Fußball unser
Beobachtungen zum organisierten Massensport

01.07.2006

Deutschland einig Fußballland

Nach der Niederlage der deutschen Fußballmannschaft gegen die italienische ließ sich die Besucherin einer Fan-Meile im ARD-Interview zu dem kuriosen Satz hinreißen: „Im Herzen sind wir Weltmeister, auch wenn wir es auf der Leinwand nicht geworden sind.“ Eine wahrhaft verkehrte Weltsicht tut sich hier auf, die symptomatisch ist für das „Fußballfieber“, in das sich Millionen in diesem Sommer hineinsteigerten. Großleinwände sorgten dafür, dass die Massenemotionen nicht nur im Stadion, am eigentlichen Ort des Geschehens, sondern in ganz Deutschland hochkochen konnten. So schrieb, um nur ein Beispiel zu nennen, der Gießener Anzeiger anlässlich eines Vorrundenspiels auf einer Frankfurter Großleinwand unter dem Titel „Frankfurter Main-Arena im Nationalrausch“: „Aus dem gesamten Bundesland sind Beamte und Schiffe in Frankfurt zusammen gezogen worden... 300 bis 400 Fußballfans sind seit Beginn der WM aus Übermut bereits in den Main gesprungen... Viele klettern über die massiven Absperrgitter, andere springen sogar von Straßenbrücken... DLRG und Polizei fischen die illegalen Schwimmer regelmäßig aus dem Wasser... Vier Polizeiboote sind entlang der Main-Arena zwischen Eisernem Steg und Osthafen ständig auf Patrouille... Zu den 30000 Menschen innerhalb der abgesperrten Video-Bereiche kommen noch Tausende hinzu, die vom Straßenrand oder den Brücken aus die 144 Quadratmeter große Videowand sehen können. 240 Lautsprecher sorgen dafür, dass Ton und Kommentare zu den Live-Übertragungen von Sachsenhausen bis zum Römerberg zu hören sind... Die Polizei ist nicht nur auf dem Wasser präsent, es wimmelt um und in der Main-Arena nur so von Beamten in Uniform oder in Zivil. Hinzu kommen 500 private Sicherheitsleute. Das ist wohl ein Grund dafür, dass alles relativ friedlich abläuft...“ Ähnlich sah es in allen deutschen Städten aus. Das Sicherheitsaufgebot war gewaltig. 9000 Fälle von Sicherheitsgewahrsam, so wurde geschätzt – man stelle sich vor, was für ein gigantischer Aufwand dazu nötig ist. Wann immer irgendwo eine kritische Situation entstand, waren sofort Polizeikräfte zur Stelle, meist in Zivil. Dass das ganze Spektakel zugleich ein Überwachungsszenario von bislang unbekannten Ausmaßen war – die Stadiontickets etwa waren mit Funkchips „personalisiert“ –, hat anscheinend niemanden wirklich beunruhigt.

Da die gesamte Medienwelt zu dem Tanz um den Fußballgott die Begleitmusik spielte, waren nüchterne oder gar kritische Berichte wie der obige eher selten. Stattdessen erging man sich in Lobhudeleien über die gelungene Party, in der angeblich das Antlitz eines neuen deutschen Selbstbewusstseins erkennbar war. Hochkonjunktur haben derzeit Worte wie „unverkrampft“ und „unbeschwert“, mit denen das neue Wir-Gefühl geadelt werden soll – als schaue man Kindern beim Spielen zu. Und in der Tat, die unerhörte Leichtigkeit des Seins veranlasste viele Mütter und Väter zu glauben, dass es besonders Kindern gut zu Gesicht stünde die Nationalflagge zu schwenken – weshalb sie es ihnen nicht nur vormachten, sondern sie auch bereitwillig mit den erforderlichen Utensilien ausrüsteten.

