Anthroposophische Gesellschaft und Individualismus

Quelle: GA 258, S. 144-146, 3. Ausgabe 1981, 16.06.1923, Dornach

Was nützt es denn, wenn wir den Leuten immer wieder und wiederum sagen, wir seien keine Sekte, wenn wir uns so verhalten, wie wenn wir eine Sekte wären. Denn, sehen Sie, was vor allem verstanden werden sollte durch die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, das ist die Bedingung einer Gesellschaft überhaupt in der modernen Zeit. Eine Gesellschaft kann gar nicht eine Sekte sein. Daher darf eigentlich gar niemals, wenn die Anthroposophische Gesellschaft auf ihrem richtigen Boden stehen soll, das «wir» mit Bezug auf die Anschauungen eine Rolle spielen. Immer wieder und wiederum hört man von Anthroposophen der Außenwelt gegenüber sagen: Wir, die Gesellschaft, haben diese oder jene Anschauung. Mit uns geschieht das oder jenes. Wir wollen dies oder jenes. - Das war in alten Zeiten möglich, daß in einer solchen Konformität Gesellschaften vor die Welt sich hinstellten. Das ist in unserer Zeit nicht mehr möglich. In unserer Zeit muß gerade innerhalb einer solchen Gesellschaft jeder einzelne Mensch ein wirklich freier Mensch sein. Anschauungen, Gedanken, Meinungen hat nur jeder einzelne. Die Gesellschaft hat keine Meinung. Und das muß schon im sprachlichen Ausdruck, mit dem der einzelne von der Gesellschaft spricht, zum Ausdruck kommen. Das «wir» muß eigentlich schwinden.

Damit ist noch etwas anderes verbunden. Wenn dieses «wir» schwindet, dann fühlt sich nicht jeder in der Gesellschaft wie in einem Wassertümpel drinnen, von dem er getragen wird und auf den er sich entsprechend beruft, wenn es darauf ankommt. Sondern, wenn er in der Gesellschaft seine eigene Meinung und sich selbst vor allen Dingen zu vertreten hat, fühlt er sich auch für dasjenige voll verantwortlich, was er als einzelner, als Individualität spricht.

Diese Verantwortlichkeit ist dasjenige, was immer größer und größer werden muß, solange die Gesellschaft noch eine kleine Schar ist. Da es nun einmal durch die Lebensusancen bisher nicht erreicht worden ist, daß die Anthroposophische Gesellschaft von der Außenwelt als eine eminent moderne Gesellschaft aufgefaßt wird - weil diese Lebensusancen immer wieder und wiederum es mit sich gebracht haben, daß der Ausdruck: Wir glauben das, wir meinen das, wir sind dieser Ansicht, das ist unsere Weltanschauung und dergleichen -, so vielfach vor die Welt eben hingestellt worden ist, so daß die Welt draußen heute meint: Da ist eine kompakte Masse, die hat diese Anschauung, wenn man in sie eintreten will, muß man sich dieser gemeinsamen Meinung verschreiben, was natürlich jede selbständige Seele abstößt -, nachdem das schon einmal geschehen ist, muß heute an eine Maßregel gedacht werden, an die vielleicht vor einem Jahre noch nicht gedacht zu werden brauchte. Weil die Dinge noch nicht so weit vorgeschritten waren, weil man damals noch nicht mit Carbonari und Sowjetregierung und irischem Republikanismus zusammengestellt worden ist - natürlich das alles mit bestimmten hinterlistigen Zwecken -, so erscheint es heute schon wie eine Notwendigkeit, darüber ernstlich nachzudenken, wie man die drei Punkte beseitigen kann, die immer wieder und wieder angeführt werden: Brüderlichkeit ohne Unterschied von Rasse und so weiter, und dann vergleichendes Studium der Religionen und Studium der spirituellen Welten und spirituellen Methoden. Indem diese drei Punkte angeführt werden, macht das den Eindruck vor der Welt, als ob man auf diese drei Punkte zu schwören hätte. Man muß eine ganz andere Form finden, und vor allen Dingen muß man dafür eine Form finden, daß jeder, der sich eben nicht einer Meinung verschreiben will, sondern der Interesse hat für die Pflege geistigen Lebens, nicht die Meinung zu haben braucht, er verschreibe sich in der Seele mit Haut und Haar bestimmten Meinungen. Das ist dasjenige, worüber heute eben nachgedacht werden muß, weil das zu den Lebensbedingungen der Gesellschaft gehört, nachdem wir die besondere Konfiguration der dritten Epoche erlebt haben.

Ich bin oftmals gefragt worden von diesem oder jenem, ob er denn der Anthroposophischen Gesellschaft beitreten kann oder nicht, da er sich noch nicht bekennen kann zu dem, was die Anthroposophie vorschreibt. Ich habe gesagt, das wäre eine traurige Gesellschaft im heutigen Sinne, die ihre Mitglieder rekrutieren wollte aus denjenigen, die sich bekennen zu dem, was nun da vorgeschrieben wird. Es wäre ja etwas Entsetzliches. Ich sagte immer, es kann sich bei der ehrlichen Mitgliedschaft um nichts anderes handeln, als daß man das dadurch ausdrückt: man hat ein Interesse daran, daß es eine Gesellschaft gibt, die überhaupt den Weg zur geistigen Welt hin sucht. Ein Interesse hat man daran. Wie das dann gemacht wird, das ist Angelegenheit derjenigen, die in der Gesellschaft drinnen sind. Dazu trägt der eine dies, der andere jenes bei.

Ich kann durchaus verstehen, daß jemand nicht einer Gesellschaft angehören will, bei der er sich zu Glaubensartikeln verpflichten muß. Aber dann, wenn man sagt: Wer Interesse hat für die Pflege des geistigen Lebens, kann in dieser Gesellschaft sein, dann werden sich diejenigen finden, die ein solches Interesse haben. Und die anderen, nun, die werden draußen bleiben, aber die werden immer mehr und mehr in die Absurdität des Lebens hineingeführt werden.