Der Zins ist ein Ersatz für die Gegenseitigkeit des Leihens

Quelle: GA 340, S. 146-148, 5. Ausgabe 1979, 02.08.1922, Dornach

Sie wissen ja, daß es Zeiten gegeben hat, in denen das Zinsnehmen für Geliehenes als unmoralisch galt. Und es galt nur als moralisch, zinslos zu leihen. Da wäre kein Vorteil gewesen bei dem Leihen. In der Tat: das Leihen ging eigentlich ursprünglich nicht aus von dem Vorteil, den man durch das Leihen hat, von dem Zins; sondern das Leihen ging unter primitiveren Verhältnissen, als die heutigen sind, aus von der Voraussetzung, daß, wenn ich jemand etwas leihe und der kann etwas damit machen, was ich nicht machen kann - sagen wir nur: er ist in Not und er kann seiner Not abhelfen, wenn ich ihm etwas zu leihen imstande bin -, daß er mir jetzt nicht hohen Zins bezahlt, sondern daß, wenn ich wiederum etwas brauche, er mir auch wiederum aushilft.

Überall in der Geschichte, wo Sie zurückgehen, werden Sie sehen, daß die Voraussetzung des Leihens die ist, daß der andere wiederum zurückleiht, wenn es nötig ist.

Das wird sogar auf die komplizierteren sozialen Verhältnisse übertragen. Sie haben das zum Beispiel, wenn, sagen wir, jemand bei einer Leihanstalt etwas ausleiht, und er braucht dazu zwei Gutsteher, die da kommen und für ihn gutstehen müssen, daß die Leihanstalten dann immer die eigentümliche Erfahrung gemacht haben, daß selbst für diesen Dienst die Gegenseitigkeit eine außerordentlich große Rolle spielt. Denn, wenn der A kommt zu einer Leihanstalt und bringt den B und C mit, die Gutsteher sind, die also ihre Namen eintragen als Gutstehende, so rechnen die Leihanstalten immer darauf, daß dann der B kommt und bringt den A und C mit, und wenn der B die Sache bezahlt hat, dann kommt der C und bringt den A und B mit als Gutsteher. Und es gilt das unter gewissen Menschen als etwas ganz Selbstverständliches. So daß Volkswirtschafter behaupten, eine solche Gesetzmäßigkeit sei mit demselben Rechte zu behaupten, wie irgend etwas, was durch mathematische Formeln festgesetzt ist. Nun sind natürlich diese Dinge mit dem bekannten Gran Salz zu verstehen; man muß da immer mit der nötigen Zutat rechnen. Aber das gehört eigentlich auch in die Beweglichkeit des volkswirtschaftlichen Prozesses hinein, daß man damit rechnen kann.

So daß man sagen kann: Ursprünglich ist das Entgelt des Leihens bloß die Voraussetzung, daß einem der Beliehene wieder leiht, beziehungsweise wenn er einem nicht wieder leiht, wenigstens beim eigenen Leihen hilft, wenn man ihm beim Leihen geholfen hat. Es kommt gerade, wenn es sich um das Leihen handelt, die menschliche Gegenseitigkeit in einer ganz eklatanten Weise in den volkswirtschaftlichen Prozeß hinein.

Was ist denn dann, wenn die Dinge so sind, der Zins? Der Zins -das ist übrigens schon von einzelnen Volkswirtschaftern bemerkt worden -, der Zins ist dasjenige, das ich bekomme, wenn ich auf die Gegenseitigkeit verzichte, wenn ich also jemand etwas leihe und ausmache mit ihm, daß er mir niemals etwas zu leihen braucht; dann, wenn ich also auf diese Gegenseitigkeit verzichte, dann bezahlt er mir dafür den Zins.

Der Zins ist die Ablösung geradezu für etwas, was zwischen Mensch und Mensch spielt, ist die Vergeltung für dasjenige, was im volkswirtschaftlichen Prozeß als menschliche Gegenseitigkeit spielt.

Nun sehen wir da etwas auftreten, was wir nur in der richtigen Weise hineinstellen müssen in den ganzen volkswirtschaftlichen Prozeß. Wir müssen dabei natürlich immer ins Auge fassen, daß es ja heute nur einen Sinn hat, solche volkswirtschaftliche Prozesse zu betrachten, die ganz im Zeichen der Arbeitsteilung stehen; denn mit solchen haben wir es ja im wesentlichen zu tun. Wenn die Arbeit auseinandergeteilt wird, dann geschieht das, daß die Menschen in einem viel höheren Grade auf die Gegenseitigkeit angewiesen sind, als wenn jeder sich nicht nur seinen eigenen Kohl baut, sondern auch seine eigenen Stiefel und Hüte fabriziert. Mit der Arbeitsteilung kommt das Angewiesenwerden auf die Gegenseitigkeit. Und so sehen wir in der Arbeitsteilung einen Prozeß, der eigentlich so verläuft, daß die einzelnen Strömungen auseinandergehen.

Aber wir sehen im ganzen volkswirtschaftlichen Prozeß wiederum das auftreten, daß alle diese Strömungen sich vereinigen wollen, nur in einer anderen Weise, durch den entsprechenden Austausch, der sich also im komplizierten volkswirtschaftlichen Prozeß mit Hilfe des Geldes vollzieht. Die Arbeitsteilung macht also notwendig auf einer gewissen Stufe die Gegenseitigkeit, das heißt dasselbe im menschlichen Verkehr, was wir finden zum Beispiel beim Beleihen. Wo viel geliehen wird, da haben wir drinnen dieses Prinzip der Gegenseitigkeit, das aber nun abgelöst werden kann durch den Zins. Dann haben wir im Zins die realisierte Gegenseitigkeit. Wir haben sie nur in die abstrakte Form des Geldes verwandelt. Aber die Kräfte der Gegenseitigkeit sind eben einfach der Zins, sind metamorphosiert, sind etwas anderes geworden. Was wir da ganz deutlich sehen beim Zinszahlen, das findet aber überall im volkswirtschaftlichen Prozeß statt.