Deutschland – oder was man dafür hält – erlebte über vier Wochen eine geradezu trancehafte Lust am Belanglosen, wobei es um nichts ging als zu zeigen, wie gut man feiern kann und dass man gegebenenfalls auch nach einer Niederlage noch gut in Stimmung ist. Da Hunderttausende aus aller Welt ihren Urlaub als Fan-Tour geplant hatten und ihn sich nach einer Niederlage ihrer Idole natürlich auch nicht vermiesen lassen wollten, passte einiges zusammen. Hinzu kam die perfekte Organisation der FIFA und der Deutschen, wozu auch das tadellose Wetter gehörte, was die scharfsinnigen Analytiker des Fußballsports im Fernsehen immer wieder betont haben. Nach 16 Jahren „Mauer in den Köpfen“, nach jahrelangem Wirtschaftskampf und Reformkrampf, nach Bildungsfrust und Europapleite, nach Wahldebakel und Koalitionsgerangel erlebte man urplötzlich und unerwartet, und auch noch vor den wohlwollenden Augen der Welt, die neue deutsche Einheit: Der Sieg „gegen Polen“, so drückte es der Fernsehreporter nach dem gewonnenen Viertelfinale aus, „war der Ansatzpunkt der neuen Gemeinsamkeit ... Jetzt ist Deutschland ein einig Fußballland, ein Sommertraum in Schwarz-RotGold.“ Der Bundespräsident prophezeite mit glücklich-strahlendem Lachen den zukünftigen Weltmeister. Und die Bundeskanzlerin, deren Popularität in diesen Tagen schier ins Unermessliche stieg, wiegte sich buchstäblich vor aller Welt mit unbeschwert-hölzernen Bewegungen im Rhythmus der Massengesänge und umarmte schließlich sogar den „Kaiser“ und Inbegriff aller Fußballmanager.

Schon im Vorfeld hatte Frau Merkel übrigens erklärt, worum es der Politik hier geht. In einer Grußbotschaft hatte sie sich – zum ersten Mal per Internet – an die Mitbürger gewandt: „Vor dem Eröffnungsspiel gegen Costa Rica bin ich noch einmal mit Jürgen Klinsmann und unserer Nationalmannschaft zusammengetroffen. Jeder einzelne Spieler ist hochmotiviert und wird – davon bin ich fest überzeugt – sein Bestes geben. Und das sollten auch wir tun... Wir alle wollen zeigen, dass Deutschland zu Spitzenleistungen fähig ist.“ Entsprechend konnte der noch nicht ganz berauschte Leser in seiner Tageszeitung unter dem farbigen Glanz des Fußballs fast täglich die deutlich nüchternere Mitteilung erkennen, dass nun auch von ihm Spitzenleistungen gefordert sind und dass er sich in Zukunft mit erheblichen Einschränkungen seines Lebensstandards abfinden muss. Aber diese und selbst die entsetzlichen Berichte von den Vorgängen im Mittleren und Nahen Osten verblassten im virtuellen Taumel der „phantastischen Gefühle“ (Klinsmann).

Gesunder Patriotismus und Miesmacher

Das Erschreckende daran war, dass man kaum noch irgendwo eine kritische Stimme zu dieser „Einigkeit“ entdecken konnte. Wann immer man Bedenken äußern wollte, wenn man nur zur Vorsicht gemahnen und an die Erfahrungen erinnern wollte, die unsere Welt und ganz besonders die Deutschen mit nationalen Emotionen gemacht haben, bekam man sofort ein Plädoyer über die Harmlosigkeit eines „gesunden Patriotismus“ zu hören. Inzwischen sind die Intellektuellen aller Couleur eifrig dabei, dem Volk die Argumente für seine gesunden Gefühle nachzureichen. Auch Günter Grass hat sich inzwischen für die „Unverkrampftheit“ entschieden, und sogar – man höre und staune – der Zentralrat der Juden in Deutschland hat die Deutschen aufgefordert, „mehr Patriotismus zuzulassen“. Ja, es gab sogar schelte von Generalsekretär Stephan Kramer für all diejenigen, die Hemmungen haben Flagge zu zeigen: „Das ist ein Irrtum, und das ist auch ein Armutszeugnis.“ Was mit denen geschehen könnte, die sich immer noch von kritischer Vernunft zur Skepsis verleiten lassen, deutet die Bild-Zeitung an: „Deutschland muss nach der WM endlich zur No-Go-Area werden. Für all die Miesmacher, die alles besser wissen und nix besser können!“

