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Zeitpunkt für Wirtschaftsleben nur in Mitteleuropa vorüber
Quelle: GA 305, S. 203-206, 3. Ausgabe 1991, 28.08.1922, Oxford
Wenn man über diese Frage als die soziale Grundfrage in unserer Zeit richtig denken will, dann muß man ganz wirklichkeitsgemäß denken, nur aus den Tatsachen heraus denken. Dann aber denkt man für einen bestimmten Zeitpunkt und für einen bestimmten Ort. Und ich habe in meinem Buche: «Die Kernpunkte der sozialen Frage», weil das Buch vom südlichen Deutschland, von Stuttgarter Freunden aus von mir gefordert worden ist - ich habe es nicht aus eigenem Antrieb geschrieben, es ist mir abgefordert worden -, ich habe dieses Buch geschrieben für jenen Zeitpunkt Frühjahr 1919, Ort Süddeutschland, weil ich mir vorgestellt habe, daß, wenn die Menschen zum Willen kommen, der Wille in der Zeit und an dem Orte gerade so geartet sein könne, daß man Verständnis finden werde für dasjenige, was nun nicht als Programmpunkte, sondern als Willensrichtungen in diesem Buche angedeutet ist.
Nun liegt die Sache so, daß die Frage, die in diesem Buch berührt wird, eine ganz andere ist für den Osten der zivilisierten Welt, für Rußland, Asien, eine ganz andere ist für Mitteleuropa, und eine ganz andere ist für den Westen, für England und Amerika. Das ergibt sich aus einem wirklichkeitsgemäßen Denken. Denn dasjenige, was ich im letzten Vortrag charakterisiert habe, das Hervorgehen der industriellen Weltordnung aus den beiden früheren, so daß sie neben ihnen als eine besondere Strömung weiterläuft, das hat sich vorzugsweise unter dem Einfluß der westlichen Länder entwickelt. Es hat sich entwickelt unter dem Einflusse desjenigen, was im 18. Jahrhundert in den westlichen Ländern Sitte, Gewohnheit, soziale Ordnung war, hat sich da hineingepaßt. Will man es konkreter, genauer charakterisieren, so muß man sagen: England ist im Laufe der neueren geschichtlichen Entwickelung die große Handelsnation geworden. [...] Und so muß man sagen: Alles dasjenige, was dann als industrielle Ordnung aufgetaucht ist, das ist in kontinuierlicher Fortentwickelung als ein nächstes Glied der kommerziellen Entwickelung im Westen aufgetaucht. Industrielles hat sich in organischer Weise aus dem Handel heraus entwickelt.
In Mitteleuropa und in dem repräsentativen Lande Mitteleuropas, in Deutschland, war das nicht der Fall. Deutschland war noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen ein Agrarland, ein Land, in dem die Landwirtschaft weitaus dominiert hat. Und dasjenige, was da war als die moderne Industrie, diese moderne industrielle Strömung, die sich als dritte neben die beiden anderen hingestellt hat, das war ein staatliches Gefüge, ein Gefüge, das sich staatlich immer mehr und mehr konsolidierte, und das daher die Tendenz entwickelte, den Industrialismus in das Staatsgebilde hineinzugliedern, zu absorbieren.
Vergleichen Sie nur einmal wirklichkeitsgemäß Mitteleuropa, wie es vor dem Kriege war, mit Westeuropa vor dem Kriege. In Westeuropa hat sich das wirtschaftliche, das ökonomische Wesen in einer gewissen Emanzipation vom Staate erhalten, und das geistige Wesen erst recht. Das steht in einer gewissen Selbständigkeit den anderen beiden Gliedern gegenüber.
In Mitteleuropa entstand eine kompakte Masse aus Geistesleben, juristischem Staats- und Verfassungsleben und Wirtschaftsleben. In Deutschland mußte man daher daran denken, wie man die drei Glieder auseinanderbringt, um sie dann organisch zum Zusammenwirken zu bringen, wie sie sich nebeneinander zu stellen haben, um sie nebeneinander zur Wirksamkeit zu bringen, um die Bänder zwischen ihnen zusammenzubringen.
Hier im Westen handelt es sich darum, daß die drei Glieder nebeneinander daliegen, daß sie deutlich voneinander gesondert sind, daß man selbst räumlich das geistige Leben so zusammengefaßt findet wie hier in Oxford, wo man das Gefühl hat, als ob es draußen überhaupt keine Staats- und keine wirtschaftliche Welt mehr gäbe, als ob alles Geistige souverän und autonom dastünde. Aber man hat auch das Gefühl, dasjenige, was in diesem souveränen Geistesleben sich entwickelt, das hat nicht mehr die Kraft, hinauszuwirken in die beiden anderen Glieder. Das ist etwas, was nur in sich selber lebt, was nicht organisch eingewebt ist in die beiden anderen Glieder.
In Deutschland hat man das Gefühl: Das geistige Leben steckt so drinnen im staatlichen Leben, daß man ihm erst auf die Beine helfen muß, daß es selbständig stehen kann. Hier hat man das Gefühl, das geistige Leben steht so selbständig da, daß es sich überhaupt nicht irgendwie kümmert um die anderen Glieder. Das gibt eine wesentlich andere Färbung, wenn man wirklichkeitsgemäß denkt gegenüber der ganzen sozialen Frage der Gegenwart und dem Grundimpuls der sozialen Frage in unseren Tagen.
Aus diesem Grunde meine ich, daß meine «Kernpunkte der sozialen Frage», wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind - es ist ja ein bißchen übertrieben, aber es ist fast so -, wenn sie heute in Deutschland fast vergessen sind, und im Jahre 1919 eine ungeheuer schnelle Verbreitung gefunden haben, daß das ganz natürlich ist. Denn der Zeitpunkt, wo man das, was in den «Kernpunkten der sozialen Frage» steht, realisieren sollte, der ist vorüber für Mitteleuropa. Der ist in dem Augenblicke vorüber gewesen, als jener starke Valutaniedergang eingetreten ist, der der deutschen Wirtschaft völlig die Hände bindet. [...]
Deshalb glaube ich, daß in der Zukunft meine «Kernpunkte» mehr gelesen werden sollten im Westen und in Rußland, daß sie in Deutschland heute eigentlich ohne eine Möglichkeit des Wirkens dastehen. Denn im Westen zum Beispiel kann man trotzdem an diesem Buche sehr viel sehen, denn es stellt ohne Utopie einmal hin, wie die drei Glieder eben nebeneinanderstehen und ineinandergreifen sollten. Da ist es für den Westen ganz gleichgültig in bezug auf den Zeitpunkt, denn auch da ist noch viel zu tun in bezug auf die richtige Gliederung der drei Strömungen, Geistesleben, Wirtschaftsleben, staatlich-rechtliches Leben.