- Startseite ›
- Forschung ›
- Rudolf Steiner ›
- Zitate ›
- ›
- Deutsches Geistesleben anders als Politik und Wirtschaft noch zu retten
Deutsches Geistesleben anders als Politik und Wirtschaft noch zu retten
Quelle: GA 300b, S. 254-255, 4. Ausgabe 1975, 31.01.1923, Stuttgart
Dr. Steiner: Die allgemeine Lage jetzt zu besprechen, ist nicht so leicht, weil die Sache gilt, die ich einmal mit immer wieder hervortretender Deutlichkeit gesagt habe, während ich hier die Vorträge über Dreigliederung hielt: Man muß etwas tun, bevor es zu spät ist. Es ist heute zu spät, irgendwie auf dem Felde desjenigen, was man bisher in Europa Politik genannt hat, etwas zu erreichen. Die einzige Anregung, die ich gegeben habe, war die Verwandlung des alten Dreigliederungsbundes in den "Bund für freies Geistesleben". Diese Anregung ging aus von der Erkenntnis, daß man in der Zukunft für Europa und für die gegenwärtige westliche Zivilisation nur noch etwas tun kann durch die Förderung des Geisteslebens als solches. Von da aus muß alles übrige ausgehen. Sowohl die Dinge, die unter dem gegenwärtigen Regime wirtschaftlich gemacht werden, wie alle politischen Impulse, sind heute machtlos. Es ist nur möglich, das Geistesleben zu fördern und zu hoffen, daß etwas geschehen kann. Es handelt sich darum, alles das, was uns in dieser Richtung obliegt, zusammenzufassen unter dem einen. Ich habe früher einen Ausspruch von Nietzsche aus den Briefen von 1871 zitiert, das ist der, daß dazumal eingeleitet worden ist die Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches. Heute gilt es, das Gegenteil zu erreichen: Die Herstellung des deutschen Geistes trotz des Zerfalles aller politischen Institutionen; so kommt man auch vorwärts. Man muß sich stramm auf diesen Boden stellen. Alles übrige muß von Fall zu Fall entschieden werden.
Die Frage der Ruhrbesetzung ist unter dem Gesichtspunkt zu behandeln, daß ein Ertrinkender alles macht. Aus dem Ertrinken und Toben heraus werden die Dinge einer hysterischen Politik gemacht. Das Tragische ist, daß so ungeheuer gelitten wird unter dem Zucken eines Riesentodes. Deshalb bin ich dafür, zur Ruhrspende beizutragen, wo es möglich ist. Es ist eine humanitäre Sache. Man kann absehen von aller nationalistischen Farbe. Man kann die Sache auffassen als eine rein menschliche Sache. Ich bin für alle diese Dinge, insoferne sie rein menschliche Angelegenheiten sind.
Wir stehen heute vor einem Abgrund in der europäischen Kultur, und wir müssen uns anschicken, diesen Abgrund zu überspringen. Ich habe längst aufgehört, nach dieser Richtung Artikel zu schreiben. Ich habe den letzten geschrieben, als die Genueser Konferenz war, um noch einmal auf das Ganze aufmerksam zu machen. Wenn ich in Dornach Arbeitervorträge halte, so machen die Arbeiter gar nicht mehr den Anspruch, etwas Politisches zu hören. Sie lassen sich naturwissenschaftliche Vorträge halten, weil sie begreifen, daß das ganze politische Reden heute gegenstandslos geworden ist.
Wenn Sie meinen, daß Sie eine Sammlung anlegen können, sie wird wahrscheinlich nicht reichlich ausfallen, sie kann gering sein.
