Es geht darum, Zukünfte täglich sichtbar zu machen

01.01.2009

Ein Interview von Geseko v. Lüpke mit dem globalen Zukunftsforscher Jakob v. Uexküll

[...] In mir hat sich langsam die Einsicht herausgeschält, dass wir eine Lobbyorganisation für die Interessen der Umwelt, der Zukunft und der dann lebenden Generationen brauchen. Wir sind zwar demokratisch vielfältig vertreten. Wir können als Bürger wählen, wir haben Organisationen, die uns als Verbraucher, als Arbeiter, als Arbeitgeber vertreten. Aber es gab bislang keine starke Organisation, die uns jetzt in unserer Eigenschaft als Mitglieder des globalen Ökosystems vertrat und welche die Interessen der Zukunft vertrat. Diese Idee führte schließlich zur Gründung des »Weltzukunftsrates«, der im Mai 2007 erstmals einberufen wurde. Die 50 Mitglieder des World Future Council sind Pioniere und Visionäre aus der ganzen Welt.[1] Sie kommen aus Regierungen, Parlamenten, der Zivilgesellschaft, der Geschäftswelt, der Wissenschaft und der Kultur. Sie wurden nach einem weltweiten Konsultationsprozess aus mehr als 500 vorgeschlagenen Persönlichkeiten ausgewählt, mit dem Ziel, ein möglichst breites Spektrum von Wissen und Weisheit zu verbinden. Die Mitglieder behaupten nicht, irgendjemand anderen zu vertreten. Aber sie bilden zusammen eine Stimme, die unsere gemeinsame Verantwortung und unsere gemeinsamen Werte als Bürger dieser Erde betont und den Rechten zukünftiger Generationen Gehör verschafft. Wir haben ja bisher keine »earth community«, keine Weltgemeinschaft, sondern wir haben eine globale Nicht-Gemeinschaft von individualisierten Bürgern, die aufgefordert werden, immer miteinander zu konkurrieren. Also müssen wir dem Globalisierungsmodell -ich sage immer des »Competition for the cheapest« - ein Globalisierungsmodell entgegensetzen, was auf Kooperation beruht und auf »cooperation for the best«.

Ist das, was Sie nun auf internationaler Ebene umsetzen, schon einmal national gelungen?

In der Schweiz ist seit Jahren damit experimentiert worden, einen Zukunftsrat zu schaffen. Zuerst dachte man an eine Art Dritte Kammer der Legislative, die auch über ein Veto zu tagespolitischen Entscheidungen verfügen sollte. Das ist bisher nicht gelungen. Aber man hat mittlerweile dort angefangen, auf kantonaler Ebene Zukunftsräte einzuführen, die auch in der Verfassung verankert sind. Da steht sinngemäß: »Die Regierung wird bei der Vorbereitung auf die Zukunft durch den Zukunftsrat unterstützt und beraten.« Das sind also Institutionen, welche von den Regierungen und dem Parlament des Kantons berücksichtigt werden müssen. Sie haben keine Beschlussmacht, aber die Regierung muss sich rechtfertigen, wenn sie ihre Einwände ignoriert. Ich glaube, dieses Modell - kein Vetorecht, aber starken Einfluss - funktioniert auf lokaler und regionaler Ebene gut. Es gibt in deutschen Städten, zum Beispiel in München, auch die Initiative für einen »Münchner Zukunftsrat«. Es gibt in einigen Ländern auch Zukunftsräte durch freistehende NGOs, wobei man da das Gefühl hat, dass der Einfluss nicht größer sein wird als bei irgendeiner anderen NGO. Am besten wären viele Arten institutioneller Vertretung der zukünftigen Generationen. Zukunftsräte sollten dabei nicht nur irgendwelche lose beratenden Gremien sein, sondern Einrichtungen, die zwar keine formelle politische Macht haben, aber die doch von den Machthabenden ernst genommen werden. Sicher wären auch nationale Zukunftsräte wichtig. Dabei wäre eine Verankerung dieses Ansatzes durch Ausschüsse für Zukunftsfragen in den Parlamenten wichtig. Damit sie bei der nächsten Wahl nicht von vorne anfangen müssen, könnte man sich vorstellen, dass einige von zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Wirtschaftsverbänden für mindestens acht Jahre ernannt werden, um dann auch zu längerfristigem Denken zu animieren.

