Anarchismus und Soziale Dreigliederung - Kommentar

01.04.2006

Guten Tag Herr Coiplet

Mit Interesse habe ich Ihre Studie „Anarchismus und Soziale Dreigliederung“ gelesen. Darauf gestossen bin ich per Zufall. Soziale Dreigliederung war mir jedoch bereits zuvor ein Begriff, insbesondere durch meine Erziehung und meine gegenwärtige Ausbildung an einer Rudolf-Steiner-Oberstufe.

Ihre Arbeit hat mit Sicherheit einen sehr hohen Wert, den ich zu schätzen weiss. Deshalb geht es mir in den folgenden Worten auch nicht darum, diese zu kritisieren. Vielmehr möchte ich diese einmal aus „anarchistischer“ Sichtweise betrachten, was wahrscheinlich nicht sehr oft geschieht.

Wohlmöglich haben Sie sich auch auf eine überwiegend anthroposophische Leserschaft eingestellt, da „der Anarchist“ eher als Objekt abgeurteilt wird ;-) Trotzdem möchte ich Ihre Arbeit einmal Schritt für Schritt kommentieren:

Definition von „Anarchie“

Ich bin leider zu schlecht in altgriechischer Sprache, um sagen zu können, ob Archie, Archon, „Arch“ bloss Herrschaft oder auch Macht bedeutet – ebenso wenig kann ich sagen, ob „Macht“ als Begriff damals bereits existierte. Deswegen kann ich auch nicht sagen, ob eine „Sicht der Dinge“ dem Anarchismus entspricht oder nicht. Ich kann nur erkennen, dass sie dem Weltbild der meisten heutigen anarchistischen Gruppierungen, Kooperativen und Einzelpersonen entspricht: Keine Macht, für niemand. Wer jetzt wirklich zuerst war mit dem Begriff des „Anarchismus“ und ob dieser für diese Aussage der passende Überbegriff ist, kann ich nicht sagen. Es ist jedoch auf diese weise am einfachsten, an die Leute heranzukommen. Wenn ich somit in der folgenden Abhandlung von Anarchie oder Anarchismus spreche, so meine ich damit: Keine Macht – für niemand!

Die gewählten Texte und Personen

Als zweites möchte ich auf Ihre Auswahl anarchistischer Texte und Protagonisten kommen: Sie beziehen sich in Ihrem Buch praktisch ausschliesslich auf mindestens hundertjährige Texte und auf die damaligen ersten Vertreter von anarchistischen Überzeugungen in den „gehobenen Bevölkerungsschichten“. Um eine Studie über den Anarchismus machen zu können, reichen meiner Ansicht nach diese Protagonisten und ihre Texte bei weitem nicht. Erstens einmal, weil sie mit ihren ersten anarchistischen Schriften und Ansichten, die die Welt überhaupt je gesehen hatte, noch weit von dem heute verbreiteten anarchistischen Verständnis entfernt waren und noch stark in der damaligen Kultur, den damals vorherrschenden Ansichten und Denkrichtungen verankert waren. Zweitens auch, weil sie Ausnahmen innerhalb der anarchistischen „Bewegung“ waren, die intellektuell arbeiteten und argumentierten. Die meisten anderen Anarchisten beriefen sich jedoch auf die direkte Umsetzung ihrer Idee. Es galt, macht- und herrschaftsfrei zu leben, autark zu wirtschaften, Alternativen zu bieten. Persönlichkeitskult und Intellektualität haben hier nichts zu suchen.

Kritik an sozialer Dreigliederung

Als drittes, bevor ich auf konkrete Kritikpunkte im Buch zu sprechen komme, möchte ich aus „anarchistischer“ Sicht die Idee soziale Dreigliederung kritisieren: Wie bei politischen Lösungen wird auch in der sozialen Dreigliederung die Macht nicht verhindert oder abgeschafft. Sie wird nur anders verteilt. Der einzige Unterschied, der zu politischen Lösungen besteht, liegt darin, dass diese Verteilung ganzheitlicher angegangen wird und das Individuum in diese Machtverteilung mit einbezieht. Gelöst ist das Problem damit jedoch noch lange nicht. Macht kann noch so gut verteilt sein – sie ist immer eine Form von Gewalt. Solange in irgend einer Form Macht existiert, gibt es Gewalt. Und diese Gewalt ist immer ungerechtfertigt, denn Macht hat keine Rechtfertigung. Kein Mensch (auch keine Menschengruppe oder durch diese gegründete Instanz oder Idee) hat das Recht, über einem anderen Menschen zu stehen, in keiner Art und Weise. Deshalb gilt es einzig die Entstehung von Macht zu verhindern.

