Robert Owens Persönlichkeit

Zu seinem 100. Todestag am 17. November 1958

01.06.1958

Quelle
Zeitschrift „Die Drei“
Jahrgang 28, Heft 6/1958, S. 300-311
Bibliographische Notiz

I.

Zur Zeit der Jahreswende 1905/06 veröffentlichte Rudolf Steiner in der von ihm edierten Zeitschrift „Luzifer-Gnosis“ eine Folge von drei Aufsätzen, die den Titel „Theosophie und soziale Frage“ trugen [1]. Darin versuchte er, die ersten grundlegenden Darstellungen dessen zu geben, was die von ihm vertretene Theosophie zu den sozialen Problemen der damaligen Gegenwart zu sagen hatte.

Schon im zweiten Aufsatz beginnt er, sich mit den Anschauungen Robert Owens, den er einen „der edelsten Sozialreformatoren“ nennt, auseinanderzusetzen. Der dritte Aufsatz aber, der dann auch die Darstellung und Formulierung des „Sozialen Hauptgesetzes“ bringt, beschäftigt sich in sehr eingehender Art mit dieser bedeutenden Persönlichkeit. Gleich der erste Satz lautet: „Robert Owen darf in einem gewissen Sinne als ein Genie der praktischen sozialen Wirksamkeit bezeichnet werden. Zwei Eigenschaften waren bei ihm vorhanden, welche diese Bezeichnung wohl rechtfertigen mögen: ein umsichtiger Blick für sozial nützliche

[1] Diese Aufsätze sind unter dem Titel: „Geisteswissenschaft und soziale Frage“ wieder erschienen. (Dornach 1957)

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 300]

Einrichtungen und eine edle Menschenliebe. Man braucht nur zu betrachten, was er durch diese beiden Fähigkeiten zustande gebracht hat, um deren ganze Bedeutung richtig zu würdigen.“

Nach diesen Einleitungssätzen unterzieht Rudolf Steiner das Lebenswerk dieses Menschenfreundes einer sehr eingehenden Betrachtung und entwickelt an Hand der Owenschen Gedanken und Unternehmungen jenes „Hauptgesetz für das soziale Leben“, von dem er sagt, daß es „mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen“ gilt.

Zur gleichen Zeit, als diese Aufsätze erschienen, wurden aber auch in England sowohl als in Deutschland die beiden bisher ausführlichsten und wichtigsten Bücher über Robert Owens Leben und Werk veröffentlichte [2]. Und der Verfasser der englischen Biographie macht im Vorwort die folgenden, mir sehr wichtig erscheinenden Bemerkungen: „Robert Owen starb im Jahre 1858. Bis zum Januar 1905 waren nur vier – nicht mehr als vier – Biographien, alle in englischer Sprache erschienen; die letzte vor mehr als zwanzig Jahren. Als ich, im Jahre 1901, die Absicht hatte, eine weitere hinzuzufügen, geschah das nicht aus einem Gefühl, daß meine Vorgänger Unzulängliches geschaffen hätten; ich empfand vielmehr den Drang, ein mir so verwandtes Thema zu behandeln. Mit einem Wort: ich entschloß mich, so nahm ich an, zum Schreiben, weil ich den Wunsch dazu empfand. Aber eine Reihe von miteinander seltsam zusammenhängenden Ereignissen, die sich vollzogen, haben in mir gewisse Zweifel aufkeimen lassen, ob ich wirklich meinem eigenen Drange folgte, oder nicht vielmehr das unbewußte Werkzeug höherer Gewalten sei.“

Podmore beschreibt dann, wie er in den Jahren 1902 und 1903 verschiedene Menschen (in England, Frankreich und Deutschland) trifft, die sich gleichfalls von der Idee, eine Biographie Robert Owens zu schreiben, ergriffen fühlten. Aus allen diesen Versuchen entstanden dann die beiden schon erwähnten Bücher. Fast gleichzeitig aber (1902) erschien die erste ausführliche Darstellung des großen Gemeinschaftsversuches, den Owen in Amerika ausführte, und überdies wurde eine große Reihe bis dahin verschollener Briefe dieses Sozialreformers aufgefunden, die wichtige Einblicke in seine Gedanken gewährten.

Als Abschluß aller dieser Unternehmungen aber müssen die drei Aufsätze Rudolf Steiners angesehen werden. Sie krönen diesen damaligen Versuch, Owens Wirken den Zeitgenossen wieder nahezubringen. Es ist kaum daran zu zweifeln, daß hinter allen diesen Wünschen und Strebungen eine spirituelle Absicht stand, die dann von Rudolf Steiner aufgegriffen wurde und ihm die unmittelbare Handhabe gab, seine sozialen Ideen zu formulieren und vorzubringen.

[2] Helene Simon: Robert Owen. Sein Leben und seine Bedeutung für die Gegenwart. (Jena 1905) Frank Podmore: Robert Owen. A Biography. (London 1906)

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 301]

II.

Am 14. Mai 1771 wurde Robert Owen geboren. Zu dieser Zeit hatte Oberlin mit der Verwirklichung seines Friedenswerkes im Steintal bei Straßburg begonnen. Pestalozzi ringt um seine Bestimmung als „Erzieher des Volkes“ und begründet seine Arbeit in Neuhof. Matthias Claudius übernimmt die Redaktion des „Wandsbeker Boten“ und zur selben Stunde ist Goethe in Straßburg und begegnet Herder. Fast zur gleichen Zeit werden Alexander von Humboldt und Napoleon (1769) sowie Friedrich Hegel, Hölderlin und Beethoven (1770) geboren. Ihnen folgt Owen unmittelbar nach.

Sein Geburtsort war Newtown in Montgomeryshire in Wales. Als Waliser trug er ein starkes Maß an Keltentum noch in sich; sein Vater war ein Sattlermeister, und die Mutter entstammte einer walisischen Bauernfamilie. Er war das sechste Kind von sieben Geschwistern. In seiner Autobiographie, die er als Fünfundachtzigjähriger schrieb, und die 1857 erschienen ist, beschreibt er in eingehender Art seine Kindheit. Er muß ganz ungewöhnlich frühreif gewesen sein. Schon mit fünf Jahren ging er zur Schule und hatte bis zum 7. Jahr alles gelernt, was der Lehrer in Newtown ihm vermitteln konnte. Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschte er so gut, daß er in diesem Alter zum Klassenhelfer des Lehrers gemacht wurde und so schon als Kind ein Erzieher wurde.

Damals begann er eine Unmenge von Büchern zu lesen und sich besonders mit religiösen Schriften herumzuplagen. Das geschah unter dem Einfluß von drei jungen Frauen, die das Kind zum Methodismus bekehren wollten. Er selbst schreibt über dieses Studium: „Ich studierte die Bücher, die sie mir gaben, mit großer Aufmerksamkeit; da ich aber religiöse Werke der verschiedenen Bekenntnisse las, war ich sehr verwundert, zunächst die Gegnerschaft unter den mannigfachen christlichen Sekten zu finden und darüber hinaus dem tödlichen Haß zu begegnen, welcher zwischen Juden, Christen, Mohammedanern, Chinesen und Hindus bestand und dazu noch zwischen diesen und jenen, die nun wieder Heiden und Ungläubige genannt wurden. Das Studium dieser sich bekämpfenden Religionen und ihre gegenseitige, tödliche Feindschaft erschufen in meiner Seele Zweifel an der Wahrheit solcher religiöser Unterteilungen [3].“

Um diese Zeit war Owen nicht älter als neun Jahre. Und man kann sich die Frage stellen, woher er, noch ein Kind, die Reife solcher Urteile und Zweifel nimmt. Vielleicht hängen sie mit Erlebnissen zusammen, über die Owen selbst sehr ausführlich berichtet. Dreimal war er, noch als kleines Kind, in unmittelbarer Todesgefahr. Er verlor dabei jedesmal für eine kürzere Zeit das Bewußtsein, wurde aber, immer wie durch ein Wunder, gerettet. Dieser dreifache, durch Krankheit und Unfall hervorgerufene Bewußtseinsverlust könnte seinen intellektuellen Reifeprozeß so erstaunlich beschleunigt haben.

[3] Dieses und die folgenden Zitate, wenn nicht anders angegeben, sind der zweibändigen, oben angeführten Biographie von Podmore entnommen.

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 302]

Als er zehn Jahre alt war, verließ er das Elternhaus und kam zu seinem ältesten Bruder nach London und von dort, nach kurzem Aufenthalt, als Lehrling in eine größere Tuchwarenhandlung nach Stamford in Lincolnshire. Er traf es gut. Seine Lehrherren, ein Mr. and Mrs. McGuffog, nahmen ihn wie ein eigenes Kind in die Familie auf. Die Arbeitsstunden waren sehr lang, aber am frühen Morgen hatte er Zeit, seinen privaten Studien nachzugehen. „Ich strebte danach“, so heißt es in der Autobiographie, „die wahre Religion zu finden und war immer neu verwundert, daß jede Sekte und jedes Bekenntnis, von dem ich las, behauptete, im Besitz dieser wahren Religion zu sein.“

Durch Jahre hindurch ging dieses Fragen und Forschen. Bis er dann, in seinem 14. Jahr, zu gewissen Schlußfolgerungen kam, die für sein ganzes späteres Leben von wegweisender Bedeutung wurden. Er sagt darüber selbst: „Es geschah nur mit dem größten Widerstreben und nach langen inneren Kämpfen, daß ich mich gezwungen sah, meine ersten und tief eingewurzelten Eindrücke, die mich zum Christentum geführt hatten, aufzugeben. Zur gleichen Zeit aber, da ich auf den Glauben in dieser Sekte verzichtete, fand ich mich gezwungen, auch alle anderen Bekenntnisse abzulehnen; denn ich hatte entdeckt, daß jedes einzelne auf der gleichen absurden Annahme beruhte: daß jeder Mensch sich seine Eigenschaften selbst gibt, daß er selbst seine Gedanken, seinen Willen, seine Handlungen bestimmt und dafür Gott und seinen Mitmenschen gegenüber verantwortlich ist. Meine eigenen Überlegungen zwangen mich aber zu ganz anderen Schlußfolgerungen. Meine Vernunft sagte mir, daß keine einzige meiner Eigenschaften durch mich selbst zustande käme, daß sie vielmehr durch die Natur mir aufgedrängt würde; daß ferner meine Sprache, mein Glaube und meine Gewohnheiten durch die Gesellschaft, in der ich aufwuchs, mir gegeben würden; so daß ich ganz und gar ein Kind der Natur und der menschlichen Umwelt bin; die Natur gibt mir die Eigenschaften, und die Gesellschaft gestaltet sie aus. So war ich gezwungen, da ich ihren grundlegenden Irrtum einsah, allen Glauben in die Religionen, welche den Menschen gegeben waren, abzulegen. Mein religiöses Empfinden aber wurde im gleichen Augenblick durch den Geist der universellen Liebe ersetzt, der weder an eine Sekte noch an eine Partei gebunden ist; auch nicht an ein Land und eine Menschenrasse, sondern für die ganze Menschheit empfindet. Dieses Gefühl verband sich mit dem brennenden Verlangen, das Gute zu verwirklichen.“ In diesen wenigen Sätzen sind Owens Lebensprinzipien enthalten. Er hat sie nicht mehr geändert. In vielen Tausenden Vorträgen und Reden hat er sie immer neu vertreten und verteidigt. In unzähligen Zeitungsartikeln und Broschüren hat er dafür gekämpft. Daß er im Alter von vierzehn Jahren schon zu dieser Überzeugung gekommen ist, und von da an nur die Variationen, aber nicht das Motiv mehr änderte, ist ein Zeichen seiner Frühreife, aber auch seiner intellektuellen Verhärtung.

Für ihn ist der Mensch das Produkt seiner Umwelt. Die Natur versieht ihn mit einigen grundlegenden Qualitäten, die für jeden fast die gleichen sind. Deshalb

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muß die Umwelt so eingerichtet werden, daß aus diesen Eigenschaften richtige Resultate erwachsen. Gleichzeitig muß jedes religiöse Bekenntnis ausgemerzt werden; dafür aber, und das ist das Außergewöhnliche in dem Bekenntnis dieses jungen Menschen, wird es durch „den Geist der allwaltenden Liebe“ ersetzt.

Zur gleichen Zeit, als Owen diese recht primitiven Konzeptionen denkt, schreibt Goethe „Die Geheimnisse“. Es ist im Frühjahr 1785; und dort und hier, obzwar in fast diametraler Ausgestaltung, enthüllt sich ein gleiches Streben: Die Überwindung der einzelnen Religionen durch ein erneuertes Menschentum. Die Kirchen und Sekten, denen der junge Owen begegnete, haben ihm den Zugang zum wahren Christentum verhüllt, und so konnte er das Gewand nicht mehr vom Wesen unterscheiden.

Im Grunde aber erstrebte er ein höheres Christentum, eine im Willen und in der Tat verankerte, das Gute erstrebende christliche Religion. Das ins Reich der Erkenntnis zu heben, gelang Robert Owen nicht. Er hat es aber, ohne es zu wissen, erstrebt und immer neu zu verwirklichen gesucht.

III.

Nach wenigen Jahren Lehrzeit verließ Owen Stamford und ging für einige Zeit nach London. Von dort kam er nach Manchester und gründete bald eine eigene kleine Werkstatt, in welcher Bestandteile für die damals neu erfundenen mechanischen Webstühle hergestellt wurden. Bald danach war er schon der Leiter einer ansehnlichen mechanischen Spinnerei und hatte 500 Arbeiter unter sich. Hier nun begegnete er den erschreckenden damaligen Bedingungen: Arbeitszeiten von 14 bis 15 Stunden täglich in kleinen, überalterten, ungelüfteten Räumen; völlige Abhängigkeit der Arbeiter von der Willkür der Aufseher; Trunksucht, Schmutz und Unterernährung waren weit verbreitet. Und das größte der Übel war die Kinderarbeit. Vom 5. Lebensjahr an schickten die Eltern ihre Kinder in die Spinnereien. Eine Arbeitszeit von 12 bis 13 Stunden war ihnen auferlegt, mit einer einstündigen Essenspause, während der sie die Spinnmaschinen zu reinigen hatten. Das Essen wurde den Kindern in die Arbeitssäle gebracht. Abends von 7 bis 9 Uhr konnten sie, als großartige Vergünstigung, am Schulunterricht teilnehmen, falls sie noch die Möglichkeit hatten, das zu tun.

Die Einzelheiten dieses Übels und seine Bekämpfung, die sich durch Jahrzehnte hinzog, können hier nicht beschrieben werden. Owen stand die ganze Zeit mutig an leitender Stelle, als es um die Linderung und Abschaffung der Kinderarbeit ging.

In seinem Beruf erreichte er bald eine führende Position und besuchte als Inspektor verschiedener Fabriken regelmäßig Schottland. Dort fand er seine spätere Frau, deren Vater ansehnliche Spinnereien in Glasgow und in der Nähe, in New Lanark, besaß. Mit einer Reihe von Geldgebern konnte Owen die letzteren er-

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werben und wurde als deren Direktor eingesetzt. Er heiratete am 30. September 1799, und am 1. Januar 1800 trat er seine neue Aufgabe an. An diesem Tag schrieb Schiller die seltsamen Strophen über den „Antritt des neuen Jahrhunderts“, und darin fragt er:

„Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden,
Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
Und das neue öffnet sich mit Mord.“

Um dann auszurufen:

„Ach, umsonst auf allen Länderkarten
Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.“

Durch Owens Wirken in New Lanark ist für eine kurze Spanne Zeit dieses von Schiller so ersehnte „selige Gebiet“ geschaffen worden. Im dauernden Überwinden von Hindernissen, die seine Geldgeber und Direktoren bereiteten, gelang es ihm, in dieser kleinen Fabrikstadt eine vorbildliche Gemeinschaft von Menschen heranzubilden.

Zunächst ging es Owen darum, die Arbeitszeit zu verkürzen. Dann brachte er es zustande, daß die Wohnungen der Arbeiter sauberer und hygienischer wurden. Er gründete einen Konsumverein, in welchem für billigeres Geld bessere Lebensmittel, Kleider und Haushaltgegenstände eingekauft werden konnten. Sein unentwegtes und nie ermüdendes Beispiel wirkte, nachdem das erste Mißtrauen überwunden war, zündend. Er brachte es dazu, daß der Alkoholgenuß fast vollständig verschwand (in Schottland!), und endlich war er so weit, daß er sein zunächst höchstes Ziel verwirklichen konnte: Er baute ein Schulhaus und ermöglichte es allen Kindern, bis zum 12. Jahr regelmäßigen Unterricht zu erhalten und nur für kurze Stunden, mit steigendem Alter, in den Fabriken zu arbeiten.

Die Schule war für Owen der Ort, an welchem der Charakter des Menschen entscheidend geformt wird. Schon vom zweiten Jahr an konnten die Kinder der Arbeiter zur Schule gehen, und so wurde Owen mit Pfarrer Oberlin und Pestalozzi zusammen der erste in Europa, der Kindergärten einrichtete. Es wurde der größte Wert darauf gelegt, daß die kleinen Kinder nicht lernen, sondern spielen sollten. Alle, welche die Kleinkinderschule besuchten, berichteten von der Heiterkeit und der fröhlichen Stimmung, die in den Schulräumen herrschte. „Sie schienen völlig glücklich zu sein, und als wir eintraten, liefen sie in ganzen Scharen auf uns zu, nahmen Owens Hände und zogen ihn an seinem Rock; alles geschah mit der natürlichsten Selbstverständlichkeit.”

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Die größeren Kinder lernten durch Anschauungsunterricht. Große Tafeln, die eine Reihe von Pflanzen, von Tieren, von Gesteinen darstellten, hingen in den Klassenräumen. Riesige geographische Mappen waren in Sälen an den Wänden angebracht, und wie spielend, so wird erzählt, lernten die Kinder ihre Lektionen. Sie wurden dazu angehalten, sich gegenseitig zu prüfen und zu befragen, und alles ging ohne Strafen und Schimpfen vor sich. Keinem der Lehrer war es gestattet, auch nur die Hand gegen ein Kind zu erheben oder es mit einem lauten Wort zu ermahnen.

Alle Kinder hatten in weißen Kleidern, die ihnen von der Fabrik zur Verfügung gestellt wurden, in der Schule zu erscheinen. In den Morgenstunden gab es vor allem rhythmische Übungen, Tanzen und Gesangsunterricht.

Keinerlei Lehrbücher wurden benutzt. Die Kinder lernten durch anschauendes Üben und gegenseitige Hilfe. In der Blütezeit der Schule, zwischen 1810 und 1820, waren es regelmäßig 500-600 Schüler, die dem Unterricht beiwohnten.

So ist es verständlich, daß aus der ganzen Welt die Besucher nach New Lanark kamen. Es war damals jener „Zufluchtsort“, von dem Schiller und mit ihm viele andere träumten, der sich da zu bilden schien. Helene Simon [4] schreibt zu recht: „Zwanzig Jahre war New Lanark das Entzücken der Tausende seiner Besucher. Darunter Könige und Abgesandte von Königen, hohe geistliche Würdenträger, Städtedeputationen, Parlamentarier und Gelehrte ... Ordnung, Sauberkeit und Anmut dieses Gemeinwesens, Sittlichkeit und einträchtiges Schaffen, Heiterkeit und selbstsichere Höflichkeit der Bevölkerung waren das Ergebnis von Owens Tun ... Im Laufe weniger Jahre hatte er einen Geist der Interessensolidarität großgezogen, der die Arbeiter von New Lanark in gewissem Sinne zu einer sich dort selbstverwaltenden Gemeinschaft machte.“

Owens unentwegter Wille, das Gute in jedem anderen Menschen zu erwecken, sein verbissener Enthusiasmus, sein soziales Geschick, vor allem aber das dauernde Beispiel, das er selber durch eine makellose Lebensführung gab, machten das Wunder von New Lanark möglich. Es war das einzige Mal, daß Owen ein Werk der Gemeinschaft für längere Jahre erfolgreich durchtragen konnte. Nun war er von der Wahrheit seiner Gedanken und Forderungen überzeugt und erwartete, daß die ganze Welt sein Experiment nachahmen werde.

IV.

Nach dem Ende der napoleonischen Kriege begannen die europäischen Länder, ihren Anteil an der Belieferung der überseeischen Märkte wieder zu übernehmen; dadurch kommt es zu einer bedeutenden Einschränkung des britischen Außenhandels, und die Produktion, besonders in den Spinnereien und Webereien,

[4] Helene Simon: a. a. O.

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 306]

wird deshalb gedrosselt. Eine Welle von Arbeitslosigkeit überschwemmt die Industriegebiete Mittelenglands und Schottlands. Es gibt keine Gewerkschaften, keine Arbeitslosenunterstützung, und die Armut und Not der Arbeiter wird unübersehbar groß.

Owen, der nun durch seine Erfolge in New Lanark zu einem der angesehensten und bekanntesten Industriellen und Wohltätern seines Landes geworden ist, hält seine Zeit für gekommen und arbeitet bis ins Einzelne gehende Pläne zur Behebung der Arbeitslosigkeit aus. Er denkt dabei an Gemeinschaftssiedlungen von 1500 bis 2000 Menschen, die sich durch gemeinsame Arbeit zu sich selbst tragende Unternehmungen entwickeln sollen. Keines der Mitglieder erhält eine direkte Bezahlung, sondern aller Ertrag und Lohn fließt der Gemeinschaft zu. Diese hinwiederum sorgt für alle Bedürfnisse, auch für die Erziehung der Kinder, so daß allen eine Art sorgenfreie Existenz ermöglicht wird.

In vielen Einzelheiten wurde dieser Plan ausgearbeitet und an die höchsten Regierungsstellen und kirchlichen Kreise herangetragen. Die „Times“ widmet diesen Ideen eine erstaunlich große Reihe von zustimmenden Artikeln, und es kommt bis zu Parlamentsvorlagen und großen Debatten über die Möglichkeiten solcher kommunaler Experimente. Owen ist unermüdlich im Abfassen von Eingaben; er besucht Ämter und Ministerien, diniert mit allen einflußreichen Menschen und ist überall ein willkommener und geehrter Gast. Immer wieder aber verscherzt er sich die außerordentlichen Möglichkeiten, die ihm offen stehen, durch die Verkündigung seines strikten Atheismus und die entschiedene Ablehnung, dem religiösen Leben in seinen geplanten Siedlungen einen Platz einzuräumen.

Trotz aller Bemühungen gelang es Owen nicht, staatliche oder private Gelder in genügender Menge aufzutreiben, um mit dem Bau und der Führung einer derartigen Siedlung beginnen zu können. Bis sich plötzlich, 1824, die Gelegenheit bot, in Amerika, im Staat Indiana, eine ganze Dorfsiedlung aufkaufen zu können. Diese Gemeinschaftsbildung war zehn Jahre vorher von einer religiösen Sekte württembergischer Bauern, den Rappisten, gegründet und zu einer Musterwirtschaft ausgebaut worden. Einige Mühlen, kleinere Fabriken und Wohnhäuser für fast 1000 Menschen, mit einer großen Menge Ackerland und Wald waren vorhanden. Der autokratische Führer der Sekte, Georg Rapp hatte sich entschieden, das Wohlleben seiner Brüder zu zerstören und sie an anderer Stelle neu beginnen zu lassen.

Owen hörte von diesem Beschluß und erfaßte die Gelegenheit, in New Harmony, so hieß die Siedlung, seine Ideen zu verwirklichen. Er erwarb mit seinem eigenen Geld die gesamte Siedlung und die dazugehörigen 20 000 Morgen Land, für 30 000 £. Schon im Januar 1825 reiste er nach Amerika und begann sofort eine große Menge von Vorträgen und Ansprachen über seine Pläne zu halten. Am 25. Februar und 7. März sprach er auch im Repräsentantenhaus in Washington und forderte überall die Menschen auf, sich doch nach New Harmony zu

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begeben, um mit der Gründung der ersten wirklichen und wahren Menschengemeinschaft, die auf Gleichheit und Brüderlichkeit aufgebaut ist, zu beginnen. Fast tausend Menschen folgten seinem Ruf. Im April schon waren die meisten Häuser besetzt. Keiner, der ankam, wurde auch nur der geringsten Prüfung auf seine Eignung als Siedler unterzogen. Auswahllos wurde jeder aufgenommen und begrüßt. Am 25. April hielt Owen dort die erste Ansprache, darin er New Harmony zu einer Art von Zwischenstationen erklärte, welche den Übergang von der alten in die neue Sozialordnung darstellen sollte. Denn noch wird Ungleichheit im Wohnen, in der zu verrichtenden Arbeit und auch in der Vergütung herrschen. Es sei aber durchaus zu erwarten, daß innerhalb der kommenden drei Jahre das ganze Leben der Kolonie sich so weit einwickeln wird, daß sie eine kommunistische Gemeindeordnung erhalten kann.

Im ersten Jahr ließ sich alles so gut an, daß Owen, als er wiederkam (er war inzwischen in Europa gewesen), sofort daran ging, eine neue und die nun endgültige Verfassung dieser Gemeinschaft zu geben. Die obersten Grundsätze sind „Gleichheit der Rechte, ohne Unterschied des Geschlechtes und des Standes und Gleichheit der Pflichten je nach körperlichen und geistigen Fähigkeiten, für alle Erwachsenen. Gemeinsamkeit des Eigentums und Konsumgenossenschaft in allen Geschäften und Vergnügungen“.

Ein Jahr nach dieser Deklaration ist das ganze Unternehmen schon im Zusammenbruch. Einzelne Gruppen hatten sich, von nationalen oder weltanschaulichen Prinzipien geleitet, abgespalten und unabhängige Splitterkolonien gebildet. Die notwendigen Arbeiten werden nicht mehr verrichtet und Owen sieht sich gezwungen, größere und kleinere Teile der ganzen Liegenschaft mit großen finanziellen Verlusten zu veräußern.

Sein Enthusiasmus aber besteht weiter. Ja, er verkündet, daß sich nun aus der einen Kolonie viele andere gebildet hätten, die allmählich den Keim der Wahrheit zum Reifen bringen werden.

Sein Sinn steht nach noch größeren Unternehmungen. In Mexico wird ihm ein riesenhaftes Stück Land von der Regierung angeboten, auf dem er eine gigantische Kolonie begründen sollte. Er nimmt an, fährt auch nach Mexico, aber alles zerrinnt wie Sand. Das dort geplante Friedensreich wird nie begonnen.

Owen ist durch große Prüfungen gegangen. In England, wohin er zurückkehrte, hebt er an, mit noch gesteigerter Kraft seine Ziele zu verfolgen.

V.

Nur mit Erstaunen und einem gewissen Maß von Unbegreiflichkeit, aber auch mit Bewunderung kann Owens weiteres Leben und Wirken betrachtet werden. Er geht durch immer neue Enttäuschungen, die durch das sich dauernd wiederholende Versagen seiner Gründungen, durch den Zusammenbruch der von ihm

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 308]

geschaffenen Vereine und Genossenschaften, verursacht werden. Aber jeder Fehlschlag wird zu einem neuen Ansporn und jedes Versagen zu einer frischen Ermutigung. Er versucht im ganzen Lande die arbeitende Klasse für die Schaffung einer neuen sozialen Ordnung aufzurufen. Er sieht sich als ihr Erzieher, als ihr Inspirator, als ihr Vater. Unentwegt sind seine Unterweisungen, aber auch unberechenbar seine Ideen und Vorschläge. Er wird schrittweise aus einem Reformator zu einem Utopisten.

Immer größer, immer umfassender, immer illusionärer wird seine Verkündigung. Sein Wille ist nicht nur ungebrochen, sondern wird mächtiger und zügelloser. Die ersten Konsumgenossenschaften, die ersten Arbeiter-Versicherungen, die Gewerkschaftsbewegung, werden von ihm ins Leben gefufen. Und Hunderttausende sehen in ihm ihren Retter und wenden sich dann doch wieder von ihm ab.

Um 1835 beginnt er, zuerst in einer Zeitschrift und dann auch in einem mehrbändigen Werk „Die Neue Moralische Welt“ zu verkünden. Dort heißt es: „Der Rubikon zwischen der alten unmoralischen und der neuen moralischen Welt ist endlich überschritten; Wahrheit, Erkenntnis, Einigkeit, Beflissenheit und das Gute sind da und treten offen gegen Falschheit, Unwissenheit, Zersplitterung und das Böse auf. Das Schwert der Wahrheit wird nicht eher wieder in die Scheide gesteckt werden, bevor nicht das Böse aus den Häusern der Menschen vertrieben ist ... Die erste Erscheinung Christi war eine Teilentwickelung der Wahrheit, bestimmt für einige wenige; sie wurde, durch innere Notwendigkeit, in dunklen Aussprüchen, in Parablen und mysteriösen Andeutungen übermittelt. Das zweite Kommen Christi aber wird die Wahrheit allen zugänglich machen und es auch allen ermöglichen, die unendlichen Vorteile zu genießen, welche es der ganzen Menschheit bringen wird. Die Zeit ist da, in welcher das verkündete tausendjährige Reich beginnt; wenn Sklave und Gefangener, Leibeigener und Leibeigene, Kind und Diener, alle für ewig befreit sind und die Erniedrigung und Bedrückung der Seele und des Leibes nicht mehr bestehen werden.“

Einer seiner Freunde, James Place, schreibt in einem Brief vom 7. Januar 1836: „Mr. Owen hat mir heute, im Beisein von mehr als dreißig Personen, die Versicherung gegeben, daß innerhalb von sechs Monaten der gesamte Zustand der Gesellschaft und die soziale Struktur in Großbritannien verändert sein werden und daß dann alle seine Ansichten zur Verwirklichung kommen werden.“

Ein unentwirrbares Gemisch von Rationalismus, Utopie, Materialismus, religiöser Ahnung, von primitiven Ansichten über das Wesen des Menschen und übernatürlichen Ansprüchen von der Wahrheit der eigenen Überzeugung ist hier vorhanden. Alles aber, so wahr oder so falsch es sein möge, ist von einem zielsicheren Willen durchdrungen, der nur eines verfolgt: Das Gute.

Owen hat nie zum Klassenkampf aufgerufen; sowohl er die Klassen der Gesellschaft genau charakterisierte, wollte er den Frieden unter den Menschen. Zum Träger der Verkündigung der „Neuen Moralischen Welt“ macht er eine „Vereinigung aller Klassen und aller Nationen“.

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 309]

In den letzten Jahren seines Lebens wird er noch zum Spiritualismus bekehrt und nimmt den Kampf dafür mit dem gleichen Enthusiasmus, wie alle früheren Kämpfe auf. Die geistige Welt ist für ihn nur eine „verfeinerte materielle“ Welt, in der die Abgeschiedenen leben. Er war bei vielen Séancen dabei und völlig überzeugt von einem Weiterleben nach dem Tode.

Seine letzten Monate verbringt er in der Stadt seiner Kindheit. Es zieht ihn zurück nach dem Ort, in dem er geboren wurde. Dort stirbt er, in den Morgenstunden des 17. Novembers, im Alter von 87 Jahren. Seine letzten Worte waren: „Relief has come“. Das kann verschieden gedeutet werden. Es kann „Erleichterung“, „Linderung“ heißen, für einen Sterbenden aber war es wohl: „Die Befreiung, die Erlösung ist da.“

VI.

Das Leben Robert Owens war ein ungewöhnlich reiches und vielfältiges. Es deuten zu wollen, wäre nur ein unzulänglicher Versuch. Es war ein Leben, das fast einzig vom Willen bestimmt war und das dadurch Keimhaftes veranlaßte. Man kann den Eindruck haben, daß alles, was Owen dachte, nur wenig Bedeutung für die Zukunft hat. Deshalb wohl war er auch so frühreif und schloß seine Überlegungen und Studien schon in jungen Jahren ab. Von da ab wurde er ein „Genie der praktischen sozialen Wirksamkeit“, wie Rudolf Steiner ihn beschreibt.

Darin, ein Meister des Tuns und des Wirkens zu sein, hat er viel Ähnlichkeit mit zwei seiner unmittelbaren Zeitgenossen: mit Napoleon und Beethoven. Der erste wurde auf den Wogen der Französischen Revolution zu Kriegsruhm und Untergang getragen. Der zweite erhob sich auf den Flügeln der deutschen Musik und stieg, alle anderen überwiegend, zu höchsten Errungenschaften hinan. Beide starben in den zwanziger Jahren des neuen Jahrhunderts. Napoleon 1821, in der Einsamkeit seiner Gefangenschaft; Beethoven 1827, in der Absonderung, die seine Taubheit ihm brachte.

Owen wurde von den Stürmen der sozialen Erhebung ergriffen und mitgenommen. Er siegte wie Napoleon und schuf soziale Kunstwerke von größerer Bedeutung. Zu der Zeit, da die beiden anderen Meister des Willens sich zum Erdenabschied schickten, ging Owen nach Amerika und versuchte das Experiment von New Harmony. Nachher begann nochmals seine Existenz, die wohl Fortsetzung, zugleich aber auch Neuanfang war. Denn nun kam er in die Schattenzone jener sich auftürmenden Wolken, die mit dem Jahre 1841 über die ganze Erde sich ausbreiteten. Rudolf Steiner hat öfter darüber gesprochen [5] „wie die Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders die vierziger Jahre, ein bedeutungsvoller Einschnitt in der geistigen Entwickelung der europäischen und der amerikanischen Menschen ist ... wie damals gewissermaßen der Höhepunkt war der

[5] Rudolf Steiner Der Sturz der Geister der Finsternis. Vorträge vom Oktober 1917. (Dornach 1935)

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 310]

materialistischen Verstandesentwickelung auf der Erde; der Höhepunkt für die Ausbildung desjenigen, was man nennen könnte ein Verstandesbegreifen der äußeren toten Tatsachen, die nicht herangehen wollen an das Lebendige“.

Im Hintergrund dieser Entwickelung stand ein Geisterkampf, der jahrzehntelang dauerte und im Jahre 1879 seinen Abschluß fand. „Dieser Kampf“, so sagt Rudolf Steiner, „hat damit geendet, daß gewisse geistige Wesenheiten, die wie Rebellen in der geistigen Welt sich während dieser Jahrzehnte betätigt haben, besiegt worden sind und als finstere Geister im Herbste 1879 in den Bereich der Menschheitsentwickelung gestoßen wurden.“

Unter dem Schatten dieses Kampfes stand Robert Owens letztes Lebensdrittel; es war die Zeit, in welcher er den utopistischen, prophetischen und spiritistischen Verblendungen unterlag. Sein Herz aber blieb das für die ganze Menschheit sich aufopfern-wollende Organ der Hingabe. Wenn auch im „Kommunistischen Manifest“ Marx und Engels die Träume der ersten Sozialisten eine „Duodezausgabe des Neuen Jerusalem“ nennen und dadurch mit Hochmut auf Fourier, Saint-Simon und Owen herabblicken, so ist es nicht unwahr, das chiliastische Moment darin zu sehen. Sie alle ahnten und erstrebten das tausendjährige Reich, und auch Owen war im Grunde seines Wesens ein Christ. Waren es nicht auch Napoleon und Beethoven? Der damals bevorstehende Geisteskampf, jene „Schlacht im Himmel“ entzündete das Dunkel der napoleonischen Kriege, aber auch das Licht der Neunten Symphonie. Wovon aber Owen erfüllt war, ohne daß er es richtig aussprechen konnte, war jenes „Soziale Hauptgesetz“, das dann Rudolf Steiner im 3. Teil des zu Anfang dieser Ausführungen erwähnten Aufsatzes formulierte. Es heißt dort: „Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.“

Das erstrebte Owen. In seinen Ahnungen lebte es und trieb ihn zu immer neuen Versuchen, es zu verwirklichen. Aber erst der Geisteswissenschaft, die sich nach den Wirren jenes Geisteskampfes, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgefochten wurde, wie ein großes Licht daraus erhob, konnte jene Formulierung gelingen. Von nun an besteht auch die Forderung „solche Einrichtungen zu schaffen, wo niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann, sondern wo diese möglichst ohne Rest der Gesamtheit zu Gute kommen“.

Der Initiator solcher Einrichtungen war Robert Owen, und eine Nachwelt, die noch immer um die in der Tiefe ungelöste „soziale Frage“ ringt, sollte seiner immer wieder neu gedenken.

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 311]

ZUM „SOZIALEN HAUPTGESETZ“

Erläuterungen von Rudolf Steiner

In den Aufsätzen in der Zeitschrift „Lucifer Gnosis“, welche im Jahre 1905 unter dem Titel „Theosophie und soziale Frage“ erschienen [1], formulierte Rudolf Steiner das „Soziale Hauptgesetz“, dessen Wortlaut Karl König in seinem vorangehenden Aufsatz wiedergibt (siehe Seite 311). In jenen an Robert Owen anknüpfenden Beiträgen fügte Rudolf Steiner dem Gesetz u. a. die folgenden erläuternden Sätze zu:

„Es ist klar, daß dieses Gesetz nichts Geringeres besagt als dieses: Die Menschenwohlfahrt ist um so größer, je geringer der Egoismus ist. Man ist also bei der Umsetzung in die Wirklichkeit darauf angewiesen, daß man es mit Menschen zu tun habe, die den Weg aus dem Egoismus heraus finden. Das ist aber praktisch ganz unmöglich, wenn das Maß von Wohl und Wehe des Einzelnen sich nach seiner Arbeit bestimmt. Wer für sich arbeitet, muß allmählich dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für die anderen arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden.“

„Dazu ist aber eine Voraussetzung notwendig. Wenn ein Mensch für einen anderen arbeitet, dann muß er auch in diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden; und wenn jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muß er den Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden und fühlen. Das kann er nur dann, wenn diese Gesamtheit noch etwas ganz anderes ist als eine mehr oder weniger unbestimmte Summe von einzelnen Menschen. Sie muß von einem wirklichen Geiste erfüllt sein, an dem ein jeder Anteil nimmt. Sie muß so sein, daß ein jeder sich sagt: sie ist richtig, und ich will, daß sie so ist. Die Gesamtheit muß eine geistige Mission haben; und jeder Einzelne muß beitragen wollen, daß diese Mission erfüllt werde. All die unbestimmten abstrakten Fortschritts-Ideen, von denen man gewöhnlich redet, können eine solche Mission nicht darstellen. Wenn nur sie herrschen, so wird ein Einzelner da oder eine Gruppe dort arbeiten, ohne daß diese übersehen, wozu sonst ihre Arbeit etwas nütze ist, als daß sie und die Ihrigen oder etwa noch die Interessen, an denen gerade sie hängen, dabei ihre Rechnung finden.“ Und danach formuliert Rudolf Steiner, die Aufgabe eines in der Tiefe gegründeten Welt- und Mensch-Anschauens charakterisierend, folgenden Satz: „Bis in den Einzelnsten herunter muß dieser Geist der Gesamtheit lebendig sein.“

Der Ausarbeitung jener „Weltanschauung“, welche „Wesenheit und Bedeutung der Gesamtheit“ erkennen und empfinden läßt, hat Rudolf Steiner sein Leben gewidmet. Sie steht heute als Anthroposophie inmitten der Geschehnisse der Gegenwart, oft viel zu sehr als „bloße“ Weltanschauung angesehen, während

[1] Als selbständige Schrift erschienen unter dem Titel „Geisteswissenschaft und soziale Frage“. (Dornach 1957)

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 312]

ihr in Wahrheit der Bauplan für die Neugestaltung des sozialen Lebens innewohnt. Das „Soziale Hauptgesetz“ ist ein Ergebnis geisteswissenschaftlicher Forschung. Jene Werke Rudolf Steiners, welche die Gesichtspunkte für eine neue Gestalt des sozialen Lebens – die umfassenden sowohl wie die spezielleren – enthalten, die „Kernpunkte der sozialen Frage“, insbesondere aber auch der sogen. „National-ökonomische Kurs“ [2] schließen sich auf das engste an „Geisteswissenschaft und soziale Frage“ an. Sie könnten eigentlich überschrieben sein: „In Ausführung des ,Sozialen Hauptgesetzes` “.

In alledem handelt es sich keineswegs um billige „Programme“, welche irgendwelche Parlamente oder Regierungen einseitig beschließen und durchführen könnten, ohne daß der einzelne Volksangehörige tätig mitwirkte. Die soziale Wandlung muß tiefgreifend sein und – im Geiste des Reichsfreiherrn vom und zum Stein – auch einen Prozeß von „unten“ her bedeuten. Rudolf Steiner sagt: „Wo immer dieses Gesetz in die Erscheinung tritt, wo immer jemand in seinem Sinne wirkt, soweit es ihm möglich ist auf dem Platze, auf den er in der Menschengemeinschaft gestellt ist: da wird Gutes erzielt, und wenn er im einzelnen Falle auch in einem noch so geringen Maße der Fall ist. Und nur aus Einzelwirkungen, welche auf solche Art zustandekommen, setzt sich ein heilsamer sozialer Gesamtfortschritt zusammen.“ Er fügt hinzu, gerade auch den Einzelnen in seiner Verantwortlichkeit anrufend: „Was aber jeder tun kann, das ist, im Sinne des obigen Gesetzes in seinem Bereiche zu wirken. Es gibt keine Stellung eines Menschen in der Welt, innerhalb welcher man das nicht kann; sie möge anscheinend noch so unbedeutend oder noch so einflußreich sein.“

Dieses Tun aber reicht von der Gestaltung der Verhältnisse in einer Familie, in einem einzelnen Betrieb, in einem heilpädagogischen Institut bis hin zu Leitern großer Gewerkschafts- oder Unternehmerverbände, ja bis zu den Regierungsleuten, denen es obliegt, eine für das ganze Volk gültige, in allen ihren Elementen menschenwürdige Verfassung in diesem Geiste auszuarbeiten.

Die „Teilnahme an den Angelegenheiten des Ganzen ..., entrückt den Menschen den engen Schranken der Selbstsucht, versetzt ihn in das edle Gebiet des Gesamtwohls, und an die Stelle des Strebens nach Genuß und Gewinst, des starren Hinbrütens, der Faulheit, des Versinkens in Gemeinheit tritt ernste Anwendung des Geistes, Willens und Vermögens auf das dem Vaterlande Gemeinnützige und das wahrhaft Wissenswürdige, und es entwickelt sich durch selbständiges, freisinniges Handeln bei dem Einzelnen und der Gesamtheit eine Energie des Geistes und Willens, die eine reiche Quelle des Edlen und Großen ist.“

Reichsfreiherr vom und zum Stein. Aus der Rede zur Eröffnung des Westfälischen Landtages im November 1828.

[2] Rudolf Steiner: „Nationalökonomischer Kurs“. 14 Vorträge vor Studenten der Nationalökonomie, Dornach im Sommer 1922. Als Buch: Dornach 1931.

[Zeitschrift „Die Drei“, Jahrgang 28, Heft 6/1958, Seite 313]