Sind die Zukunftswerkstätten von Robert Jungk regionale Keimzellen eines solchen Ansatzes?

Robert Jungk war ja schon vor vielen Jahren einer unser Preisträger. Seine Zukunftswerkstätten waren auf der Idee gegründet, dass Menschen lernen, dass die Zukunft nicht irgendwie vorgeschrieben ist, sondern von uns selber erschaffen wird. Damit brachte er auch den Gedanken ein, dass die Zukunft nicht erst mit der nächsten Generation beginnt, sondern schon in der nächsten Sekunde oder Minute. Er machte als einer der ersten klar, dass es nicht darum geht, die Probleme von heute zu ignorieren und nur über das zu diskutieren, was in dreißig, vierzig oder 500 Jahren passiert. Die Zukunftswerkstätten gaben den Menschen das Gefühl, dass es eine andere Zukunft als das globale Chaos gibt, dass wir auch Einflussmöglichkeiten haben und dass wir die Grundvoraussetzungen für die Zukunft auch selbst in die Hand nehmen müssen. Was wir jetzt versuchen, steht schon in dieser Tradition.

Gibt es für einen solchen Zukunftsrat historische Vorbilder?

In der Welt unserer Vorfahren gab es tatsächlich in vielen Zivilisationen solche Einrichtungen. Das war im vorkolonialen Indien ganz formell organisiert. Da gab es »Räte der Seher in die Zukunft«, die sogar eine Art Vetorecht über politische Entscheidungen mit Auswirkungen auf die Zukunft hatten. In anderen Weltteilen war das mehr informell. Bei den Ureinwohnern Nordamerikas gab es einen Ältestenrat, der sich um die Folgen der gefassten Beschlüsse für die nächsten sieben Generationen kümmern musste. Dieses Modell ist heute noch als »Seventh Generation Principle« bekannt. In Afrika waren es neben der jetzt lebenden jene Generationen, die vor uns und nach uns lebten, die auch in den Beschlussfassungen respektiert und bedacht wurden. Heute aber, wo unsere Beschlüsse ebenso wie unsere Unterlassungssünden Auswirkungen haben, die geografisch und zeitlich viel umfassender sind als damals, hatten wir bisher keine solchen Institutionen. Wir leben ja in einer Zeit, wo sogar geologische Zeiträume moralisch relevant sind. Denn so lang können ja die Folgen unserer Handlungen reichen. Aber es gab kein Sprachrohr, keine Institution, welche die Interessen der zukünftigen Generationen vertrat. Das haben wir versucht zu schaffen.

Ist der Rat so etwas wie ein weltweites nicht-regierungsamtliches Gewissen oder eher eine Zusammenstellung vieler lokaler Lösungen, die nun gebündelt werden, damit sie auf eine globale Ebene gehoben werden können?

Ich glaube, es gibt viele Vorstellungen, was der Weltzukunftsrat machen könnte, wofür er aber zurzeit noch gar nicht die Ressourcen hat. Ich kann nur davon ausgehen, was der Rat im Augenblick tut. Und da gibt es zwei Säulen. Das eine ist die Aufgabe, zukünftigen Generationen eine Stimme zu geben. Das andere Standbein des WFC ist diese Identifizierung und Beihilfe bei der Durchsetzung von »best policies«, also den besten politischen Lösungen. Die erste Säule hat durchaus politische Vorläufer in der Geschichte: Es gab während der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung gegenüber England den Slogan »no taxtion without representation« »keine Steuern ohne das Recht auf Mitbestimmung« vertreten zu sein. Heute besteuern wir quasi zukünftige Generationen und ihre Lebenschancen, aber sie haben dabei keine Stimme. Und der WFC hat es sich zur Aufgabe gemacht, immer wieder zu prüfen, ob das, was wir kollektiv derzeit machen, erdgemäß und zukunftsgemäß ist. Und wenn dem nicht so ist, Alarm zu schlagen.

Nützt das ohne jegliches Druckmittel der Exekutive und der Gerichte?

