Zur Dreigliederung des sozialen Organismus

01.06.1976

Übersicht über die Kontroverse
Vom Grenzverlauf zwischen den Gliedern des sozialen Organismus
zwischen Heinz Kloss, Wilhelm Schmundt, Christof Lindenau und Hartwig Wilken

 

Vorbemerkung

Es liegt mir daran, vorweg auszusprechen, daß ich Heinz Kloss im Hinblick auf die Sache überaus dankbar für den Beitrag bin, den er geleistet hat, um die Frage nach der Dreigliederung des sozialen Organismus zu klären. Damit ist von ihm etwas Notwendiges getan worden. In der Zuschrift, die die Redaktion auf meine Bitte hin anschloß, sprach ich von einem „möglichen Unheil“. Doch würde man dies ganz irrig auffassen, wenn man es auf die so heilvolle Tat von Kloss beziehen wollte. Man setze einmal voraus, es sei die Konzeption des dreigegliederten sozialen Organismus, die sich aus meinen — und auch anderer — Studien ergeben hat, die wesensgemäße, also diejenige, auf welche Rudolf Steiner abzielte (— er wollte ja das von ihm Dargebrachte als „Anregungen“ und „Richtlinien“ aufgefaßt wissen —), dann träte ein, von dem meine Nachbemerkung sprach, daß nämlich sein Werk einem anderen als ihm zugeschrieben wird.

Gewiß ist es nicht leicht, ein Urteil darüber zu gewinnen, ob die soeben genannte Voraussetzung erfüllt ist. So möchte ich einige Bemerkungen an den Beitrag von Heinz Kloss anschließen, die vielleicht geeignet sind, gewisse Hindernisse für ein großzügiges Auffassen der Sache fortzuräumen.

Einige Berichtigungen

1) zu Seite 17 (im Heft 27): Das Unterscheiden von „institutioneller“ und „funktioneller“ Dreigliederung trifft die Sache insofern nicht eindeutig, als sich in letzterer die drei Funktionssysteme im Rahmen des Ganzen durchaus konkret je zu selbstverwalteten Gebilden institutionalisieren: zum System der „beratenden Kuratorien“ (wie sie aus jedem Unternehmen, aus jeder Institution hervorgehen), zum System der über das Bankengeflecht assoziierten Unternehmen und Institutionen, zu dem System der Rechte-vereinbarenden Gremien, die den ganzen Organismus durchsetzen.

2) zu Seite 18: Es liegt ein Mißverständnis vor, wenn gesagt wird: „das ... Wirtschaftsleben hat ja ... auszuführen und auszugestalten, was vom Geistesleben beschlossen worden ist.“ Die „beratenden Kuratorien“ sind vielmehr Gesprächsorgane (Erkenntnis-bildende Organe); alle Entscheidungen, die das System der assoziierten Unternehmen usw. betreffen, sollen — gemäß dem Freiheitsprinzip — selbstverantwortlich von den Persönlichkeiten gefällt werden, die je zum Leiten dieser Unternehmen bevollmächtigt sind. Das Verhältnis der drei Funktionssysteme zueinander entspricht also durchaus vergleichsweise demjenigen „souveräner Staatsgebilde“.

[Beiträge, Heft 28, Seite 52]

 

3) noch zu Seite 18: Im Besinnen der Beziehungen, welche das System der beratenden Kuratorien einerseits, das System der assoziierten Unternehmen andererseits zum „Ausland“ haben, zeigt sich, daß das von Rudolf Steiner Geschilderte durchaus vorliegt: im Hinblick auf die weltweiten Beziehungen ist es geradezu notwendig, daß einerseits Persönlichkeiten des „Auslandes“ an den Beratungen der Kuratorien vollgewichtig teilnehmen und daß andererseits die Außenhandelsbeziehungen dem System der Assoziationen einbezogen sind, wobei die „Grenzen“ der beiden Systeme, von der Sache her bestimmt, ganz verschieden verlaufen können. Im Rahmen eines „Entwurfs einer Einführung in zeitgemäße Wirtschaftsgesetze“, den manche Leser dieser Zeitschrift als vervielfältigtes Manuskript in Händen haben, wurde dies übrigens ausgeführt. (Das Manuskript wurde Anfang des Jahres in Achberg verteilt und wartet noch auf ein Veröffentlichen.)

