Der erwachsene Mensch findet in dem sozialen Organismus das Feld seines Wirkens, und dieses Wirken hat im Laufe der Kulturentwicklung insofern den Charakter des Sozialen angenommen, als es nurmehr im Miteinander und Füreinander zu geschehen vermag. Im Besinnen hierauf zeigt sich dem Blick jenes Wirkensfeld seinem Wesen nach polar gegliedert: in das Arbeitsfeld und in das Bedarfsfeld. Das Miteinanderwirken im Arbeitsfeld erfährt seinen Sinn im Schaffen dessen, wonach das Bedarfsfeld verlangt.

Das Arbeitsfeld aber, wie es sich in der heutigen Industriegesellschaft herausgebildet hat, zeigt eine besondere Struktur: ein durchgehendes Verbundensein arbeitsteilig wirkender Arbeitsstätten, die - den Tatsachen nach -ein Ganzes bilden. Es ist notwendig, zu betonen: »den Tatsachen nach«, weil das Handhaben heute weitgehend so geschieht, als ob jede einzelne Arbeitsstätte für sich wirkt. Dieser Ganzheit des - den Tatsachen nach - durchgehend assoziierten Arbeitsfeldes steht das Bedarfsfeld, für welches jenes wirkt, gegebenüber; dessen einzelne Zellen zeigen demgegenüber den Charakter privater Haushalte. -Damit ist ein erster Begriff gewonnen, mit welchem gegenwärtig die Gestalt des sozialen Organismus bei den Kulturnationen beschrieben werden muß.

Ein zweites, ebenfalls in sich polares Begriffspaar zeigt sich, wenn nun der Blick - wiederum das Ganze im Charakteristischen umfassend - auf das dynamische Geschehen gelenkt wird, welches sich zwischen jenen beiden Bereichen, dem Arbeitsfeld und dem Bedarfsfeld, abspielt. Wiederum wird ein Menschenkundliches betrachtet werden müssen: Jeder einzelne im Arbeitsfeld Tätige steht mit seinem Ich-Wesen in der Polarität zwischen Innenwelt und Außenwelt: aus der Innenwelt, der »Geistwelt«, sind ihm seine Fähigkeiten im Gefolge vorgeburtlicher Entwicklung als Anlagen in die Wiege gelegt; durch Erziehung und Selbsterziehung entwickelt, vermögen sie nun aus der Innenwelt heraus zu wirken. Aus der Außenwelt, der Natur, aber ist ihm die Leiblichkeit und alles, was ihn im Erdendasein umgibt, gefügt. Jede Arbeit also, welche der einzelne innerhalb des geschilderten Arbeitsfeldes vollführt, weist ein polares Geschehen auf. Die Arbeit wird geleitet von den Fähigkeiten, und: die Arbeit ergreift die Natur - mindestens die eigene Leiblichkeit. Auf diesen fundamentalen Sachverhalt weist Rudolf Steiner gleich in den ersten Vorträgen seines Nationalökonomischen Kurses (1922) hin. [6] Im Besinnen dieses Sachverhaltes muß man von zwei einander polar zugeordneten und von innen nach außen gerichteten Wirtschaftswerten sprechen: von »Fähigkeitswerten« und »Naturwerten«, wobei der Satz gilt: Jedem Fähigkeitswert entspricht genau ein Naturwert.

Jetzt wird man die Einsicht in das polare Geschehen, das sich bei jeder Menschenarbeit begibt, mit der Einsicht in die polare Struktur des Gesamtwirkensfeldes zusammenfassen können, und man bemerkt dabei das Fruchtbare jenes Unterscheidens der beiden »Wirtschaftswerte«. Man sieht, wie ein ständiger Strom der Gesamtheit aller Fähigkeitswerte in das Arbeitsfeld hineinfließt, dort das Erzeugen der entsprechenden Naturwerte im Gefolge hat, die letzten Endes alle auf den Strom der für das Bedarfsfeld gewirkten Naturwerte, der Konsumwerte, ausgerichtet sind. (Siehe hierzu die Bemerkung am Schluß.)