Er kann solche Handlungen gegen die Zukunft nicht abschaffen, aber er kann Öffentlichkeit herstellen und Alternativen aufzeigen. Zudem sind wir durchaus auch schon in Gesprächen mit den Richtern am Internationalen Gerichtshof in Den Haag darüber, ob man Verhalten, das zukunftsgefahrdend ist - also »Verbrechen gegen zukünftige Generationen« - als kriminell ahnden oder ächten könnte. Das wird sicherlich noch recht lange dauern, bis tatsächlich einmal irgendwelche »Zukunftsverbrecher« vor Gericht gestellt werden. Aber ich glaube, die moralische Wirkung einer solchen Idee wird schon viel früher eintreten. Aktuell aber steht die Analyse und Präsentation von schon vorhandenen Lösungsansätzen im Mittelpunkt der Arbeit. Wir identifizieren beispielsweise, wo es die beste solare Bauverordnung in einer Stadt gibt - das ist die von Barcelona. Wir finden heraus, wo es das beste Verkehrsmodell in einer armen Großstadt gibt, die sich auch keine U-Bahn leisten kann - das ist das Modell von Bogota in Kolumbien. Und dann können sich andere Städte und Regionen an diesen Lösungswegen orientieren.

Welche Erfolge konnten Sie bislang verbuchen?

Wir haben uns angesichts der globalen Erwärmung besonders auf die Verbreitung erneuerbarer Energien konzentriert und festgestellt, das beste effektivste Gesetz für die Verwendung von regenerativen Energien ist das aus Deutschland stammende Einspeisegesetz. Also ging es darum, das so schnell wie möglich zu verbreiten. Das wird jetzt schon in 40 Ländern und Regionen praktiziert. Wir haben die erste tiefgreifende Studie darüber publiziert, wir haben mit dem BBC zusammen einen Film gemacht, der von 150 Millionen Haushalten gesehen werden konnte, wir haben Publikationen und Hearings gemacht. Wir organisieren Expertentreffen mit Parlamentariern aus verschiedenen Ländern und haben eine spezielle Webseite, wo Parlamentarier und Juristen sich ansehen können, was es schon an Gesetzesmodellen gibt. Dann können sie sich ein Modell zusammenstellen, was für ihr Land am besten passt, und es einbringen. Wir haben erlebt, dass man so recht schnell Fronten aufbrechen kann. Großbritannien hatte ein anderes Gesetz, wollte das auch nicht ändern - aber es war offensichtlich schlecht. Großbritannien nutzt 1/15 der Windenergie, die Deutschland produziert, obwohl in Großbritannien aufgrund der Insellage natürlich mehr Wind weht. Wir haben uns mit einem britischen Parlamentarier zusammengetan, bald waren es 35. Die öffentliche Kampagne dazu wurde besonders von »Friends of the Earth« gemacht. Und innerhalb eines Jahres hat die britische Regierung nachgegeben und plant jetzt ein Einspeisegesetz. Ich glaube, gerade diese Zusammenarbeit von Kampagnen der großen NGOs und der speziellen Arbeit, die der WFC macht, ist ein sehr spannendes Modell. Und ich hoffe, dass es uns gelingen wird, das weiter auszubauen. Und bei der anderen Hälfte der Weltbevölkerung, die ohne Netzanschluss lebt, propagieren wir weltweit eine andere Lösung, die der alternative Nobelpreisträger Dipal Barua aus Bangladesh entwickelt hat: nämlich freistehende Solarmodule, die mit Mikrokrediten finanziert werden.

Das klingt nach einem Marsch in kleinen Schritten durch die Institutionen und einer mühsamen Überzeugungsarbeit von Parlamentariern. Nimmt das die Öffentlichkeit als Erfolg des Weltzukunftsrates wahr? Oder benötigen Sie die großen Aktionen - das Kapern einer Ölplattform wie bei Greenpeace -, um als Weltgewissen wahrgenommen zu werden?