Dank König Fußball ist der „unverkrampfte Patriotismus“ nicht nur salonfähig geworden, er wird sogar als Heilmittel gegen Rechtsextremismus angepriesen. Immer mehr Politiker versteigen sich zu der Behauptung, er grabe den rechtsextremen Ideologen das Wasser ab. Spätestens hier nun endet der Sommertraum und es wird ziemlich ernst. Wer mit solchem parteitaktischen Kalkül liebäugelt, spielt mit dem Feuer. Glaubt man wirklich, dass durch Singen des Deutschlandlieds und Schwenken der Nationalflagge der Nationalismus gebannt werde? Als vor etlichen Jahren die rechtsnationale DVU eine Kampagne startete mit der Losung „Ich bin stolz Deutscher zu sein“, gab es noch eine Mehrheit in der Öffentlichkeit, die das kritisch sah. Heute mehren sich die Stimmen, die von „Miesmachern“ reden und die Kritiker ausgrenzen wollen. Das ist nicht der Weg zur Bewältigung des Nationalismus, das ist der Weg zu seiner Verharmlosung und Beschönigung.

Daran ändert die Tatsache nichts, dass das Ausland uns applaudiert – es tut dies übrigens bei weitem nicht in dem Maße, in dem die Medien es uns in ihrer gefilterten Berichterstattung glauben machen wollen. Auch das ist nicht neu: die Einbildung der Deutschen, das Ausland würde ihren Nationalismus lieben. Als hätten diese Länder nicht selbst genügend Probleme mit nationalistischen Emotionen! Der Nationalismus ist nämlich genau so wenig wie der Faschismus und der Rassismus eine bloß nationale Erscheinung. Diejenigen Kräfte in der Welt, die den Nationalismus bewirken, sind in allen Nationen gleich. Wie uns das vergangene Jahrhundert vor Augen geführt hat und wie auch in unserem neuen Jahrhundert überall in der Welt leicht erkennbar ist, handelt es sich dabei um Kräfte, die „die Menschheit ins Chaos stürzen wollen“, wie Rudolf Steiner öfter betont hat. Zu glauben, man könne eine „friedliche Welt“ auf den Wogen des Nationalstolzes errichten, ist ein gefährlicher Irrtum.

Schmuck und Ritual des Kollektivs

Eines der Highlights dieser Weltmeisterschaft waren sicherlich die grellbunten Maskeraden, mit denen die Fans aus aller Welt ihre Nationalität zur Schau stellten. Wer dabei etwas auf sich hielt, bediente sich nicht nur aus dem riesigen Topf der kommerziellen WM-Ideen, sondern präsentierte sich als „etwas Besonderes“. Dadurch wurde dem ganzen Massentreiben das Image des Phantasievollen und Originellen verliehen, und die Betonung des Nationalen rückte in den Bereich des Fantasy-Genres. Kaum eine Zeitschrift oder Internetseite ließ es sich entgehen ein buntes Kaleidoskop des Farbenspektakels zusammen zu stellen. Der Betrachter ist natürlich sympathisch berührt von soviel „Lebensfreude“ – in der Tat ein gewichtiges Argument, solange man keine weiteren Fragen stellt. Letzteres wurde dadurch einmal mehr zum untrüglichen Kennzeichen aller Spaßverderber und Miesmacher.