Die Sache mit dem Materialismus

Um einmal eines klarzustellen: Dieser Begriff kann meiner Ansicht nach in der heutigen Zeit nicht mehr für das Verwendet werden, für was er steht oder stehen soll. Nicht an die Existenz eines Gottes usw. zu glauben, hat noch lange nichts mit einer „Materialbesessenheit“ oder desgleichen zu tun. Sondern schlicht und einfach damit, sich nicht irgendwelchen Illusionen hinzugeben! Denn darum geht es. Zumindest als Anarchisten brauchen wir uns einmal nicht der sinnlosen spitzfindigen Diskussion zwischen Wissenschaft und Religion zu opfern, wer jetzt die Wahrheit über alles besitzt, sondern können sagen: Wir brauchen keine absolute Wahrheit! Es ist doch müssig, sich über Dinge zu streiten, die keiner je sinnlich erkennen konnte. Was für den Menschen zählt, ist was eher sinnlich erfahren kann.

Ich glaube nicht, dass je ein Anarchisten einen Anthroposophen kritisiert hat, weil er sich in seinem Garten bewegte und sagte, er fühle sich so gut dabei! Nein, er hat ihn vielmehr kritisiert, wenn dieser dann zweckentbundene Assoziationen beging! Wenn er dieses Gefühl irgendeinem Gott oder Christus oder Elementarkräfte oder Feinstoffen zuordnete, obwohl sich der andere drüben am Garten genauso gut fühlte und nichts von all dem wusste.

Es geht darum, Realitäten zu vertreten. Und solange für uns keine uns übergeordnete Macht erkenntlich ist, braucht sie in unserem Bewusstsein nicht zu existieren! Denn solange schaden sie nur, all die religiösen Überzeugungen. (Mehr dazu unter www.religionskritik.ch.vu).

Doch das hat noch nichts damit zu tun, sich von dem Material „haben“ zu lassen! Vielmehr werfen wir den „Spiritisten“ (oder wie man das auch immer Nennen will, um nicht von „Theisten“ zu sprechen, was ja unvollständig wäre) vor, dass sie sich von irgendwelchen Ideen oder Ideologien „haben“ lassen! Mir geht es darum, das Leben eines Menschen so zu gestalten, dass es auch ein Kind verstehen kann. Es so zu sehen, wie man es erkennen kann. Wissenschaft braucht man nicht zu leben. Ideologie ebenso wenig und schon gar nicht Religion. Es braucht einzig einen Zustand, wo sich das Leben natürlich entwickeln und gestalten kann. Darum geht es doch: zu leben. Und uns geht es darum, jene „Störenfriede“ zu suchen, die das Leben behindern. Und der grösste davon ist die Macht. In welcher Form sie auch immer auftritt.

Diese Überzeugung hat nichts mit ihrer Auffassung von Materialismus, dem „sich nur auf den Leib beschränken“ zu tun. Wir haben genauso auch eine psychische (oder „geistige“) wahrnehmungsebene. Doch wir sehen dies als Einheit an. Wir sehen en Menschen als Menschen, den Planeten als Planeten, das Universum als Universum. Dies sind Einheiten. Doch wie es bereits Aristoteles wusste, ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Deshalb ist es in unseren Augen Sinnlos, dieses Ganze in Einzelteile Aufzugliedern, um zu einem Gesamtergebnis zu kommen. Dies wäre auch viel zu kompliziert, um zu einem wahren Ergebnis zu kommen. Deshalb lassen wir den Menschen gar nicht erst aufgliedern. Er ist eine Einheit, der Mensch. Er verhält sich als Einheit, lebt als Einheit, fühlt als Einheit – der Mensch selbst würde kaum je auf die Idee kommen, sich in verschiedenen Partien aufzugliedern. Das macht für ihn keinen Sinn. Sowohl nicht in H, C, O, Si, Fe usw. wie auch nicht in „Körper, Seele und Geist“. Und darum muss er als Einheit angegangen werden

Ideale

Auch in Idealen sehe ich keinen Sinn. Ideale gibt es so schlichtweg nicht. Sie sind wie politische Ziele. Für das Leben selbst machen sie aber keinen Sinn.

Den Ausdruck „keine Macht“ leise sich natürlich auch durch „Freiheit“ ersetzen, wenn man darunter einen allgemeinen Zustand versteht, welcher logischerweise keine Machtzustände erlaubt. Dies ist jedoch komplizierter und wesentlich weniger deutlich.

Mit der „Umbenennung“ auf „keine Macht“ sind nämlich auch alle Probleme mit dem Ideal „Freiheit“ gelöst, welches bekanntlich für so vieles und gegensätzliches stehen kann. All die philosophischen Thesen von wegen „Frei ist der Mensch nicht, er kann es nur werden“ usw. haben dann keinen Sinn mehr. Denn wie soll der Mensch MIT Macht geboren werden? Ebenfalls ist dann das Problem so mancher Philosophen gelöst, welche vor lauter Freiheitsmanie sich von sich selbst zu lösen versuchten.

Hier sind wir auch schon bei der Frage nach den „Trieben“ angelangt. Sie sprechen von einem Leben frei von Antrieben, ist das realistisch? Oder geht es nicht vielmehr darum, diese „Antriebe“ in der Entwicklung natürlich entstehen zu lassen und nicht (z.B. durch Machteinflüsse) zu stören?

