- Startseite ›
- Forschung ›
- Rudolf Steiner ›
- Zitate ›
- ›
- Das zentrale Verwaltungsorgan rückt das einzelne Kind ins Zentrum
Das zentrale Verwaltungsorgan rückt das einzelne Kind ins Zentrum
Quelle: GA 257, S. 086, 4. Ausgabe 1989, 21.07.1924
Zunächst möchte ich dieses andeuten, daß die Seele alles Unterrichtens und Erziehens in der Waldorfschule zunächst die Lehrerkonferenz ist, jene Lehrerkonferenzen, welche regelmäßig vom Lehrerkollegium abgehalten werden und denen ich beiwohne, wenn ich selber in Stuttgart sein kann. Diese Lehrerkonferenzen befassen sich nun nicht bloß mit demjenigen, was äußere Schuleinrichtungen sind, etwa mit der Abfassung des Lehrplanes, mit der Gliederung der Klassen und so weiter, sondern sie befassen sich in einer eingehenden Weise mit dem ganzen Leben der Schule und mit allem, was dieses Leben der Schule beseelen soll. Nun ist ja die Schule daraufhin eingerichtet, Unterricht und Erziehung zu leisten auf Grundlage von Menschenerkenntnis, das heißt aber dann, auf Grundlage der Erkenntnis der einzelnen Kinderindividualitäten. Daher bildet die Beobachtung, die psychologische Beobachtung der Kinderindividualitäten ein wesentliches Moment in der ganzen Ausgestaltung des Unterrichtes im einzelnen, im konkreten. In den Lehrerkonferenzen wird über das einzelne Kind so gesprochen, daß das Wesen der menschlichen Natur eben in jener besonderen Individualität erfaßt zu werden versucht wird, die in einem Kinde gegeben ist. Sie können sich denken, daß man da alle Grade und Arten von kindlichen Befähigungen und kindlichen Seelenkräften vor sich hat. Man hat da alles vor sich, was im kindlichen Menschen vorhanden ist von der, man möchte sagen psychologisch-physiologischen Minderwertigkeit bis hinauf - hoffentlich bestätigt das das Leben - zur Genialität.
Wenn man Kinder beobachten will nach ihrer wirklichen Wesenheit, dann handelt es sich vor allem darum, daß man den psychologischen Blick für die Kinderbeobachtung sich erwirbt. Dieser psychologische Blick schließt nicht nur eine gröbere Beobachtung der einzelnen kindlichen Fähigkeiten ein, sondern vor allen Dingen eine Bewertung dieser kindlichen Fähigkeiten. Denn Sie müssen nur das Folgende bedenken: Man kann ein Kind vor sich haben, das außerordentlich begabt erscheint in bezug auf Lesen- oder Schreibenlernen, das sehr begabt erscheint zum Beispiel in bezug auf Rechnenlernen oder Sprachenlernen. Aber stehenbleiben dabei, sich zu sagen: Dieses Kind ist begabt, denn es lernt leicht Sprachen, lernt leicht Rechnen und so weiter - das ist eine psychologische Oberflächlichkeit. Im kindlichen Alter, etwa von 7, 8 oder 9 Jahren, kann die Leichtigkeit, mit der das Kind lernt, bedeuten, daß aus dem Kinde einstmals ein Genie werden wird; sie kann aber ebensogut bedeuten, daß aus ihm einmal ein nervenkranker oder irgendwie anders kranker Mensch wird. Wenn man einen Einblick darin hat, daß ja die menschliche Wesenheit außer dem physischen Leib, der sich dem Auge darbietet, auch noch den ätherischen Leib in sich trägt, der den Wachstums- und Ernährungskräften zugrunde liegt, der das Kind größer werden läßt; wenn man weiter bedenkt, daß der Mensch auch einen astralischen Leib in sich hat, der in seinen Gesetzen überhaupt nichts mehr mit dem zu tun hat, was physisch aufbauend ist auf der Erde, sondern der eigentlich das Physische fortwährend abbaut, es zerstört, damit das Geistige Platz hat; und wenn man weiter bedenkt, daß dann noch mit dem Menschen die Ich-Organisation verbunden ist, so daß man die drei höheren Organisationen - ätherischer Leib, astralischer Leib, Ich-Organisation ebenso beachten muß wie den sichtbaren physischen Leib, dann wird man sich auch eine Vorstellung davon bilden können, wie kompliziert ein solches Menschenwesen eigentlich ist, und wie jedes dieser Glieder der menschlichen Wesenheit bewirken kann, daß auf irgendeinem Gebiete Begabung oder Nichtbegabung vorhanden ist, oder eine trügerische Begabung, eine vorübergehende, krankhafte Begabung sich zeigt. Dafür muß man sich den Blick aneignen, ob nun die Begabung eine solche ist, die nach dem Gesunden hingeht oder eine solche, die etwa nach dem Krankhaften hingeht.