Welche Wirkung haben Masken, Verkleidungen, Uniformen auf die menschliche Begegnung? Sie lassen das Individuelle einer Begegnung in den Hintergrund treten. So ist es gerade der Spaß, den wir etwa an Fasching erleben können, dass wir unsere einzelne Individualität hinter der Verkleidung verstecken dürfen. Das führt, solange die Verkleidung nur ein Spiel ist, zu einer gewissen Leichtigkeit und Ungezwungenheit in der Begegnung und zu einer Art Lockerung der seelischen Konstitution, was uns eine zeitlang aus der konkreten Realität entführt. Diese „Ausgelassenheit“ kann sich allerdings auch bis zur völligen Hemmungslosigkeit steigern, besonders in Verbindung mit Alkohol. Im Unterschied zu Fasching allerdings tritt in der WM an die Stelle eines frei zu wählenden Motivs der Verkleidung ein verbindliches, mit dem sich der Verkleidete durchaus identifiziert: die Nation. Damit wird das Spiel wieder ernst und die Verkleidung wird zur bunten Uniform. An die Stelle individueller Begegnung tritt die Zurschaustellung nationaler Zugehörigkeit. Ihr wird gehuldigt, sie wird zelebriert – das Wesen des Nationalismus schmückt sich wie ein Pfau. Dass dabei noch ein paar völlig veräußerlichte Reste ehemals lebendiger Volkstraditionen ausgestellt werden, sollte nicht dazu verleiten, darin eine „Völkerbegegnung“ oder gar „Völkerverständigung“ zu sehen. Wer unter den Millionen Fußballfans hat schon eine Ahnung von der Kultur, der Geschichte oder auch nur von den Traditionen und den Volkscharakteren der rivalisierenden Nationalitäten. Die weitaus meisten haben ja nicht einmal ein klares Bewusstsein von der eigenen Kultur.

Das menschliche Niveau, auf dem diese Völkerbegegnung sich bewegt, wird deutlich, wenn man hört, wie die Fans auf der Straße skandieren: „Ihr seid nur ein Pizzalieferant.“ In den verwaschenen Idealisierungen der Journalisten und in den sentimentalen Belobigungen der Politiker werden dann die primitivsten Instinkte sanktioniert. Das ganze Land sinkt dadurch auf die Bewusstseinsstufe der Bild-Zeitung herab. Die hat dann auch ihre große Zeit. „Heute gibt’s was auf die Nudel... Heute spielen unsere Jungs mit ganz viel Wut im Bauch!“, hieß es in den Farben Schwarz-Rot-Gold am Tag des Halbfinales. Innen hieß es dann: „Heute verputzen unsere Jungs Pizza“, und vor jeweils einem Pizzastück war ein italienischer Spieler abgebildet. Daneben anlässlich des von der italienischen Presse lancierten Spielverbots eines Deutschen das Bild eines blutenden Italien-Gegners mit der Überschrift: „So ‚sauber‘ sind die Italiener...“, darunter der Bericht über einen italienischen „Fußball-Mafioso“. Schließlich auf der letzten Seite Frauen der italienischen Spieler in typischer Bild-Pose und mit gehässiger Überschrift. Wer durchschaut, was hier wirklich „gespielt“ wird, lässt sich auch von der Tatsache nicht blenden, dass die höchsten Repräsentanten der betroffenen Nationen nebeneinander auf der Bühne sitzen.

Na ja, die Bild-Zeitung, mag man denken. – Sie ist zwar nur eine von Dutzenden ähnlicher Boulevardblätter, erscheint aber immerhin in einer Auflage von rund vier Millionen und erreicht schätzungsweise zehn Millionen Leser. Politiker nutzten sie im Rahmen der WM deshalb auch ausgiebig als Medienplattform, allen voran die Kanzlerin. Als Stargast auf dem großen, von Prominenten frequentierten Bild-Sommerfest auf dem Dach der Axel-Springer-Passage in Berlin verriet sie „Bild“ sogar ihr intimstes „Weltmeisterschaftsgeheimnis“: „Beim Spiel Deutschland gegen Portugal werde ich zum ersten Mal mein schwarz-rot-goldenes Armband tragen!” Deutschland, einig Fußballland!