4) noch zu Seite 18: Rudolf Steiners „Aufruf zur Begründung eines Kulturrates“ ist in die von ihm besorgte Neuausgabe der „Kernpunkte“ des Jahres 1920 nicht mehr aufgenommen worden. Die Erstausgabe von 1919 liegt mir nicht vor. Meinen möchte ich, daß es sich bei dem „Kulturrat“ nicht um das oberste Organ eines Gliedes „Geistesleben“ handelt, sondern um ein Organ, welches das Loslösen des Bildungsbereiches vom Staat einzuleiten berufen war.

5) zu Seite 20: Die Frage nach den Namen, welche man den Funktionssystemen geben soll, scheint mir sehr berechtigt. Zunächst jedoch wird man sich daran halten wollen, daß Rudolf Steiner aufforderte, sich für die Gliederung des sozialen Organismus durch das Besinnen der menschlichen Leibesstruktur zu üben. Für diese Glieder, also für die Funktionssysteme des sozialen Organismus, hat er die drei Namen „Geistesleben“, „Rechtsleben“, „Wirtschaftsleben“ verwendet. Vorläufig habe ich selbst — im Rahmen jenes Entwurfs zu Wirtschaftsgesetzen — die Namen „System der beratenden Kuratorien“, „System der Rechte-vereinbarenden Gremien“, „System der assoziierten Arbeitskollektive (Unternehmen)“ verwendet. Leif Holbaek-Hanssen benutzt für das zuerst genannte den Namen „Inspirationssystem“.

6) zu Seite 21: Daß oft „jeder den Zipfel der umfassenden Dreigliederungswahrheit, den er bei seinen Bemühungen gerade erwischt hat, für die ganze Wahrheit hält“, darin hat Hartwig Wilken gewiß so etwa recht. Aber es sollte dies doch eine Übergangswahrheit bleiben und mir scheint die Zeit gekommen, in der man solchen Pluralismus wird überwinden können. Hierzu seien im folgenden einige Gedanken angefügt.

Besinnen des Methodischen

Es wird nicht möglich sein, ein tragfähiges Urteil über Gültigkeit und Wert der Ansichten zu gewinnen, die Heinz Kloss einander gegenüber stellt, wenn man nicht die Aufmerksamkeit den Methoden zuwendet, aus denen sie sich ergeben. Ganz allgemein kann man sagen, daß das Unterscheiden von Kulturbereich, Rechtsbereich, Wirtschaftsbereich, wie es die erste der von Kloss diskutierten Ansichten tut, Ergebnis einer verhältnismäßig trivialen Beobachtung ist, daß hingegen die funktionelle Dreigliederung des sozialen Organismus bei der an zweiter Stelle besprochenen Ansicht sich nur aus einem Erkenntnisprozeß herleiten läßt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Rudolf Steiner die Dreigliederung des sozialen Organismus als das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses ansah. Die Erkenntnismethode, welche dabei in Betracht kommt, gibt er im Kapital I der „Kernpunkte“ und ebenso im ersten Vortrag des Nationalökonomischen Kurses an. Man kann sie etwa so schildern:

[Beiträge, Heft 28, Seite 53]

 

Ausgehend von gewissen der Besinnung vorliegenden Grundtatsachen führt sie im Durchdenken der Phänomene zum Erfahren des sozialen Organismus als Idee, als Gedankenstruktur, in welcher jede Einzelheit ihren wesensgemäßen Ort findet.

Drei solcher, im Werke Rudolf Steiners entwickelten Grundtatsachen möchte ich hier anführen: Die Gestalt des sozialen Organismus hat bei den Kulturvölkern eine Metamorphose von der Tauschwirtschaft zur „Fähigkeitenwirtschaft“ der heutigen Industriegesellschaft durchgemacht; ein zweites: jede Menschenarbeit wird von der Geist-Innenwelt des Menschen (von seinen Fähigkeiten) bestimmt und ergreift ihrerseits in irgendeiner Weise die Natur-Außenwelt; ein drittes: die Individualität der Menschen ist zur Freiheit herangereift und so tritt die Forderung auf, daß jeder Mensch im sozialen Arbeitszusammenhang die Möglichkeit findet, „frei“, also aus der individuellen Erkenntnis des vom Ganzen her Notwendigen heraus, zu handeln. — Der Erkenntnisweg wird dann drei Schritte zu umfassen haben: als ein erstes muß das „Urbild“ des sozialen Organismus erkannt werden, von dem alle bestehenden sozialen Gestalten Erscheinungen sind; sodann muß aus dem Urbild heraus diejenige Gestalt „erfunden“ werden, die vom Freiheitswesen des Menschen durchwaltet sein kann und die, obwohl sie noch nicht existiert, doch existieren könnte und eine innere Wahrheit und Notwendigkeit besitzt (mit Goethes Worten zur Urpflanze gesprochen); und drittens gilt es, Gesetzesordnungen zu entwerfen, die dieser Freiheitsgestalt des sozialen Organismus entsprechen und zwischen den Menschen, die dem betreffenden Rechtsbereich angehören, vereinbart werden können. — Was hier mit wenigen Strichen skizziert wurde, ist im Rahmen der von Kloss an zweiter Stelle besprochenen Ansicht anfänglich durchgeführt worden.

