Auch geistige Prügelstrafe durch realistische Puppen soll in Erziehung abgeschafft werden

Quelle: GA 307, S. 113-116, 5. Ausgabe 1986, 10.08.1923, Ilkley (GB)

Unser humanes Zeitalter hat, mit Recht selbstverständlich, ein sehr gebräuchliches Erziehungsmittel der früheren Zeiten abgeschafft: das Prügeln, das Schlagen. Aber unsere Zeit - es soll mir niemand den Vorwurf machen, daß ich etwa für die Prügelstrafe in diesem Vortrage eintrete -, unsere Zeit hat gerade deshalb das große Talent gehabt, die Prügelstrafe im Unterrichtswesen zu entfernen, weil ja dieses Zeitalter auf Äußerlichkeiten gut eingestellt ist, weil dieses Zeitalter die Schädlichkeiten der Schläge für den physischen Organismus und die moralischen Konsequenzen, die aus dieser Schädigung des physischen Organismus beim Prügeln hervorgehen, ganz gut einsehen kann.

Aber in der Kindererziehung ist gerade in diesem Zeitalter, das so sehr orientiert ist auf das Physische, Sinnliche und wenig orientiert ist auf das Geistige und Seelische, eine furchtbare Prügelei eingezogen, eine Prügelei, von der man sich allerdings keine Vorstellung macht, weil man heute eben allzuwenig auf den Geist hin orientiert ist.

Unsere Mütter, bisweilen unsere Väter auch, finden es in einer außerordentlich starken Weise notwendig, zum Beispiel dem kleinen Mädchen eine sehr schöne Puppe zu schenken, damit das kleine Mädchen im Spielalter nun mit der schönen Puppe spielen kann. Diese «schöne Puppe» ist ja trotzdem immer scheußlich, weil sie unkünstlerisch ist; aber sie ist, wie man bisweilen meint, eine schöne Puppe, die «richtige» Haare hat, die auch richtig angemalt ist, die sogar bewegliche Augen hat - wenn man sie niederlegt, schließt sie die Augen, verdreht sie, wenn man sie aufhebt, schaut sie einen an -, bewegliche Puppen sind sogar entstanden; kurz, es sind Spielzeuge in die Spielweisen der Kinder eingezogen, die in einer merkwürdigen, unkünstlerischen, aber vermeintlich das Leben nachahmenden Weise nun an das Kind herangebracht werden sollen. Die Puppe ist bloß ein charakteristisches Beispiel; wir formen ja alle unsere Spielzeuge nach und nach aus unserer Zivilisation heraus in einer solchen Weise. Diese Spielzeuge sind die furchtbarste innere Prügelei der Kinder. Und wie sich Kinder innerhalb der Familie, der Gemeinschaft ja auch wacker artig zeigen, wenn man sie verprügelt, wie das also durch Konventionelles hervorgerufen werden kann, so drücken auch die Kinder dasjenige aus Artigkeit nicht aus, was eigentlich tief im Grunde ihrer Seele wurzelt: die Antipathie gegen diese schöne Puppe. Wir bringen mit aller Gewalt dem Kinde bei, daß ihm das sympathisch sein soll, aber die unbewußten, unterbewußten Kräfte im Kinde spielen stark, und denen ist eigentlich all das, was in dem Stil der «schönen Puppe» ist, tief unsympathisch; denn es ist, wie ich gleich zeigen werde, eine innerliche Prügelei des Kindes.

Geht man aber so vor, daß dasjenige in Betracht gezogen wird, was das Kind in seinem einfachen Denken bis zum vierten, fünften Jahre, ja noch bis zum sechsten, siebenten Jahre hin, schon innerlich erfahren hat beim Aufrichten, beim Vertikalrichten, beim Spüren des Gehens, dann bekommt man eine Puppe, die man aus einem Taschentuch formt, oben den Kopf, ein Paar Tintenkleckse für die Augen allenfalls, und dann hat man in dieser Puppe all dasjenige, was das Kind verstehen kann, was das Kind auch lieben kann. Da sind in einer primitiven Weise die Eigenschaften der menschlichen Gestalt vorhanden, soweit sie das Kind einzig und allein in seinem Kindesalter überschauen kann.

Das Kind weiß nicht mehr vom Menschen, als daß der Mensch aufrecht ist, daß er ein Unten und ein Oben hat, daß da oben ein Kopf ist, und daß ein Paar Augen da sind; den Mund - das werden Sie bei kindlichen Zeichnungen finden -, den zeichnen sie manchmal auf die Stirne hinauf. Die Lage des Mundes ist noch nicht einmal klar. Dasjenige, was das Kind wirklich erlebt, ist aus der Puppe, die aus dem Taschentuch geformt und mit ein paar Tintenklecksen versehen ist, zu ersehen. Im Kinde arbeitet eine innerliche plastische Kraft. All dasjenige, was aus der Umgebung des Kindes an das Kind herankommt, geht über in ein inneres Bilden, auch in das Organbilden.