Begeisterung und Besessenheit

Auch in den sogenannten „seriösen“ Medien war ständig von „Begeisterung“ die Rede. Welcher „Geist“ kann hier wohl gemeint sein? Wer den Unterschied zwischen dumpfen Emotionen und wacher Begeisterung nicht kennt, dem fehlt im Zeitalter der Massenmedien jede Orientierung. Begeisterung im eigentlichen Wortsinn ist in unserer Zeit etwas rein Individuelles. Begeisterung, lateinisch „Inspiration“, erleben wir, wenn wir im Innersten berührt werden von der Wahrheit einer Idee, von einer liebevollen Tat, von der Schönheit eines klingenden Instruments. Was sich in der Fußballarena ereignet ist das genaue Gegenbild. Selbst die Fans betonen immer wieder die völlige Sinnlosigkeit des Ganzen. Man verherrlicht den egoistischen Durchsetzungswillen seiner Idole, und die verzerrten Gesichter der Schreienden, die maschinenhaften Bewegungen der „Sieg“ skandierenden Massen, alles das hat für jeden wachen Betrachter etwas Hässliches, Menschenunwürdiges, Entgeistertes.

Die gellenden Pfeifkonzerte im Stadion, wenn immer die gegnerische Mannschaft am Ball ist, werden inzwischen als ganz selbstverständlich genommen, obwohl sich jedem Sportler dabei doch eigentlich die Haare sträuben müssten. Die Rechthaberei, die Empörung, die Wut, mit denen die Entscheidungen der Schiedsrichter jeweils von der Gegenseite begleitet werden, die Verschlagenheit und Verlogenheit, mit der „Schwalben“ und „Notbremsen“ von den Massen sanktioniert werden, die ganze polarisierte Atmosphäre einer Fußballarena ist in Bezug auf Völkerfreundschaft ausgesprochen kontraproduktiv. Dass ein Überaufgebot an Sicherheitskräften mit einem unvorstellbaren technischen und finanziellen Aufwand den Tumult doch soweit im Rahmen hält, dass alle Seiten ihren Spaß haben können, und dass es am Rande solcher Schutzräume auch immer wieder zu erfreulichen persönlichen Erlebnissen kommen kann, ändert daran überhaupt nichts. Es kommt darauf an, in wessen Namen die Menschen hier versammelt sind, und das ist sicher nicht der des Menschen.

Wie kommt es, dass die Menschen sich von diesen Auswüchsen des organisierten Massensports nicht abschrecken lassen, dass sie nicht angewidert das Fernsehbild abschalten, wenn sich die millionenschweren Idole im Minutentakt schmerzverzerrt oder heuchlerisch auf dem Rasen wälzen? Warum gesteht man sich nicht ein, wie absurd das Ganze ist, wenn die besoffenen Fans bei der Berichterstattung von den Fan-Meilen in die Kamera blöken? Der Grund ist ebenso einfach wie schmerzhaft: zum einen, weil man Fußball instinktiv mag und deshalb eher geneigt ist, darin den spannenden und fairen Wettkampf wahrzunehmen, zum andern aber auch, weil man unbewusst von den Massenemotionen angesteckt wird. Man fiebert eben mit, und da der Mensch sich mit seinen instinktiven Vorlieben ungern in Frage stellt, stilisiert er den Rausch zur Völkerbegegnung hoch. Das ist gefährlich. Besser wäre es, er würde sich eine gewisse Neigung zur Haltlosigkeit und zur Sucht eingestehen, eine gewisse Ohnmacht der Seele also. Das würde ihn wenigstens wach halten gegenüber den Kräften, die hier aus unbewussten Tiefen aufsteigen.

In diesen Tiefen urständet nämlich auch das Nationalgefühl. Es verbindet sich unterhalb der Bewusstseinsschwelle mit dem Fußballfieber zu einer dumpfen Erregung, die Umsicht und Besonnenheit raubt. Nach allem, was wir aus der Geschichte wissen, sind diese Kräfte alles andere als harmlos und wirken nachhaltig. Sehr schnell entstehen Gewohnheiten, die den Menschen lenkbar machen. Man kennt das von Propaganda und Werbung. Wir sollten deshalb vermeiden, Kinder und Jugendliche in eine Situation zu bringen, in der sie von solchen Kräften ergriffen und besetzt werden können.