Die Ganzheitstigur, die sich im Zusammenschauen des Daseinsbereiches von Bedarfsfeld und Arbeitsfeld und der beiden Werteströmungen ergibt, kann man als Bild des Wirschaftslebens des sozialen Organismus betrachten. Dabei wird man die Rolle gewahr, die das Geld für das Leiten des Stromes der Fähigkeitswerte und des Stromes der Konsumwerte spielt. Das Geld bringt, gleichsam im Gegenstrom, einerseits das Verpflichten der im Arbeitsfeld Tätigen für den Einsatz ihrer, Fähigkeiten in der Arbeit zum Ausdruck, andererseits das Berechtigen aller dem Bedarfsfeld Angehörenden zum Bezug der geschaffenen Konsumwerte. Gewiß: der Geldstrom muß in sich zurücklaufen, wenn die Stabilität seiner Eigenschaft als Wertmesser gewahrt bleiben soll. Entscheidend für ein wesensgemäßes Verständnis jedoch ist, daß der Geldstrom mit dem geschilderten Verpflichten und Berechtigen die gewichtigsten Rechtsvereinbarungen im sozialen Daseinsfeld zum Ausdruck bringt. Das Rechtsleben des sozialen Organismus greift mit Hilfe des Geldes in das Wirkensfeld ein.

Nun bemerkt man, daß der soziale Organismus außer der Sphäre des Wirtschaftslebens und außer der Sphäre des Rechtslebens, welche den Geldkreislauf in sich birgt, eine dritte Sphäre umschließt: diejenige, in welcher aus den Gedanken und Initiativen der Menschen, aus ihren Fähigkeiten heraus das Wirken im Arbeitsfeld Sinn und Ziel erfährt. Man kann - Rudolf Steiner folgend diese dritte Sphäre des Geistesleben des sozialen Organismus nennen. Damit ist im ersten Ansatz ein allgemeiner Bildbegriff des sozialen Organismus gewonnen. In der folgenden Bildskizze findet man seine Struktur angedeutet. Es zeigt sich dieser Begriff als ein Gestalt-Urbild, welches sich bei den heutigen Industrieländern in verschiedener Weise verwirklicht hat. - Versucht man nun, dieses Gestalt-Urbild - in welchen der heute existierenden Staatsgebilden auch immer - zu verifizieren, so bemerkt man bei ihnen allen drei schwerwiegende Mängel:

Der erste Mangel: Der herrschende Geldbegriff entspricht nicht dem des Gestalt-Urbildes; er ist dem Wirtschaftsleben und nicht dem Rechtsleben eingefügt. Er stammt aus vergangenen tauschwirtschaftlichen Strukturen und ist innerhalb der heutigen Gestalten der sozialen Organismen systemfremd. So ist es völlig ausgeschlossen, den Krankheitszustand der heutigen Gesellschaft in den Griff zu bekommen, solange nicht der Geldbegriff und mit ihm der Kapitalbegriff dem Urbild entsprechend ins Rechte gedacht sind. - Man kann den gleichen Mangel auch anders schildern: Das Arbeitsfeld ist - jedenfalls bei den westlichen Kulturvölkern - nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten gestaltet, obwohl es sich längst dem Gestalt-Urbild entsprechend zu einer Ganzheit gewandelt hat, welche assoziative Gestaltungen fordert.

Der zweite Mangel: Das Freiheits-Axiom - man kann es auch das Prinzip der Selbstverwaltung nennen - ist nirgendwo durchgehend verwirklicht. Nicht nur im Osten, auch im Westen herrscht die Tendenz zur Zentralverwaltung staatlicher oder konzernmäßiger Art.

Der dritte Mangel: Das Demokratie-Axiom, das Prinzip der Rechtsgleichheit, hat in wesentlichen Zusammenhängen der sozialen Organismen keinen Eingang gefunden: überall da, wo Staatsmacht oder Wirtschaftsmacht es aus der Struktur der Organismen heraus nicht zulassen können.

Die beiden zuletzt genannten Mängel lassen sich, wie man unschwer gewahr wird, auf keine Weise beheben, solange der erstgenannte Mangel nicht beseitigt ist. Es steht gar nicht zu erwarten, daß aus Sozialwesen, welche nach überholten, tauschwirtschaftlichen Ordnungen entstammenden Begriffen gestaltet sind, gesunde Verhältnisse erwachsen können.