Dass es sich im Anarchismus demnach hauptsächlich um das „Ideal“ der Freiheit geht, haben Sie ja auch kritisiert. Sie bezeichneten die „anderen Ideale“ (also Gleichheit und Brüderlichkeit) als „unterbelichtet“ bei den Anarchisten. Gebe ich Ihnen recht! Weil dies für uns eben keine lebenswerten Ideale sind (oder wir ohnehin keine Ideale mögen).

Wieso brauchen wir Gleichheit, wenn es keine Macht gibt? Wovor soll man dann gleich sein? Es ist doch ohnehin niemand und nichts gleich! Wieso also ein so fragwürdiges Ideal weitertragen, welches keinen Nutzen mehr bringt?

Wieso brauchen wir Brüderlichkeit, wenn schon nur dieser Begriff für uns unhaltbar ist? 1. Weil er nichts aussagt (oder gehen Brüder besonders sozial miteinander um??) und 2. weil er sexistisch und veraltet ist. Man müsste dieses Ideal also zuerst umdeuten. Das wäre dann die Menschlichkeit. Doch in unseren Augen kann ein Mensch nichts anderes, als sich Menschlich zu verhalten, solange er darin nicht behindert wird! Ohne Macht ist Menschlichkeit!

Ein anderer „Anarchist“ hat die Sache mit den Idealen einmal folgendermassen ausgedrückt:

„Anarchie heißt Herrschaftslosigkeit, aber nicht Gesetzlosigkeit. Eigentlich braucht eine Anarchie nur ein einziges Gesetz: "Gleiche Freiheit für jeden". Etwas völlig anderes als "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"! Menschen sind nicht gleich, wer sie gleich machen will, muß sie unterdrücken. Der Unterdrücker ist dann "gleicher als gleich", also obenauf. Und Brüderlichkeit ist noch schlimmer. Brüder treten sich zu nahe. Am Ende haut der eine dem anderen eins über die Rübe, wie Kain dem Abel. Nein danke, mehr als Freiheit möchte ich nicht!“

Diese Ideale sind für uns schlicht und einfach überflüssig. Sie sind Nutz- und Zwecklos. Wir brauchen in erster Linie keine Macht, die nämlich immer behindernd wirkt. Ein Leben frei von Macht ist immer Menschlich.

Komplexität

Sie sehen, wir machen uns das Leben einfach ;-) Keine Macht, kein Gott, keine Ideale, keine Wirtschaft – aber darum geht es uns eben auch: Eigentlich ist das Leben einfach.

Aus diesem Grund stört mich die Komplexität der meisten Soz. Dreigliederungsschriften, welche offenbar keine andere Aufgabe haben, als einen längst verstorbenen Menschen (und immer nur diesen einen) zu Zitieren und immer wieder neu Interpretieren. Es lässt sich dabei ernsthaft fragen, ob das wirklich reell umsetzbar bleibt. Ob es darum geht, schlicht und einfach eine bessere Welt zu schaffen, oder dieser Person aus dem frühen 19. Jahrhundert (und als deren „Anhänger“ auch sich selbst) eine Freude zu machen.

Komplexe Systeme, Strategien und Theorien sind meiner Ansicht nach wertlos im Kampf gegen eine sich selbst zerstörende Welt. Man verbringt zu viel Zeit damit, sich selbst mit einer Theorie zu beschäftigen, die am Ende das Zielpublikum ohnehin nicht verstehen wird. Also braucht es wiederum jemanden, der höher steht, weil er alles weiss und auf alle Fragen antworten kann... und schon sind wir wieder bei den Anfängen unserer Zivilisation angelangt, wo langsam aus den ersten Mannen Helden gemacht wurden... nein. Das hilft uns nichts.

Zwei kleine PS ...

... welche mir beim Durchschauen meiner Notizen gerade aufgefallen sind (weitere direkte Kritikpunkte werden sich in einer Diskussion später zum richtigen Zeitpunkt noch äussern)

- Ihre These, wonach der Mensch „nicht mit dem einzelnen Tier, sondern nur mit einer ganzen Tierart“ gleichzusetzen sei, wodurch Sie dem einzelnen Tier seine Individualität Absprechen und den Menschen in ein völlig unverhältnismässiges Weltbild stellen, scheint mir sehr fragwürdig. Hier sieht man meiner Ansicht wiedereinmal die Einflüsse kreationistischer Überzeugungen, auf welche der Mensch nicht ohne weiteres kommt!

- Gerne hätte ich auch eine Antwort (die man mir nie gegeben hat) auf Ihre eigene Frage „rückt die Waldorfschule durch ihren Morgenspruch nicht in die Nähe islamischer [Anm.: „islamISTische Schulen“ oder „Koranschulen“ wäre korrekt] Schulen, die ihre Pädagogik auf das Nachbeten des Korans aufbauen?“ - bitte, ja? Und wieso nicht?

Nun, das sollte vorerst einmal reichen. Wie gesagt, ich wollte Sie damit nicht angreifen! Ich würde mich jedoch sehr über eine Diskussion zu diesem Thema freuen.

Mit hochachtungsvoller Begrüssung

Johannes Bühler, punox@gmx.net