Umwertung der Werte

Zu den frappierendsten Folgekrankheiten des WM-Fiebers gehört der weitgehende Verlust der Meinungsvielfalt in den Medien. Dem nicht infizierten Beobachter bietet sich das grausige Bild einer freiwilligen Gleichschaltung der öffentlichen Meinung, wie sie im Nachkriegsdeutschland bisher wohl einmalig ist. Wo immer man als kritischer Zeitgenosse hoffen konnte, vernünftige Gedanken zu den Ereignissen vorzufinden, traf man auf geflissentliches Bemühen einzulenken und mitzujubeln. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft beispielsweise hatte Mitte Mai eine kritische Broschüre zum Deutschlandlied neu aufgelegt. In der durchaus lesenswerten Darstellung findet man interessante Informationen über die Entstehung und die Geschichte des Deutschlandlieds und die Entwicklung des Nationalismus in Deutschland. Der Bundesvorsitzende Ulrich Thöne schrieb dazu im Vorwort: „Die heutige Stimmung, dass wir doch jetzt erst recht ‚wieder wer sind‘, und doch seit 1990 weitere 16 Jahre zur Zeitspanne 1933-1945 vergangen sind, also ein angeblich ‚natürlicher Patriotismus‘ angesichts der gesellschaftlichen Probleme in diesem Land die richtige Antwort sei, all das ist uns nicht unbekannt. Als Bildungsgewerkschaft GEW treten wir ganz bewusst und ganz ausdrücklich solchen Stimmungen des Nationalismus und der ‚deutschen Leitkultur‘ entgegen und betonen die Notwendigkeit einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit der Geschichte und Gegenwart des Nationalismus in Deutschland... Was wir bitter nötig haben ist eine humanistische Bildung für alle und soziale Verhältnisse, die an den sozialen Bedürfnissen der Menschen und der Jugendlichen aus vielen Ländern in Deutschland orientiert sind... Was wir dabei ganz und gar nicht gebrauchen können ist ein Nationalismus, der die immer größer werdende soziale Kluft in diesem Land übertünchen soll und Integration mit Assimilation verwechselt.“ Wenig später sah sich die GEW genötigt, dem öffentlichen Druck nachzugeben: Der Vorsitzende Ulrich Thöne entschuldigte sich in einer Stellungnahme. „Ich habe gemeinsam mit dem hessischen Landesvorsitzenden Jochen Nagel das Vorwort zu dieser Neuauflage geschrieben. Mit dem Vorwort wollten wir einen Beitrag zu einer kritischen Diskussion über die Nationalhymne leisten. Das hat bei vielen Menschen leider den Eindruck erweckt, die GEW wolle den Fans die Fußball-WM vermiesen oder spreche sich gar aktuell für ein Verbot oder die Abschaffung der Nationalhymne aus. Wir bedauern diesen Fehler und entschuldigen uns bei allen – vor allem den Pädagoginnen und Pädagogen – für den ihnen entstandenen Schaden.“ Es dürfte wohl ein in der Geschichte der Bundesrepublik einmaliger Vorgang sein – und symptomatisch für das gegenwärtige Niveau des öffentlichen Diskurses –, dass sich eine renommierte gesellschaftliche Institution selbst der „Miesmacherei“ bezichtigt.