So sehr man sich im Durchschreiten solchen Erkenntnisweges als Schüler Rudolf Steiners — ganz seinen Intentionen folgend — empfinden kann, so steht doch außer Frage, daß man bei den ins Konkrete gehenden Äußerungen Rudolf Steiners zunächst auf die „triviale“ Dreigliederung geführt wird. Viele seiner Äußerungen kann man anführen, die dem, was sich auf dem geschilderten Erkenntniswege ergibt, glatt widersprechen, — vieles freilich auch, was seinen Sinn nur im Rahmen der „funktionellen“ Dreigliederung finden kann. Das ist fraglos eine schwierige Lage. Sie hat den Vorzug, daß sie ein immer gründlicheres Durcharbeiten der Sache im Methodischen und im Sachlichen hervorruft. Man wird, wenn man nur alles Menschenmögliche getan hat, solche Widersprüche auf sich beruhen lassen müssen. Es geht offenbar nicht an, Hinweise Rudolf Steiners auf sozialwissenschaftlichem Felde als Sachangaben zu verwenden, man hat sie — seiner Methode entsprechend — zunächst als Wegweiser zum Finden der in sich gegliederten und in sich gegründeten Ganzheitsidee anzusehen. Die Aufgabe, das von ihm Angeregte zu einer Lehre auszuarbeiten, hat der Geistesforscher — selbstverständlich — seinen Schülern überlassen.

Übrigens wird man bei den Texten Rudolf Steiners zur sozialen Frage im Beginne der Dreigliederungsbewegung bedenken können, daß in ihnen zwei Dinge miteinander verwoben sind: die Forderung nach Befreiung des Bildungswesens vom Staat und das Erkennen des sozialen Organismus und seiner drei Funktionssysteme. Im Jahre 1919 stand das Fordern eines „freien Geisteslebens“ im Vordergrund der Aktionen; heute wird man — soweit ich sehe — die Erkenntnis des sozialen Organismus und das Verwirklichen seiner Freiheitsgestalt in den Vordergrund zu stellen haben, da ein „freies Geistesleben“ auf anderen Wegen nicht zu erreichen ist.

[Beiträge, Heft 28, Seite 54]

 

Abschließend noch eine Bemerkung: Was den „Grenzverlauf zwischen den Gliedern des sozialen Organismus“ angeht, so tritt dieses Problem nur im Rahmen der „trivialen“ Dreigliederung auf. Aus den gründlichen Ausführungen von Heinz Kloss kann man entnehmen, wie problematisch das Festlegen der Grenzen wäre. Bei der funktionellen Dreigliederung besteht das Problem der Grenzen innerhalb des dreigegliederten Produktionsbereiches nicht; dessen Glieder sind durch ihre Funktionen eindeutig bestimmt. Wohl aber bleibt es hier rechtlichen Vereinbarungen an Hand gewisser einfacher Kriterien vorbehalten, inwieweit gewisse Sozialgebilde zum dreigliederigen Produktionsbereich oder zum (ungegliederten) Konsumtionsbereich gehören sollen. In dem bereits erwähnten „Entwurf zur Einführung in zeitgemäße Wirtschaftsgesetze“ sind solche Kriterien aufgeführt. (Zur Polarität von Konsumtions- und Produktionsbereich siehe auch den Aufsatz „Die Urdreiheit im sozialen Organismus“ in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ vom 19. Januar 1975.)

[Beiträge, Heft 28, Seite 55]

 

Quelle

Beiträge zur Dreigliederung des sozialen Organismus, 18. Jahrgang, Juni 1976, Heft 28, Seite 52-55