Drei Ideale als notwendiger Lebenswiderspruch

Quelle: GA 083, S. 306-312, 3. Ausgabe 1981, 11.06.1922, Wien

Man hat in der verschiedensten Weise in der Menschheit über diese Dreigliederung des sozialen Organismus nachgedacht. Und man hat auch, als da und dort die «Kernpunkte der sozialen Frage» von mir bekannt wurden, auf das eine und andere, was aus Früherem schon anklingt, hingewiesen. Nun, ich will nicht irgendeine Prioritätsfrage aufwerfen. Es kommt nicht darauf an, ob der einzelne dies oder das gefunden hat, sondern wie es sich ins Leben einführt. Man könnte sich nur freuen, wenn recht viele Menschen darauf kämen. Aber das muß doch bemerkt werden: Wenn von Montesquieu in Frankreich eine Art Dreiteilung des sozialen Organismus definiert wird, so ist das einfach eine Dreiteilung. Da wird darauf hingewiesen, daß diese drei Gebiete eben durchaus verschiedene Bedingungen haben; darum solle man sie voneinander abtrennen. Das ist nicht die Tendenz meines Buches. - Da handelt es sich nicht darum, so zu unterscheiden: Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben, wie man am Menschen unterscheiden würde das Nerven-Sinnessystem, Herz-Lungensystem und Stoffwechselsystem, indem man dabei sagen würde, das seien drei voneinander geschiedene Systeme.

Mit solcher Einteilung ist nichts getan, sondern erst, wenn man sieht, wie diese verschiedenen Gebiete zusammenwirken, wie sie am besten eine Einheit werden dadurch, daß jedes aus seinen Bedingungen heraus arbeitet. So ist es auch im sozialen Organismus. Wenn wir wissen, wie wir das Geistesleben, das rechtlich-staatliche Leben und das Wirtschaftsleben jedes auf seine ureigenen Bedingungen stellen, aus seinen ureigenen Kräften heraus arbeiten lassen, dann wird sich auch die Einheit des sozialen Organismus ergeben. Und dann wird man sehen, daß aus jedem einzelnen dieser Gebiete gewisse Niedergangskräfte hervorgetrieben werden, die aber durch das Zusammenwirken mit den anderen Gebieten wiederum geheilt werden. Damit ist hingewiesen, nicht wie bei Montesquieu auf eine Dreiteilung des sozialen Organismus, sondern auf eine Dreigliederung des sozialen Organismus, die sich aber dadurch in der Einheit des gesamten sozialen Organismus zusammenfindet, daß ja jeder Mensch allen drei Gebieten angehört. Die menschliche Individualität, auf die doch alles ankommt, steht in diesem dreigegliederten sozialen Organismus so drinnen, daß sie die drei Glieder miteinander verbindet.

So können wir sagen, daß - gerade wenn man sich anregen läßt von dem, was hier gesagt worden ist - nicht etwa eine Teilung des sozialen Organismus, sondern die Gliederung desselben angestrebt wird, gerade damit die Einheit in der richtigen Weise zustande komme. Und man kann auch, wenn man mehr an die Oberfläche tritt, sehen, wie seit mehr als einem Jahrhundert die Menschheit Europas dahin tendiert, eine solche Gliederung zu suchen.

Sie wird kommen, auch wenn die Menschen sie bewußt nicht wollen werden; denn unbewußt werden sie sich so im Wirtschaftlichen, Geistigen, Rechtlich-Staatlichen bewegen, daß diese Dreigliederung kommen wird. Sie ist etwas, was von der Menschheitsentwickelung selber gefordert wird.

Und so kann man auch darauf hinweisen, wie die drei Impulse, die gegenüber diesen drei verschiedenen Lebensgebieten in Betracht kommen, einmal wie drei bedeutungsvolle Ideale, wie drei Devisen für das soziale Leben, in die europäische Zivilisation eingetreten sind. Da hat sich am Ende des 18. Jahrhunderts im europäischen Westen der Ruf nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit geltend gemacht. Wer würde sich nicht sagen, wenn er es mit der Entwickelung der neueren Zeit hält, daß in diese drei Devisen drei bedeutungsvolle menschliche Ideale gelegt sind? Aber auf der anderen Seite wiederum muß man sagen, daß es viele Menschen im 19. Jahrhundert gegeben hat, die sehr geistvoll widerlegt haben, daß irgendein einheitlicher sozialer Organismus, irgendein Staat möglich ist, wenn er diese drei Ideale miteinander verwirklichen soll. Mehr als ein geistvolles Werk ist geschrieben worden, in dem nachgewiesen ist, wie nicht gleichzeitig im Staat völlig vereint sein können Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Und man kann nicht sagen, daß das, was da in geistvoller Weise geschrieben worden ist, nicht recht sehr bedenklich machen müsse. Und so ist man da wiederum einmal in einen Lebenswiderspruch hineingestellt.

Allein das Leben ist nicht dazu da, keine Widersprüche zu treiben, es ist überall widerspruchsvoll. Und es besteht darin, daß es die aufgeworfenen Widersprüche immer wieder überwindet. Gerade im Aufwerfen und Überwinden von Widersprüchen besteht das Leben.