In der anthroposophischen Zeitschrift „Das Goetheanum“ kommentiert Lorenzo Ravagli diesen Vorgang mit folgenden Worten: „Wie eine gewaltige Befreiung von einer jahrzehntelangen Last wirkt das Fahnenschwenken dieser Tage, als würde sich die beschwerte deutsche Volksseele in die Luft schwingen und fliegen Lernen. Zerknirscht musste sich ein Sprecher der linken Lehrergewerkschaft GEW für die Kritik seiner Organisation an der deutschen Nationalhymne öffentlich entschuldigen.“ Im Fortgang des Artikels verbindet der Autor dann allen Ernstes das Fußballfieber mit der aristotelischen Tragödie: „Das Miterleben von Furcht und Leid durch die Zuschauer befreit sie von diesen Affekten. Es übt auf sie eine kathartische, reinigende Wirkung aus... Wie sagte doch Aristoteles? Indem wir die nationalen Affekte durchleben, befreien wir uns von ihnen.“ (Sagt Aristoteles das? Da muss ich etwas falsch verstanden haben.) Solche Veranstaltungen, so heißt es dann weiter, „rücken unsere individuellen Horizonte zurecht und lassen uns erleben, dass wir Teil eines umfassenden Ganzen sind, dem die Menschheit entgegenfiebert“. Muss man Historiker sein, um bei diesem Schlussgedanken Herrn Ravaglis eine Gänsehaut zu bekommen?

Die Überraschung ist perfekt, wenn es in dem folgenden Artikel dann heißt: „Was den alten Griechen ihre Tragödien, den Römern ihre Kampfspiele, scheinen in unserer Zeit diese großen Sportveranstaltungen zu sein.“ Hat man einmal die griechische Tragödie mit den römischen „Kampfspielen“ zusammengewürfelt, dann bemerkt vielleicht auch niemand mehr den folgenden Widersinn: „Fußball als Mannschaftsspiel mit herausragenden Individualitäten bedient all die seelischen Empfindungen, die der Zuschauer in sich selbst verborgen hält. So wird der Fußball zu einer modernen Prüfung der Seele.“ Die Mysteriendramen Rudolf Steiners geben ja sicher manches Rätsel auf, aber ich glaube hier wäre es doch eher angebracht von „Verwirrung der Seele“ zu reden.

Die ebenfalls anthroposophische Zeitschrift „Info3“ ist allerdings noch konsequenter. In ihrer Juni-Ausgabe mit dem vielsagenden Titelthema „Das Dunkle in Dir“ gelingt es Sebastian Gronbach die Fußball-WM mit einer ungeahnten spirituellen Würde auszustatten. Im Zusammenhang mit Rudolf Steiners „Samenkornmeditation“ sieht der Autor mit dem geistigen Auge im Fußballstadion nur noch Seelen und deren Vorbereitung auf eine kommende Inkarnation. Da ist der Tormann Jens Lehmann eine Seele, „die erlebt, wie es ist, wenn man mit aller Macht etwas verhindern muss“. Er erinnert uns dann sogar an die „geprüfte Seele“ Franz Beckenbauers, als er „nach dem Sieg der WM 1990 ... mit gesenktem Kopf durchs tosende Stadion über das Grün schritt“... Mit diesem Bewusstsein richtet sich dann der verklärte Blick in die Zukunft. „Der Schein der Fußballweltmeisterschaft 2006 verwandelt sich unter dieser Sichtweise zum Leuchten eines Heiligenscheins aus der fernen Zukunft.“ – Was, um Himmels willen, ist nur los in diesem Land, wenn selbst anthroposophische Publikationen ein solches Massenspektakel zum „Weihefest für den Menschen“ erklären? Wenn diese relativ leicht zu durchschauenden Zeitprobleme nicht mehr sachgemäß gewertet und nüchtern beurteilt werden können? Das Ganze bewegt sich auf einem geistigen Niveau, das man nur noch nachvollziehen kann, wenn man die aus der Geschichte bekannten Symptome kollektiver Trance in Erwägung zieht.

Der Johanni-Blick

Bei den Lobeshymnen auf sein Organisationstalent hat „der Kaiser“ bescheiden darauf hingewiesen, welche herausragende Rolle das Wetter gespielt hat. Nach wochenlanger Regen- und Kälteperiode brach mit ungewöhnlicher Kraft der Sommer hervor. Die beginnende Hitzewelle war an sich schon geeignet, eine ekstatische Hochstimmung zu erzeugen. Es begann die Jahreszeit, in der die Natur uns dazu einlädt, uns nach außen, in die Welt und in den Kosmos zu verströmen.