Sicherlich hat Greenpeace mehr Publizität. Und sicherlich sind Gesetze für viele Menschen langweilig. Aber das ist ja gerade der Grund, weshalb Martin Luther King sagte, sie »bewegen nicht das Herz, aber sie behindern die Herzlosen«. Wenn wir nicht die richtigen Gesetze haben, können wir nicht genug bewirken und bleiben auf Dauer Dissidenten. Ich habe nie diese Trennung zwischen der politischen und der gesellschaftlichen Ebene gesehen. Für mich war das immer eins. Und wir müssen uns fraglos mehr politisch engagieren. Wir können nicht diese Wand zwischen Zivilgesellschaft und Politik aufstellen. Da muss mehr Durchlässigkeit entstehen. Wir merken, dass Parlamentarier oft gar nicht die Ressourcen haben, um zu wissen, welche Lösungen es in anderen Ländern gibt. Wenn es uns gelingt, innerhalb eines Jahres in Großbritannien auf diesem zentralen Gebiet eine Gesetzesänderung zu erreichen, dann ist das auch kein kleiner Schritt. Auch in den USA, in Australien und Südafrika haben wir jetzt die Erfahrung gemacht, dass auf Grund unserer Arbeit solche Gesetze eingeführt werden. Mit mehr Ressourcen könnten wir dieses Modell auch auf andere Gebiete ausweiten: Wo gibt es z. B. die besten Ökosteuern? Auch das muss sich schnell verbreiten. Wir brauchen eine Öko-Effizienz-Revolution. Wir brauchen auf anderen Gebieten entsprechende Reformen, die es teilweise schon gibt: ein Grundrecht auf Wasser, ein Recht auf Lebensmittel, das es in mehreren brasilianischen Städten schon gibt. Mit freiwilligen Abkommen ist da wenig getan. Wir müssen das, was wir wollen, irgendwie auch gesetzlich verankern. Das sind alles sehr interessante Modelle, aus denen sich dann Modellgesetze entwickeln können. Man muss wegkommen von dem Glauben, dass solche lokalen Lösungen etwas Langweiliges und Unerhebliches seien. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind vielmehr ganz zentral, um Veränderungen zu erreichen. Wir müssen diese Strukturen der global governance vergrößern, wir müssen sie stärken. Und das ist eine ganz zentrale Rolle vom WFC, dass wir diese Herausforderung aus ethischer Sicht angehen und die praktische Umsetzung begleiten.[2]

Ist der Rat dann so etwas wie eine alternative UN, eine NGO im transnationalen Format als zivilgesellschaftliche Antwort auf die globalisierte Welt?

Wir sind keine Nichtregierungsorganisation. Bei uns ist ja die Zivilgesellschaft vertreten, aber es ist auch die Politik vertreten. Wir haben ein Mitglied, das als Umweltminister von Äthiopien aktives Regierungsmitglied ist. Wir haben Unternehmer und mehrere Parlamentarier dabei sowie Personen aus der Forschung, aus der Kultur und natürlich aus der Zivilgesellschaft. Es geht vielmehr darum, diese Grenzen zu überwinden und innovative Kräfte zu bündeln. Wir sind eine Institution, die unsere Werte als Bürger vertritt, nicht nur unsere Werte als Konsumenten. Wir sehen ja ganz genau: In der jetzigen Weltordnung hat ja nicht eine Deregulierung stattgefunden, sondern eine Umregulierung im Interesse einer kleinen reichen Minderheit von multinationalen Unternehmen. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass wir internationale Regeln schaffen, die im Interesse der großen Mehrheit der Bürger sind. Also ist das Ganze immer ein Prozess von der Diagnose bis zur Lösung.

Aber es geht mehr um moralischen Einfluss als um politische Programme?

Natürlich geht es um moralische, um ethische Macht. Aber die soll man nicht unterschätzen. Da gibt es ein riesiges Potenzial, das in der globalen Zusammenarbeit eigentlich nicht genutzt wird. In sehr vielen Ländern des Südens gibt es jetzt demokratisch gewählte Parlamentarier, die oft das Gefühl haben, dass sie weniger konsultiert werden als Nichtregierungsorganisationen und die sehr gerne bei zukunftsorientierten Initiativen mitmachen würden. Deswegen hatten wir den Gedanken, den World Future Council mit der Initiative des e-Parlaments zu verbinden, um die Parlamentarier der Welt elektronisch zu vernetzen. So könnten Parlamentarier aus vielen Ländern öffentlichkeitswirksam ihre Meinung kundtun. Außerdem könnten Kooperationen aufgebaut werden zwischen Parlamenten und dem Weltzukunftsrat. So etwas geht aber eben nur, wenn es eine bekannte, permanente Institution mit respektierten Persönlichkeiten und Pionieren gibt.