So ist es außerordentlich berechtigt, daß die drei großen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aufgestellt worden sind. Weil man aber im 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeiten herein fortwährend geglaubt hat, daß alles ganz zentralistisch geordnet werden müsse, deshalb kam man auch in dieser Beziehung in die Lebensirrtümer hinein. Und deshalb konnte man nicht durchschauen, wie es keine Bedeutung hat, sich herumzuschlagen über die Art und Weise, wie die Produktionsmittel verwandt werden, wie der Kapitalismus entwickelt werden soll und so weiter, sondern daß es sich darum handelt, die Menschen in Verhältnisse zu bringen, in denen sie ihre sozialen Angelegenheiten aus den ureigensten Trieben ihres Wesens ordnen können. Da müssen wir sagen: Wir müssen lebensvoll erfassen, wie wirken muß die Freiheit im Geistesleben, die freie produktive Entfaltung der Individualität; wie wirken muß die Gleichheit im rechtlich-staatlichen Leben, wo jeder das, was jedem Menschen zukommt, mit jedem anderen Menschen im demokratischen Sinn entwickeln soll; wie wirken muß die Brüderlichkeit in den konkreten Verbänden, die das umfassen, was wir die Assoziationen nennen. Nur wer so hinschaut auf das Leben, der sieht es richtig.

Dann aber wird man einsehen: Weil man in abstrakter Weise geglaubt hat, in dem bloßen Einheitsstaat, in den sich das Wirtschaftliche hineingeschoben hat, alle drei Ideale in gleicher Form unterzubringen, darum ist es zu dem Lebenswiderspruch gekommen. Die drei Ideale Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wird man einmal lebensvoll verstehen, wenn man einsieht, wie Freiheit im Geistesleben herrschen muß, Gleichheit im staatlich-rechtlichen Leben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben.

Und zwar nicht in sentimentaler Weise, sondern so, daß es zu sozialen Gestaltungen führt, innerhalb welcher die Menschen so leben können, daß sie ihre Menschenwürde und ihren Menschenwert erleben. Begreift man, daß der einheitliche Organismus nur dadurch entstehen kann, daß aus der Freiheit heraus der Geist sich in produktiver Art entwickelt, daß die Gleichheit wirken muß im Staats- und Rechtswesen und die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, in den Assoziationen, dann wird man hinwegkommen über die schlimmsten sozialen Schäden der Gegenwart.

Denn nur das, was aus dem Menschen frei als Individualität quellen kann, gibt ihm ein geistiges Leben, das in der Wahrheit wurzelt; diese Wahrheit kann nur zutage treten, wenn sie aus der Menschenbrust unmittelbar herausfließt. Der demokratische Sinn wird nicht eher ruhen, bis er auf staatlich-rechtlichem Gebiet die Gleichheit verwirklicht hat. Wir können das aus Vernunft tun, sonst setzen wir uns Revolutionen aus. Und auf wirtschaftlichem Gebiete muß die Brüderlichkeit leben in den Assoziationen.

Dann wird das Recht, das unter den Menschen gegründet wird aus einem Verhältnis heraus, wo der Gleiche dem Gleichen gegenübersteht, lebendiges Recht sein. Alles andere Recht, das gewissermaßen über dem Menschen schwebt, das wird zur Konvention. Wirkliches Recht muß hervorgehen aus dem Zusammensein der Menschen, sonst wird es zur Konvention.

Und wirkliche Brüderlichkeit kann nur eine Lebenspraxis begründen, wenn sie aus den wirtschaftlichen Verhältnissen selbst heraus, in Assoziationen, begründet wird; sonst begründet das menschliche Zusammenwirken in den Verbänden nicht Lebenspraxis, sondern Lebensroutine, wie wir das fast allgemein in der Gegenwart haben.

Erst wenn man fragen gelernt hat: Was haben sich für soziale chaotische Zustände ergeben unter dem Einfluß der Phrase statt der Wahrheit auf geistigem Gebiet, der Konvention statt des Rechts auf staatlich-rechtlichem Gebiet, der Lebensroutine statt der Lebenspraxis auf wirtschaftlichem Gebiet, dann wird man die Frage in der richtigen Weise stellen. Und dann wird man sich auf einen Weg begeben, der eigentlich erst die soziale Frage in richtiger Weise anschneiden kann.

Man wird vielleicht etwas schockiert sein, daß hier die soziale Frage nicht so angegriffen sein soll, wie manche glauben, daß sie angegriffen werden müßte. Aber hier soll nur aus dem heraus gesprochen werden, was der Wirklichkeit selbst gerade mit Hilfe der Geisteswissenschaft, die überall auf Wirklichkeit geht, abgewonnen werden kann. Und da ergibt sich, daß die Kernfragen des sozialen Lebens heute die sind: Wie kommen wir durch eine richtige Gliederung des sozialen Organismus von der vielfach herrschenden Phrase, die aus der menschlichen Individualität dadurch hervorgeht, daß sie sich in ihrem geistigen Schaffen einem anderen beugen muß, zur Wahrheit, von der Konvention zum Rechte und aus der Lebensroutine heraus zur wirklichen Praxis?

Erst wenn man einsehen wird, daß der dreigegliederte soziale Organismus notwendig ist, um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu schaffen, dann wird man die soziale Frage in der richtigen Weise gestalten. Dann wird man auch den gegenwärtigen Zeitpunkt richtig an das 18. Jahrhundert anknüpfen.

Und dann kann Mitteleuropa die Möglichkeit finden, zu dem, was Westeuropa gesagt hat, indem es gefordert hat: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aus seinem Geistesleben heraus zu sagen: Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im staatlich-rechtlichen Leben und Brüderlichkeit im wirtschaftlichen Leben.

Dann wird für die soziale Frage manches getan sein, und man wird sich eine Idee darüber bilden können, wie die drei Gebiete im sozialen Organismus aus Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zusammenwirken können zu einer Gesundung aus unseren heutigen chaotischen geistigen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen heraus.