Die Freiheitsgestalt

Im vorigen wurde die Gestalt des sozialen Organismus in allgemeinster Weise entwickelt. Aber diese Gestalt, die doch urbildlichen Charakter trägt, in den faktischen Staatengebilden als Ordnungsgefüge aufzufinden, gelingt nur bis zu einem gewissen Grade. Der erstgenannte Mangel hat das Wesensgemäße dieser Gestaltungen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Darum ist es zweckmäßig, das Gestalt-Urbild zunächst als »konkrete Utopie«, befreit von jenen drei Mängeln, in die bestehenden Ordnungen hineinzusehen, also zu fragen: Wie würde das faktische Geschehen sich selbst verstehen müssen, wenn es dem Gestalt-Urbild des sozialen Organismus gemäß aufgefaßt wird? Ist es gelungen, diese Frage zu beantworten, dann vermag man im Vergleichen des mit üblichen Begriffen Beschriebenen und des mit wesensgemäßen Begriffen Gefaßten zu erkennen, was gesund und was krank an dem Gefüge ist und in welcher Richtung der soziale Organismus sich zum Gesunden hin wandeln wird, wenn er von mündigen Bürgern in seiner »Wahrheit« erkannt und gestaltet wird.

Bei diesem Bemühen, das Gestalt-Urbild in die konkrete Tatsachenwelt hineinzusehen, wird man die Aufmerksamkeit zunächst auf die Sphäre des Wirtschaftslebens mit ihrer Gliederung nach Bedarfsfeld und Arbeitsfeld richten und bemerken, in welcher Weise das Arbeitsfeld mit seiner Fülle von einzelnen Arbeitsstätten zu einem Ganzen integriert ist. Man sieht, wie es die Bankorgane verschiedenartiger Prägung sind, die das Assoziiertsein der Arbeitsstätten bewirken - besser gesagt: vermitteln. Die Bankorgane zeigen sich wiederum miteinander zu einem ganzheitlichen System assoziiert. Jedes dieser Bankorgane läßt eine polare Ordnung erkennen: Eine Abteilung solchen Organs hat es mit dem Leiten der »Fähigkeitswerte« zu tun, ist also sozusagen nach dem Geistesleben des sozialen Organismus ausgerichtet. Eine andere Abteilung verflicht die dem Bankorgan angeschlossenen Arbeitsstätten zu einem assoziativen Gebilde und ist selbst in das assoziative Geflecht der Gesamtheit aller Bankorgane eingefügt. Diese Abteilung zeigt sich also schwerpunktmäßig auf das Wirtschaftsleben hin ausgerichtet.

Es sei das System der erstgenannten Abteilungen aller Bankorgane das »Kreditbank-System« genannt. Seine Aufgabe besteht darin, mit der Herausgabe von Geld an die ihm angeschlossenen Arbeitsstätten die Verpflichtung zu bestätigen, welche die dort Tätigen für das Versehen ihrer Arbeitsaufgabe übernommen haben. Es gehört zu ihrer Aufgabe, daß die Leiter der Kreditbanken allen Initiativen, die im Hinblick auf das Erfüllen von Bedarfsansprüchen auftreten, die Möglichkeit geben, das Beabsichtigte auszuführen, - ja, zu ihrer Sorgepflicht gehört es, allen Arbeitswilligen einen sinnvollen Einsatz ihrer Fähigkeiten im Arbeitsfeld zu ermöglichen. Es sind - so gesehen - die Leiter der Kreditbanken Gestalter des sozialen Ganzen, die wichtigsten »Künstler sozialer Plastik« im Hinblick auf das Arbeitsfeld der im Staatszusammenhang vereinten Menschen mit ihren individuellen Möglichkeiten.

