Anthroposophische Gemeinschaftsbildung

Quelle: GA 257, S. 118-119, 4. Ausgabe 1989, 27.02.1923, Stuttgart

Gehen Sie in die primitiven Gemeinschaften, da gibt es noch etwas anderes als bloß die Sprache. Die Sprache ist dasjenige, was im oberen Menschen sitzt. Fassen Sie den ganzen Menschen ins Auge, so finden Sie in primitiven Menschengemeinschaften dasjenige, was Mensch an Mensch bindet, in dem gemeinschaftlichen Blute. Die Blutsbande halten die Menschen zur Gemeinschaft zusammen. Aber in dem Blute lebt das als Gruppenseele oder als Gruppengeist, was bei einer freien Menschheit sich nicht in derselben Weise findet. In eine Gruppe von Menschen, die durch Blutsbande zusammengebunden war, war eingezogen ein gemeinsames Geistiges, gewissermaßen von unten herauf. Da, wo gemeinsames Blut durch die Adern einer Anzahl von Menschen strömt, ist ein Gruppengeist vorhanden. So kann auch durch dasjenige, was wir gemeinsam erleben, indem wir gemeinsam Anthroposophisches aufnehmen, zwar nicht ein solcher Gruppengeist durch das Blut, aber doch ein realer Gemeinschaftsgeist herangezogen werden. Vermögen wir diesen zu empfinden, dann binden wir uns als Menschen zu wahren Gemeinschaften zusammen. Wir müssen einfach Anthroposophie wahr machen, wahr machen dadurch, daß wir ein Bewußtsein hervorzurufen verstehen in unseren anthroposophischen Gemeinschaften, daß, indem die Menschen sich finden zu gemeinsamer anthroposophischer Arbeit, der Mensch am Geistig-Seelischen des andern Menschen erst erwacht. Die Menschen erwachen aneinander, und indem sie sich immer wieder und wiederum finden, erwachen sie, indem jeder in der Zwischenzeit ein anderes durchgemacht hat und etwas weitergekommen ist, in einem gewandelten Zustand aneinander. Das Erwachen ist ein Erwachen in Sprossen und Sprießen. Und wenn Sie erst die Möglichkeit gefunden haben, daß Menschenseelen an Menschenseelen und Menschengeister an Menschengeistern erwachen, daß Sie hingehen in die anthroposophischen Gemeinschaften mit dem lebendigen Bewußtsein: Da werden wir erst zu so wachen Menschen, daß wir da erst Anthroposophie verstehen miteinander, und wenn Sie dann auf Grundlage dieses Verständnisses in eine erwachte Seele - nicht in die für das höhere Dasein schlafende Seele des Alltags - die anthroposophischen Ideen aufnehmen, dann senkt sich über Ihre Arbeitsstätte herunter die gemeinsame reale Geistigkeit. Ist es denn Wahrheit, wenn wir von der übersinnlichen Welt reden und nicht imstande sind, uns aufzuschwingen zum Erfassen solcher realen Geistigkeit, solches umgekehrten Kultus? Erst dann stehen wir wirklich im Ergreifen, im Erfassen des Spirituellen drinnen, wenn wir nicht nur die Idee dieses Spirituellen abstrakt haben und etwa sie theoretisch wiedergeben können, auch für uns selbst theoretisch wiedergeben können, sondern wenn wir glauben können, aber glauben auf Grundlage eines beweisenden Glaubens, daß Geister im geistigen Erfassen geistige Gemeinschaft mit uns haben. Sie können nicht durch äußere Einrichtungen die anthroposophische Gemeinschaftsbildung hervorrufen. Sie müssen sie hervorrufen aus den tiefsten Quellen des menschlichen Bewußtseins selbst.