Ist es dabei ein Risiko, dass der Weltzukunftsrat über Sponsoren wie die Stadt Hamburg oder den Inhaber des Otto Versands finanziert wurde?

Der WFC ist eine Organisation von heute. Vor zwei, drei Jahren wäre das noch nicht möglich gewesen. Wir merken jetzt aber täglich, dass auch die Eliten erkennen, dass sie auf dem falschen Weg sind. Dass 50 Prozent der Finanzierung aus dem von der CDU regierten Hamburg kamen, zeigt ja, dass heute die politische Offenheit und das Interesse an solchen Lösungen da sind. Das erste Land, das bei uns anfragte, ob der WFC dort beratend für die Regierung tätig werden könne, war eins der konservativsten Ölscheichtümer im Nahen Osten. Und als ich den Berater des Kronprinzen fragte, ob ihnen unsere Vorschläge nicht viel zu radikal seien, da sagte er nur: »Nein, es geht um Lösungen. Und wir brauchen heute dringend Lösungen!« Die Verantwortlichen wissen, dass wir auf ein globales Chaos zusteuern, wenn wir so weitermachen und »business as usual« nicht mehr funktioniert. Das heißt, die Türen sind offen, wir können ein neu entstandenes Vakuum mit unseren Lösungen füllen. Es wird nicht leicht sein, weil viele ja noch von der gegenwärtigen Ordnung profitieren. Aber durch die Krise sind Lücken entstanden, in die wir stoßen können. Es gibt in Staat und Wirtschaft ein wachsendes und höchst akutes Interesse an Lösungen. Zudem fangen wir ja nicht bei null an. Wir kommen nicht mit irgendwelchen Theorien. Sondern wir sagen: »Schaut mal, das hier funktioniert schon.« Außerdem sind wir eine eigenständige Organisation, wir sind nicht abhängig von Regierungen, die uns einberufen können und wieder auflösen können. Aber man muss natürlich betonen: Die Zukunft des WFC ist noch ungesichert. Wir haben eine Finanzierung von der Stadt Hamburg und von Dr. Michael Otto, die läuft aber Ende 2009 aus.

Der kulturelle Wandel wird auch ohne den Weltzukunftsrat stattfinden. Heißt das, es ist einerseits Aufgabe, Bewusstsein zu schaffen und andererseits, einen Übergangsprozess mit ganz neuen Koalitionen zu erleichtern?

Ja sicher! Diesen Übergangsprozess zu erleichtern, ist für mich das zentrale Thema, denn die Veränderungen kommen auf uns zu. Wir müssen neue Strukturen gründen, die auf Zusammenarbeit gebaut sind, und anerkennen, dass wir teilen müssen. Die Rehabilitierung der Politik, die durch die Finanzkrise jetzt passiert, ist sicherlich hilfreich. Man kann nicht mehr behaupten, dass der Markt das alles von alleine schafft. Die Wichtigkeit des politischen Primats, der politischen Gestaltung wird jetzt wieder gesehen. Und was die Wirtschaft angeht: Ich sage immer, »die Wirtschaft« gibt es gar nicht. Es gibt Unternehmer, die sind kurzfristige Profit- und Besitzstandwahrer - deren Tage sind gezählt. Als das Automobil eingeführt wurde, waren die Pferdedroschken-Hersteller auch sehr schnell weg vom Fenster. Aber es gibt natürlich auch Unternehmer, die diesen Namen verdienen und wirklich sehr viel Gutes unternehmen. Es geht darum zu sehen: Wer ist Teil der Lösung und wer ist Teil des Problems. Meine Erfahrung ist, dass man da keine Trennung zwischen den Parteien machen kann. Naturgesetze sind weder rechts noch links.

Bleibt die Frage, ob sich der Umbau der Gesellschaft finanzieren lässt?