Das System der anderen Abteilungen der Bankorgane - man kann es das »Assoziationsbank-System« nennen - hat nun dafür zu sorgen, daß die nach Wechselart hinausgehenden Gelder der Kreditbanken kurzfristig zu diesen zurückgelangen können. Das tun sie, indem sie durch Preisvereinbarungen innerhalb ihrer Assoziationen dafür sorgen, daß hinreichende Geldüberschüsse der ihnen angeschlossenen Arbeitsstätten bei ihnen eingehen, welche sie an diejenigen Assoziationsmitglieder leiten, deren Geldeinnahmen - im Hinblick etwa auf Investitionen oder auf kostenfreie Abgabe ihres Erzeugten - nicht hinreichen, um die Kredite abzudecken. Die Finanzierung des öffentlichen Bildungswesens, des öffentlichen Verkehrswesens, der Naturpflege, der Entwicklungshilfsaktionen beispielsweise kann sinnvoll in diesem assoziativen Verfahren aus dem Wirtschaftsleben selbst heraus gemeistert werden. Diese Bankorgane sorgen für ein organisches Gleichgewicht zwischen den Arbeitsstätten der »materiellen« Produktion und denjenigen, welche auf die kulturellen Aufgaben von Bildung und Naturpflege ausgerichtet sind. Auch haben sie für das Gleichgewicht zu sorgen zwischen dem Geldstrom, der vom Arbeitsfeld an das Bedarfsfeld, insbesondere als Einkommen der privaten Haushalte, herausfließt, und dem Geldstrom, der über die Preise von Konsumwerten zurückströmt. Die Assoziationsbankorgane vollführen dies durch Absprachen innerhalb ihrer Assoziationen. Auch hierbei wird ein assoziatives Geflecht des ganzen Bankensystems und von den Leitern dieser Bankorgane wiederum ein hohes Maß sozialkünstlerischen Könnens gefordert.

Man würde das Geschilderte ganz mißverstehen, wenn man meinen wollte, es handle sich um etwas, das neu eingerichtet werden müsse. Alles, was beschrieben wurde, geschieht auch heute; nur wird es mit ganz anderen Begriffen gefaßt und gehandhabt. Man hat, um sich hiervon zu überzeugen, nur nötig, beispielsweise die Orte aufzusuchen, an denen heute dieses Verpflichten zum Einsatz der Fähigkeiten in der Arbeit faktisch vor sich geht. Man bemerkt dann, wie es sich durchaus mit den Begriffen des Gestalt-Urbildes beschreiben läßt. Aber man sieht zugleich, wie die überholten Geld- und Kapitalbegriffe immer mehr dazu zwingen, daß die Aufgabe, die - vom Urbilde her gesehen - dem System der Kreditbanken obliegt, von staatlichen oder wirtschaftlichen Zentralverwaltungen ausgeübt wird. Man wird gewahr, wie die Entwicklung dahin geht, das selbstverantwortliche Schaffen der Menschen einzuengen und das Wirken freien Menschentums auszuschließen.

So erhebt sich die brennende Frage: In welcher Gestalt muß sich das Gestalt-Urbild des sozialen Organismus verwirklichen, wenn in ihr durchgehend »Freiheit« zu walten vermag, wenn also ein selbstverantwortliches Handeln aller Tätigen aus der Erkenntnis des Ganzen heraus den Charakter des Arbeitsfeldes maßgebend bestimmen soll?

Von dieser Fragestellung her wird man gewahr, wie in den westlichen Kulturnationen sich das Funktionssystem, welches erlaubt, das »Freiheit-Axiom« zu erfüllen, gleichsam instinktiv im Schoße des »Kapitalismus« entwickelt hat: In den »Aufsichtsräten« der Kapitalgesellschaften sind Gesprächsgremien vorgebildet, in welchen die Erkenntnisse über das »Ganze« gewonnen werden können, so daß die für das Leiten der betreffenden Unternehmen Verantwortlichen aus weitgehender Überschau der Zusammenhänge heraus selbstverantwortlich zu handeln vermögen. Betrachtet man diese Gremien im Gefüge des Gestalt-Urbildes, so bemerkt man, daß in ihren Gesprächen Macht- oder Gewinn-Interessen keine Rolle spielen können, daß diese Gespräche vielmehr im wesentlichen auf das Erkennen der besonderen Aufgabe der betreffenden Arbeitsstätte im Rahmen des sozialen Ganzen ausgerichtet sein werden. Man sieht, wie sich diese Gremien, die man zweckmäßig nun Kuratorien nennen sollte, mit ihrer mannigfachen personellen Verflechtung als ein Funktionssystem aus der Sphäre des Geisteslebens des sozialen Organismus herausheben. In diesem System der Kuratorien spielen, wie man bemerken kann, die leitenden Persönlichkeiten der Kredit- und Assoziationsbanken und deren Kuratorien eine besondere, das Arbeitsfeld überschauende Rolle. Durch das Teilnehmen verantwortlicher Persönlichkeiten des Auslandes an den Erkenntnisgesprächen der Kuratorien wird der internationalen Wirtschaftsverflechtung Rechnung getragen. (Siehe auch die Bemerkung am Schluß.)

