Individuelles Urteil, Kollektivurteil, demokratisches Urteil II

Quelle: GA 083, S. 286-294, 3. Ausgabe 1981, 11.06.1922, Wien

[Heute] muß das soziale Leben [...] in seinen Fundamenten betrachtet werden, nicht an den Oberflächenerscheinungen. Und da wird man auf die einzelnen Zweige, die in unserem sozialen Leben enthalten sind, geführt.

Einer dieser sozialen Zweige ist das geistige Leben der Menschheit. Dieses geistige Leben der Menschheit - wir können es selbstverständlich nicht abgesondert betrachten von dem übrigen sozialen Leben - hat seine eigenen Bedingungen. Diese sind an die menschlichen Individualitäten gebunden. Das geistige Leben gedeiht auf dem Untergrund der menschlichen Wesenheiten eines Zeitalters. Und davon hängt dann das ganze übrige soziale Leben ab. Man denke sich nur, wie vieles sich auf manchen sozialen Gebieten einfach dadurch verändert hat, daß von dem oder jenem diese oder jene Erfindung oder Entdeckung gemacht worden ist. Dann aber, wenn man fragt: Wie ist es zu dieser Erfindung oder Entdeckung gekommen, dann muß man auf den Grund der Menschenseelen hinsehen: wie die Menschenseelen durch einen gewissen Werdegang hindurchgegangen sind, wie sie dazu gebracht worden sind, ich möchte sagen, in ihren stillen Kämmerlein irgend etwas zu finden, was dann ganze breite Gebiete des sozialen Lebens umgestaltet hat. Man frage sich nur einmal so, daß das Urteil eine soziale Bedeutung gewinnt: Was hat es für eine Bedeutung für das ganze soziale Leben, daß die Differential- und Integralrechnung von Leibniz gefunden worden ist? Man versuche einmal, von diesem Gesichtspunkt [] aus den Einfluß des geistigen Lebens auf das soziale Leben wirklichkeitsgemäß zu betrachten, und man wird, weil dieses geistige Leben seine eigenen Bedingungen hat, darauf kommen, daß in diesem geistigen Leben ein besonders gearteter Zweig des allgemeinen sozialen Lebens gegeben ist.

Und wenn man fragt, welches diese besondere Artung ist, so muß man sagen: Alles, was im geistigen Leben der Menschheit wirklich gedeihen kann, muß aus der menschlichen innersten produktiven Kraft hervorgehen. Und man wird am günstigsten finden müssen für das gesamte soziale Leben, was sich in diesem Geistesleben unbehindert aus dem entwickeln kann, was auf dem Grund der menschlichen Seele ist.

Dann aber stehen wir unter einem anderen Impuls, der immer mehr und mehr in den letzten Jahrzehnten hervorgetreten ist: unter dem Impuls, der sich dann hineinergossen hat in den Glauben an die Allmacht des Staatslebens, daß die zivilisierte Menschheit aus den Untergründen ihres Wesens heraus immer demokratischer und demokratischer geworden ist. Das heißt, daß Aspirationen in den breiten Massen der Menschheit vorhanden sind: Jeder Mensch müsse mitreden, wenn es sich darum handelt, menschliche Einrichtungen zu treffen. Dieser demokratische Zug kann einem sympathisch oder unsympathisch sein, darauf kommt es zunächst nicht an. Darauf kommt es an, daß er sich als eine reale Kraft im geschichtlichen Leben der neueren Menschheit ergeben hat. Aber gerade wenn man auf das, was sich als solcher demokratischer Zug ergeben hat, hinschaut, dann kommt einem bei einem wirklichkeitsgemäßen Denken ganz besonders in den Sinn, wie aus dem inneren Drängen, aus dem geistigen Leben Mitteleuropas heraus bei [] den edelsten Geistern sich Ideen gerade über das staatliche Zusammenleben der Menschen entwickelt haben.

Ich will nicht sagen, daß man heute noch einen besonderen Wert zu legen hat auf das, was einer der edelsten deutschen Menschen als seinen « geschlossenen Handelsstaat » hingestellt hat. Auf den Inhalt wird man weniger Rücksicht nehmen müssen als auf das edle Wollen Fichtes. Aber ich möchte darauf hinweisen, daß in einer sehr populären Form um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert aufgetreten ist, was man das Streben nach Ideen eines Naturrechts nennen kann. Dazumal haben sich sehr bedeutende und edle Geister damit beschäftigt, die Frage zu beantworten: Wie steht Mensch zu Mensch? Was ist überhaupt die innerste Wesenheit des Menschen in sozialer Beziehung? Und sie glaubten, wenn sie den Menschen recht verstehen, auch finden zu können, was für den Menschen rechtens ist. Das Vernunftrecht, das Naturrecht haben sie das genannt. Sie glaubten, aus der Vernunft heraus finden zu können, welches die besten Rechtsinstitutionen sind, unter denen die Menschen am besten gedeihen können. Sie brauchen nur Rottecks Werk zu betrachten, um zu sehen, wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch bei vielen die Idee des Naturrechts regsam war.

Dem hat sich aber im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa die historische Rechtsschule gegenübergestellt. Diese war davon beseelt, daß man nicht aus der Vernunft herausspinnen könne, was rechtens ist unter den Menschen.