Nun ist es dem Menschen unserer Zeit aber gerade nicht mehr angemessen, sich in einen kollektiven „Sommertraum“ zu verlieren. Die geöffneten Sinne wollen der wachen Aufmerksamkeit und der geistigen Regsamkeit des Ich dienen. So steht es nicht nur an, in der Natur zu schwelgen und sie zu genießen, sondern in der äußeren Erscheinung den suchenden Blick auf das Wesen der Dinge zu richten. Vorbildhaft können wir das an Goethes Umgang mit den Naturerscheinungen während seiner Italienreise beobachten. „Ich gehe nur immer herum und herum und sehe und übe mein Auge und meinen innern Sinn“, schrieb er aus Italien. „Ich bin den ganzen Tag in einem Gespräch mit den Dingen.“ Rudolf Steiner spricht in einem Vortrag von 1923 von einem geschärften Johanniblick. „Johannistimmung – der Menschen- und Erdenzukunft entgegen! Nicht mehr die alte Stimmung, die nur das Sprießen und Sprossen des Äußerlichen versteht... Wir müssen vielmehr das Aufblühen und Aufblitzen des Geistes erkennen lernen...“ Das heißt aber auch gerade, jenes auf das bloße Äußere sich richtende Genussvoll-Egoistische, das bloße Schwelgen in Sympathien und Antipathien zu durchdringen, um das Wesen der Dinge zu erfahren. Die Gefühle bekommen dann einen anderen Charakter: sie verlieren ihre auf- und abwogende, das Ich mitreißende Emotionalität und werden zum Organ der Auffassung, zum Gefäß für das Wesen des andern. „Ich muss abnehmen, damit er wachse“, dieser johanneische Gedanke ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschen „in Seinem Namen versammelt“ sein können. Zur Vertiefung: In der Gestalt Gawans hat Wolfram von Eschenbach, der Dichter des „Parzival“, eine Persönlichkeit dargestellt, die in diese soziale Kunst eingeweiht wird.

Auf Massenveranstaltungen werden keine „Völkerfreundschaften“ geschlossen. Freundschaften sind eine Form wahrer „Begeisterung“ und können nur aus individuellen Begegnungen entstehen. Die kollektive Ekstase, die uns in den vergangenen Wochen von den Medien – für horrende Geldmittel – als völkerverbindendes Mega-Event vorgeführt wurde, ist durch und durch anti-johanneisch. Nicht die Begegnung mit Geistigem durch den Blick in die Welt und in den Kosmos wird gesucht, sondern: Den Blick auf Leinwand oder Bildschirm gebannt, unter dem Gejohle der gleichgeschalteten Massen und der Megaverstärker werden „natürliche“ Gruppeninstinkte aus den Leibern entfesselt, die den Menschen nicht über sich hinaus, sondern unter sich hinab führen. Den Schlusspunkt dieser WM setzte dann auch ein Bild von höchstem Symbolgehalt: Der Abgott des Fußballfeldes, der französische Superstar Zidane, rammt seinen gesenkten Kopf mit voller Wucht in die Herzgegend seines Gegners und streckt ihn nieder. Als wolle er der ganzen Welt sagen: Seht her, ich zeige euch hier im Endspiel, worum es eigentlich geht! – „Es handelt sich heute überall um menschliche Freiheit, um menschliches Wollen“, so schließt Rudolf Steiner den oben erwähnten JohanniVortrag, „Es handelt sich heute überall um die selbständige menschliche Entscheidung zwischen vorwärts oder rückwärts, zwischen aufwärts oder abwärts.“


Erschienen in Kursiv - Vierteljahresschrift der Freien Waldorfschule Heilbronn, Ausgabe Sommer 06, erhältlich hier.