Das Demokratieproblem

Es bleibt dem skizzenhaften Schildern des sozialen Organismus in seiner Freiheitsgestalt noch übrig, einen Blick auf das Verwirklichen des Axioms der Rechtsgleichheit zu werfen, das zwar von allen Kulturnationen anerkannt ist, aber nirgendwo recht verwirklicht zu werden vermag, solange der soziale Organismus nicht nach den ihm wesensgemäßen Begriffen gestaltet ist. Das Charakteristische des Demokratieprinzips läßt sich mit wenigen Worten schildern: Es handelt sich schwerpunktmäßig darum, das Beauftragen für jede Art von Aufgabe im gesamten Bereich des sozialen Ganzen in einer Art zu vollziehen, die das Gleichgewichtige aller derer berücksichtigt, welche dem Aufgabengebiet eingeschlossen sind. Geeignete Persönlichkeiten werden dem Wesen der Sache nach aus dem Geistesleben, im besonderen aus dem System der in Betracht kommenden Kuratorien heraus vorgeschlagen, das Beauftragen erfolgt dann durch die Vertrauensbekundung der geschilderten Art. -Das dem Rechtsleben eigene parlamentarische Funktionssystem hat es - nachdem alle Arbeitsstätten in das Feld der assoziierten Zusammenhänge, die sich selbst verwalten, eingefügt sind - insbesondere mit dem Vertrauengebenden Bevollmächtigen der Persönlichkeiten zu tun, welche die Bankorgane leiten; die Vorschläge kommen ihm aus dem Funktionssystem der Kuratorien, aus dem »Geistesleben«. - Der Charakter des Rechtsgliedes des sozialen Organismus in seiner Freiheitsgestalt mag aus diesen wenigen Bemerkungen zunächst hinreichend deutlich werden. In einem Entwurf einer Einführung in »zeitgemäße Wirtschaftsgesetze« [7] wurde vom Verfasser auszuführen versucht, welche rechtlichen Konsequenzen sich aus dem Wirklichwerden eines sozialen Organismus ergeben, dem die geschilderten Axiome zugrunde liegen.

Die Elementarlehre des sozialen Organismus als Grundlage meditativen Besinnens und politischen Wirkens

Der soziale Organismus wird als »Idee«, erkannt, als ein in sich selbst gründender Begriffsorganismus. Wie jede wahre Idee ist auch diese nicht aussprechbar. Man kann nur die Wege angeben, die zu ihrem Erfahren führen. So fordert denn dieser Erkenntnisgegenstand ein meditatives Verfahren für das gesicherte Erkennen. Rudolf Steiner nannte es gelegentlich [8] eine »charakterisierende Methode«, die mit dem Eintauchen des denkenden Bemühens in den Tatsachenbereich zu einem ersten Begriff kommt, den es dann bei erneutem Eintauchen in die Erscheinungen zu »verifizieren« und zu »modifizieren« gilt. Bei den Gedankenwegen, welche der vorliegende Aufsatz nimmt, wird man vielleicht dieses Verfahren bemerken können.

So vermag die Elementarlehre des sozialen Organismus zwei polar aufeinander bezogenen Aufgaben zu dienen, deren Gewichtigkeit bedeutend ist: Sie verlangt danach, als Gegenstand meditativen Erkenntnisbemühens in die Allgemeinbildung aufgenommen zu werden; und sie gibt eine gesicherte Grundlage politischen Wirkens bei dem Bemühen, der sozialen Tatsachenwelt ein dem heutigen Menschentum gemäßes Ordnungsgefüge zu geben. Beide Aufgaben fordern den Einsatz des vollen Menschentums.