Das sind keine wirtschaftlich-politischen Fragen mehr. Das sind ethisch-moralische Überlebensfragen. Und auf der Ebene haben die Vertreter der gegenwärtigen Ordnung wenig zu erwidern. Wenn sie behaupten, das wäre alles zu teuer, müssen wir fragen: »Ist es zu teuer, das Leben unserer Kinder und Enkel zu retten?« Wir haben alles, was wir brauchen. Wir haben die Kenntnisse, wir haben die Arbeitskraft und wir haben das wissenschaftliche Wissen. Wenn behauptet wird, es fehle an Geld, dann ist das der größte Blödsinn. Zu sagen: Wir können es nicht machen, denn es ist kein Geld da, das ist genauso dumm, wie wenn ich sage: »Ich kann das Haus nicht weiterbauen, weil ich keine Zentimeter mehr habe.« Es fehlt heute wirklich nur an politischem Mut. Es gibt unglaublich viele Ressourcen, die eingesetzt werden können, wenn der politische Wille da ist. Wir können die Währungsspekulation unterbinden durch eine kleine Währungsumtauschsteuer. Das würde weder den Handel noch den Tourismus schädigen, aber die Spekulation beenden und große Finanzmittel einbringen. Eine Besteuerung des Flugbenzins brächte 100 Milliarden Euro pro Jahr in den OECD-Staaten. Eine Umschichtung von nur 20 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben würde für alle diese einzelnen Probleme, vor denen wir stehen, eine Wende ermöglichen. Die Ressourcen sind da, wenn der politische Wille da ist. Alles, was eine Gesellschaft tun kann, das kann sie auch finanzieren!

Sind wir heute in einer Situation, wo Zukunftsforschung nicht mehr in einer Vorhersage besteht, sondern in Strategien der aktiven Mitgestaltung der Zukunft?

Man darf wählen zwischen verschiedenen Produkten, aber man darf nicht wählen zwischen verschiedenen Wirtschaftssystemen. Wir werden die Gesellschaft und Wirtschaft mehr demokratisieren müssen. Wir werden die Zukunft wieder in die Hand nehmen müssen, weil die Zukunftsforscher uns Märchen erzählt haben. Ihre positiven Utopien waren vollkommen unrealistisch. Auch die politischen Entscheidungsträger haben uns Märchen erzählt. Sie waren gefangen in einer Weltanschauung, in der die Finanzmärkte regierten, denen man sich anpassen musste, damit es allen besser geht. Diese Herrschaft der Märkte hat sich als Trugschluss herausgestellt. Die Zukünfte, die heute zur Wahl stehen, sind natürlich unter diesen Umständen völlig andere. Viele hoffen noch, dass das alte System wiederbelebt werden kann. Andere haben bereits verstanden, dass das nicht gehen wird - und sehen gerade jetzt ganz spannende neue Möglichkeiten und neue Zukünfte sich auftun. Ein normales Leben ist eigentlich für all jene, die sich dessen bewusst sind, nicht möglich. Wenn wir eine Zukunft wollen, hat jeder meiner Meinung nach die Pflicht, so viel wie möglich zu tun. Aber ich glaube, das sollte nicht jetzt dazu führen, dass man sich paralysiert und verzweifelt fühlt.

Sind Sie Pessimist oder Optimist, was unsere Chancen für lebenswerte Zukünfte betrifft?

Ich halte weder was von einem Pessimismus, der behauptet, das habe sowieso keinen Zweck, noch von einem Optimismus, der meint, es wird alles gut werden. Ich sage: Ich bin Possibilist. Jeder hat irgendwelche Möglichkeiten, kann irgendwelche Nischen finden, hat irgendwelche Gedanken, irgendwelche Träume. Ich sage: Fang doch einfach an.

[1] Jakob v. Uexküll und Herbert Giradet: Die Zukunft gestalten -World Future Council: Aufgaben des Weltzukunftsrates, Kamphausen-Verlag 2008 Jakob v. Uexküll: Es geht darum, Zukünfte täglich sichtbarer zu machen

[2] Jakob v. Uexküll und Herbert Giradet (Hrsg): Zukunft ist möglich. Wege aus dem Klimachaos, Europäische Verlagsanstalt 2009


zukunft entsteht aus krisenQuelle: Geseko von Lüpke, Zukunft entsteht aus Krise. Antworten von Joseph Stiglitz, Vandana Shiva, Wolfgang Sachs, Joanna Macy, Bernard Lietaer u.a.
© 2009 Riemann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH