Bernhard Behrens „Anthroposophisch orientierte Wirtschaftswissenschaft“

Eine Rezension von Hans Erhard Lauer

03.08.1930

Ich möchte hier auf eine anthroposophisch-wissenschaftliche Arbeit hinweisen, von der ich meine, dass sie aufs wärmste begrüsst werden sollte. Es ist eine Verarbeitung des – so lange mehr oder weniger brach gelegenen – nationalökonomischen Kurses Rudolf Steiners, die Bernhard Behrens seit kurzem unter dem Titel „Anthroposophisch orientierte Wirtschaftswissenschaft“ in fortlaufenden Lieferungen erscheinen zu lassen begonnen hat (im Verlag der Rudolf Steiner-

[Zeitschrift „Goetheanum“, Nummer 31, 1930, Seite 246]

Blätter, Hamburg 24). Die Veröffentlichung geht hervor aus nationalökonomischen Studien, die der Verfasser seit Jahren innerhalb des von Louis Werbeck begründeten anthroposophischen Seminars in Hamburg leitet. Bisher sind zwei Lieferungen zur Ausgabe gelangt. Sie lassen für die Fortsetzungen das Beste erwarten. Denn was sie bieten, ist mustergültig. Ihre Ausführungen schliessen sich, wie gesagt, hauptsächlich an den nationalökonomischen Kurs an. Es werden aber aufs glücklichste auch die einschlägigen Darstellungen aus den „Kernpunkten der sozialen Frage“ und aus sozialwissenschaftlichen Vorträgen Rudolf Steiners mitverarbeitet. Auch die zünftige nationalökonomische Literatur findet fruchtbare Verwertung. So baut der Verfasser auf breiter Basis eine ganz neue Wirtschaftslehre auf. Deren philosophisch-methodologische Fundierung ist ausserordentlich gediegen. Die Gedankenführung von strenger Folgerichtigkeit und übersichtlicher Klarheit.

Das erste Heft gibt zunächst die anthroposophische Grundlegung. Die Wirtschaftslehre ist ein Glied der Sozialwissenschaften und steht als solches in der Mitte zwischen der Naturforschung und den eigentlichen Geisteswissenschaften. Indem sie als Sozialwissenschaft untersucht, in welcher Art auf ihrem besondern Gebiet Mensch zu Mensch in ein Verhältnis tritt, stösst sie auf den Tausch von Waren bezw. Leistungen als auf das Urphänomen des heutigen Wirtschaftslebens. Die Preisbildung, die dabei durch Verwendung des Geldes als Tauschmittel entsteht, ist der Ausdruck – gleichsam das Thermometer – für die Gesundheit oder Ungesundheit der bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse. Zu erkennen, wie aus der Wirksamkeit der verschiedenen Faktoren des Wirtschaftslebens zuletzt eine bestimmende Preisgestaltung hervorgeht, bildet daher die Hauptaufgabe der Wirtschaftswissenschaft.

Um diese zu lösen, wird im zweiten Heft zunächst ein Überblick über das Gesamtgebiet und die Grenzen der Wirtschaft gegeben. Gezeigt wird, wie sie auf der einen Seite anstösst an die Naturgrundlage, auf der andern an das Rechtsgebiet (den Staat) und das Geistesleben. Dann werden die wesentlichsten in ihr tätigen Faktoren geschildert, als da sind Natur, Arbeit, Kapital. Aus deren verschiedenartigem Zusammenwirken ergeben sich zwei Hauptgruppen von Erzeugnissen: die mehr naturbestimmten der Landwirtschaft und die mehr kapitalbestimmten der Industrie. Den Ausgleich zwischen beiden herzustellen, bildet die eigentliche Aufgabe des Handels.

Soweit der bisherige Gedankengang der Veröffentlichung. Vielleicht hätte der Verfasser, um die umwälzende Bedeutung der neuen Auffassung stärker hervortreten zu lassen, an einigen Stellen als Folie die üblichen Anschauungen mehr heranziehen dürfen. So z. B. wo er zeigt, dass die Bedürfnisse aus dem Geistesleben heraus entstehen müssen – während sie heute von der Wirtschaft nicht bloss befriedigt, sondern auch erzeugt werden. Oder wo er nachwies, dass Arbeit als solche noch keinen wirtschaftlichen Wert besitzt, sondern diesen erst durch ihre Verwendung für eine den Bedürfnissen dienliche Produktion gewinnt. Denn die ganze heutige Wirtschaftspraxis ist gerade durch die Nichtberücksichtigung dieser Fundamental Wahrheit gekennzeichnet.

Doch vielleicht geben die folgenden Lieferungen noch Gelegenheit zu solchen Hinweisen. Man möchte der Veröffentlichung jedenfalls weiteste Verbreitung wünschen. Denn das Wirtschaftsleben ist ja nicht ein Gebiet für bloss gelehrte Fachinteressen. Sondern es geht jeden Menschen an. Nicht bloss in dem allgemeinen Sinne, dass jeder als Erzeuger oder Verbraucher in ihm drinnensteht. Sondern auch in dem speziellen Sinne, dass heute – durch seine arbeitsteilige Struktur – alles, was irgend ein einzelner wirtschaftlich tut, nicht bloss für ihn selbst, sondern für den gesamten Wirtschaf tsprozess seine Bedeutung und seine Folgen hat. Sich der Bedingungen für das Leben und die Gesundheit der Wirtschaft bewusst zu werden, ist daher heute nicht eine bloss private und theoretische Angelegenheit, sondern eine soziale Forderung und der erste praktische Schritt zur Besserung der ja gerade gegenwärtig immer tiefer in eine allgemeine Krise versinkenden Weltwirtschaftsverhältnisse.

[Zeitschrift „Goetheanum“, Nummer 31, 1930, Seite 247]