Bemerkung zum Abschnitt 3: Es gilt, die Begriffe mit Aufmerksamkeit zu bilden. So meint Fähigkeitswert nicht die Fähigkeiten, sondern die von ihnen geleitete Arbeit. Bei dem Begriff Naturwert gilt es zu beachten, daß alles ohne Ausnahme, was ein Mensch in der Arbeit für andere hervorbringt, im Verfolg des Gedankenweges, der zu diesem Begriff führt, ein »Naturwert« ist. Es kann dies beispielsweise ein Gedanke sein, den der Arbeitende doch nur auf der Grundlage seiner Natur-Leiblichkeit zu fassen und für andere vernehmlich kundzugeben vermag.

Bemerkung zum Abschnitt 4: Was zum System der Kuratorien dargelegt wurde, kann leicht unterschätzt werden. Es mag erlaubt sein, die Bedeutung dieser Sache durch einen Vergleich zu beleuchten. Als die Evolution der Menschheit eine gewisse Stufe erreicht hatte, schieden sich die höheren Tiere aus der Entwicklung aus; nahmen sie doch Gestalten an, die nicht mehr fähig waren, ein »Ich« in sich zu tragen - obgleich sie doch vom gleichen »Typus« mit den Menschen waren, aus dem gleichen »Gestalt-Urbild« hervorgingen. Den sozialen Organismen droht offenbar ein ähnliches Schicksal: Gestalten zu erlangen, die nicht mehr fähig sind, das menschliche Freiheitswesen in sich aufzunehmen. Von diesem Gesichtspunkt aus wird man die Frage anzugehen haben: Wie kann das Freiheitswesen gerettet werden vor dem Sturz der Sozietät in den Zentralismus? Da bemerkt man das weltgeschichtliche Format des Problems. Von da aus gewinnt solch ein Satz aus Rudolf Steiners »Kernpunkten der sozialen Frage« Gewicht: »Man sieht: die soziale Betätigung eines Menschen durch Kapital gehört in dasjenige Gebiet des sozialen Organismus, in welchem das Geistesleben Gesetzgebung und Verwaltung besorgt.« [9] Es kann sich da dem Besinnen jenes System der beratenden Kuratorien ergeben, die sich aus dem »Geistesleben« der Menschheit in das Gefüge des sozialen Organismus »organisch« hineinweben und das Handeln aus Einsicht in das Notwendige für alle Tätigen möglich machen.

Anmerkungen

[1] Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage, GA 23, insbesondere Kapitel II.
[2] R. Steiner, Westliche und östliche Weltgegensätzlichkeit, GA 83, Beginn des 10. Vortrags.
[3] R. Steiner, Von Seelenrätseln, Kapitel IV, GA 21.
[4] Zitat aus einem Aufsatz Rudolf Steiners im Juli-Heft 1919 der Zeitschrift »Soziale Zukunft« (GA 24): »Niemand sollte den Glauben haben, daß durch irgendeine soziale Einrichtung das entstehen kann, was er sich vielleicht als einen »Idealzustand« vorstellt. Was erreicht werden kann, ist der lebensfähige gesunde soziale Organismus. Was darüber hinausgeht, müssen die Menschen durch anderes finden als durch die soziale Gestaltung. Die Aufgabe dieser Gestaltung kann nicht darin liegen, das »Glück« zu begründen, sondern die Lebensbedingungen des gesunden sozialen Organismus zu finden.... Auch der natürliche gesunde Organismus schafft von sich aus nicht, was die Seele an innerer Kultur entfalten muß; ein kranker natürlicher Organismus verhindert sie daran. Und ein gesunder sozialer Organismus kann nur die Voraussetzungen schaffen für dasjenige, was die Menschen in ihm durch ihre individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse entwickeln wollen.«
[5] siehe Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, GA 4.
[6] siehe R. Steiner, Nationalökonomischer Kursus, GA 340, im 2. und 4. Vortrag.
[7] »Zeitgemäße Wirtschaftsgesetze - Entwurf einer Einführung«, 2. Auflage, Achberg 1980.
[8] Rudolf Steiner, Nationalökonomisches Seminar, GA 341, 31.7.22.
[9] Wie Anm. 1, im Kapitel III.


Quelle: Die Drei, 05/1981, S.345-354