Wenn man diejenige Menschenerkenntnis, von der hier in diesen Vorträgen die Rede ist, mit der nötigen Liebe, Hingabe und Opferwilligkeit als Lehrer und Erzieher vertritt, dann stellt sich das Eigentümliche heraus, daß man im Zusammenleben mit den Kindern - mißverstehen Sie das Wort nicht, es soll nicht eine Renommage bedeuten - immer weiser und weiser wird. Man findet es sozusagen selber, wie man irgendeine Fähigkeit oder Verrichtung eines Kindes zu taxieren hat. Man lernt sich eben ganz hineinleben in die Natur des Kindes und verhältnismäßig schnell sich hineinleben.
Ich weiß, daß mancher sagen wird: Wenn du uns da behauptest, daß der Mensch außer seinem sichtbaren Leib noch die übersinnlichen Glieder, Ätherleib, Astralleib und Ich-Organisation hat, so könnte doch eigentlich nur der hellsichtige Mensch Lehrer sein, der diese übersinnlichen Glieder der Menschennatur schauen kann. Das ist aber nicht der Fall. Alles was durch Imagination, Inspiration und Intuition am Menschen geschaut werden kann, wie ich es in meinen Büchern beschrieben habe, das kann, weil es beim Kinde in der physischen Organisation überall sich ausdrückt, auch beurteilt werden an der physischen Organisation. Daher liegt durchaus die Möglichkeit vor, daß ein Lehrer oder Erzieher, der einfach in liebevoller Weise auf der Grundlage einer umfassenden Menschenerkenntnis seinen Beruf ausübt, davon sprechen kann, daß er in einem bestimmten Falle zum Beispiel sagt: Hier liegt vor, daß ein Kind in bezug auf sein Ich, seinen astralischen Leib und auch in bezug auf seinen ätherischen Leib ganz gesund ist; der physische Leib aber zeigt in sich Verhärtungen, Versteifungen, so daß das Kind seine Fähigkeiten, die es im Geistigen veranlagt hat, nicht herausbilden kann, weil der physische Leib ein Hindernis ist.
Und deshalb ist das Herz der Waldorfschule, wenn ich von ihrer Organisation spreche, die Lehrerkonferenz, es sind die Lehrerkonferenzen, die von Zeit zu Zeit immer abgehalten werden. Wenn ich selbst in Stuttgart sein kann, geschieht sie unter meiner Leitung, sonst aber finden diese Lehrerkonferenzen auch in verhältnismäßig sehr kurzen Zwischenräumen statt. Da wird wirklich bis ins Einzelnste hinein alles vor der gesamten Lehrerschaft verhandelt über die gesamte Schule, was der einzelne Lehrer in seiner Klasse an Erfahrungen machen kann. So daß fortwährend diese Lehrerkonferenzen die Tendenz haben, die Schule so als einen ganzen Organismus zu gestalten, wie der menschliche Leib ein Organismus ist dadurch, daß er ein Herz hat. Da handelt es sich allerdings bei diesen Lehrerkonferenzen viel weniger um abstrakte Grundsätze, sondern überall bei den Lehrern um den guten Willen zum Zusammenleben, um das Hintanhalten jeder Art von Rivalität. Und vor allen Dingen handelt es sich darum, daß man etwas, was dem anderen nützt, nur vorbringen kann, wenn man die entsprechende Liebe zu jedem einzelnen Kinde hat. Aber ich meine dabei nicht jene Liebe, von der man oft spricht, sondern jene Liebe, die man gerade als artistischer Lehrer hat.
Diese Liebe, die hat noch eine andere Nuance als die gewöhnliche Liebe. Es ist ja wiederum eine andere Nuance, aber dennoch, wer mit kranken Menschen als Menschen innig Mitleid haben kann, hat zunächst die allgemeine Menschenliebe. Aber um einen Kranken zu behandeln, muß man auch - bitte, mißverstehen Sie das nicht, aber es ist so - die Liebe zur Krankheit haben können. Man muß auch sprechen können von einer schönen Krankheit. Die ist natürlich sehr schlimm für den Patienten, aber sie ist für denjenigen, der sie behandeln muß, eine schöne Krankheit. Eine prachtvolle Krankheit kann sie unter Umständen sein. Sie mag sehr schlimm sein für den Patienten, sie ist aber für den, der sich hineinversetzen muß, der sie mit Liebe behandeln können muß, eine prachtvolle Krankheit. Und so ist auch ein völlig nichtsnutziger Knabe, ein Strick, wie man im Deutschen sagt, der ist unter Umständen durch die Art, wie er sein Stricktum auslebt, wie er schlimm ist, wie er nichtsnutzig ist, zuweilen so außerordentlich interessant, daß man ihn außerordentlich lieben kann.