Wenn das Kind, sagen wir, einen Vater neben sich hat, der sich alle Augenblicke in Jähzorn äußert, wo also alle Augenblicke im unmittelbar äußerlichen Erlebnisse etwas vorkommt, was Schock bewirkt, ein Unmotiviertes ist, dann erlebt das Kind dies mit; das Kind erlebt dies so mit, daß es sich ausdrückt in seinem Atem und seiner Blutzirkulation. Indem es sich aber ausdrückt in der Atmung und Blutzirkulation, gestaltet es Lunge, gestaltet es Herz, gestaltet es das ganze Gefäßsystem; und das Kind trägt dasjenige plastisch gestaltet innerlich sein ganzes Leben hindurch mit, was es durch den Anblick der Taten eines jähzornigen Vaters in sich plastisch ausgebildet hat.

Damit will ich nur andeuten, wie das Kind eine innerlich wunderbar wirkende plastische Kraft hat, wie das Kind fortwährend innerlich als Bildhauer an sich arbeitet. Und wenn Sie dem Kinde die Puppe aus dem Taschentuch geben, dann gehen die Kräfte, die aus dem menschlichen Organismus plastisch bildend in das Gehirn heraufgehen, die namentlich aus dem rhythmischen System, aus Atmung und Blutzirkulation das Gehirn ausbilden, sanft in das Gehirn. Sie bilden das kindliche Gehirn so, wie ein Bildhauer arbeitet, der mit biegsamer, leicht beweglicher, durchgeistigter, beseelter Hand den bildhauerischen Stoff bearbeitet: da geht alles in Bildsamkeit und in organischer Entwickelung vor sich. Das Kind schaut sich dieses zur Puppe geformte Taschentuch an, und das wird im Menschen Bildekraft, richtige Bildekraft, die aus dem rhythmischen System heraus sich gestaltet in das Gehirnsystem.

Wenn Sie dem Kinde eine sogenannte schöne Puppe geben - die Puppe, die sich sogar bewegen kann, die Augen bewegen kann, die angestrichen ist, schöne Haare hat, wenn Sie dem Kind dieses künstlerisch angeschaut, furchtbar scheußliche Gespenst übergeben, dann wirken die Kräfte aus dem rhythmischen System herauf, diese plastischen Kräfte, die vom Atmungs- und Blutsystem das Gehirnsystem gestalten, fortwährend wie Peitschenhiebe: das alles, was das Kind noch nicht verstehen kann, das peitscht herauf in das Gehirn. Das Gehirn wird gründlich durchgepeitscht, durchgeprügelt in einer furchtbaren Art. Das ist das Geheimnis der schönen Puppe. Das ist aber auch das Geheimnis des kindlichen Spiellebens in vieler Beziehung.

Man muß sich klar sein darüber, wenn man nun liebevoll das Kind zum Spiel anleiten will, wieviel von innerlich bauenden Kräften beim Kind zum Vorschein kommt. In dieser Beziehung sieht ja unsere ganze Zivilisation falsch. Unsere Zivilisation hat zum Beispiel den sogenannten Animismus erfunden. Das Kind, das sich an dem Tisch stößt, schlägt die Tischecke. Da sagt unsere Zeit: das Kind belebt den Tisch, stellt den Tisch vor, wie wenn er leben würde, wie ein Lebewesen, träumt das Leben in den Tisch hinein, schlägt den Tisch.

Das ist ja gar nicht wahr. Das Kind träumt gar nichts in den Tisch hinein, sondern aus den Lebewesen, aus den Wesen, die wirklich leben, träumt es das Leben heraus. Nicht daß es in den Tisch das Leben hineinträumt, sondern aus den wirklichen Lebewesen träumt es das Leben heraus. Und wenn es sich verletzt hat, so schlägt es aus einer Art Reflexbewegung; und da alles noch unbelebt ist für das Kind - es träumt nicht das Leben in den Tisch hinein -, verhält es sich gegen das Belebte und Unbelebte gleich.

Aus solchen ganz verkehrten Ideen sieht man, wie unsere Zivilisation gar nicht in der Lage ist, an das Kind heranzukommen. Und so handelt es sich darum, daß wir uns wirklich liebevoll dem Kinde gegenüber verhalten können, daß wir dasjenige, was es selber will, nur liebevoll anleiten. Und so sollen wir es nicht innerlich verprügeln durch schöne Puppen, so sollen wir mit ihm leben können und die Puppe gestalten, die es innerlich selber erlebt.