Aber man bemerkte in dieser historischen Rechtsschule nicht, was es ist, das alles Ausdenken eines Vernunftrechts unfruchtbar macht; man bemerkte nicht, daß unter dem Einfluß des intellektuellen Zeitalters eine [] gewisse Unfruchtbarkeit in das Geistesleben der Menschheit gekommen war. Und so sagten sich die Gegner des Naturrechts: die Menschen seien nicht dazu berufen, aus ihrer Seele heraus etwas von dem zu finden, was rechtens ist, deshalb müsse man das Recht historisch studieren; man müsse darauf hinschauen, wie sich die Menschen geschichtlich entwickelt haben, wie aus ihren Gewohnheiten, aus ihren instinktiven gegenseitigen Verhältnissen sich Rechtszustände ergeben haben.

Man muß das Recht historisch studieren! Gegen solches Studium hat sich dann der freie Geist Nietzsches gewendet in seiner Schrift « Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ». Er meinte, wenn man immer nur hinblicke auf das, was historisch in der Menschheit gelebt hat, dann könne man nicht zu einer Produktivität und zu tragfähigen Ideen für die Gegenwart kommen; was im Menschen an elementaren Kräften lebt, müsse sich gegen den historischen Sinn aufbäumen, um aus diesen Kräften heraus zu einer Konstitution sozialer Zusammenhänge zu kommen.

Unter den führenden Persönlichkeiten war gerade im 19. Jahrhundert, in der höchsten Blüte des Intellektualismus, ein Streit über das heraufgekommen, was eigentlich die Grundlagen des Rechts sind. Und damit war auch der Streit über die Grundlagen des Staates gegeben. Wenigstens in der damaligen Zeit leugnete man das gar nicht. Denn der Staat ist im Grunde genommen bloß die Endsummierung dessen, was sich an einzelnen Institutionen ergibt, in denen die Rechtskräfte leben. Und so war eigentlich mit der Tatsache, daß man den Sinn für Auffindung von Rechtsgrundlagen verloren hatte, gegeben, daß man auch über die eigentliche Wesenheit des Staates nicht mehr mit sich ins klare kommen [] konnte. Daher sehen wir, nicht etwa nur in den Theorien, sondern auch im praktischen Leben, wie das Leben des Staates im Verlaufe des 19. Jahrhunderts für unzählige Menschen, auch der breitesten Masse, ein Problem geworden ist, das gelöst werden sollte.

Das ging aber doch mehr, ich möchte sagen, in den oberen, bewußten Partien der Menschheitszivilisation vor sich. In den Untergründen bohrte das, was ich als das Heraufkommen des demokratischen Sinnes charakterisiert habe. Dieses Heraufkommen des demokratischen Sinnes führt uns, wenn es richtig verstanden wird, dahin, die Frage nach dem Wesen des Rechts viel gründlicher, viel wirklichkeitsgemäßer aufzufassen, als sie vielfach heute aufgefaßt wird. Es gibt heute viele Menschen, die es als eine Selbstverständlichkeit betrachten, daß man irgendwie aus dem einzelnen Menschen heraus auf das kommen könne, was eigentlich auf diesem oder jenem Gebiete das Recht ist. Allerdings, neuere Rechtsgelehrte verlieren mit einem solchen Streben schon den Boden; und sie finden dann, daß sie, wenn sie in dieser Weise philosophieren oder auch glauben, praktisch nachzudenken über das Leben, dann für das Recht den Inhalt verlieren, daß das Recht ihnen etwas Formales wird. Und dann sagen sie: Das, was bloß formal ist, muß einen Inhalt bekommen, in das muß sich das Wirtschaftliche als Inhalt hineinergießen.

So ist auf der einen Seite ein deutliches Gefühl vorhanden, wie ohnmächtig man ist, wenn man aus sich heraus zum Rechtsbegriff, zum Rechtsempfinden kommen will; auf der anderen Seite sucht man dennoch immer wieder und wiederum aus dem Menschen heraus das Wesen des Rechts. Der demokratische Sinn aber bäumt sich gerade gegen dieses Suchen auf. Denn, was sagt er? []

Er sagt: Es gibt überhaupt nicht eine allgemeine abstrakte Festsetzung des Rechts, sondern es gibt nur die Möglichkeit, daß sich Menschen, die in irgendeiner sozialen Gemeinschaft stehen, miteinander verständigen, daß sie sich gewissermaßen gegenseitig sagen: Das willst du von mir, das will ich von dir - und daß sie dann übereinkommen darüber, was sich dadurch für sie für Verhältnisse ergeben. Dann ergibt sich das Recht rein aus der Wirklichkeit dessen heraus, was Menschen gegenseitig von sich wollen, so daß es eigentlich ein Vernunftrecht gar nicht geben kann, daß auch alles, was als « historisches Recht » zustande gekommen ist, noch immer zustande kommen kann, wenn man nur den richtigen Boden dafür sucht, und daß die Menschen auf diesem Boden in ein solches Verhältnis kommen können, daß sie aus gegenseitiger Verständigung wirklichkeitsgemäß das Recht erst hervorbringen. « Ich will mitreden können, wenn das Recht entsteht!», das ist das, was der demokratische Sinn sagt. Und derjenige, der dann etwa theoretisch über das Recht Bücher schreiben will, der kann sich nicht aus den Fingern saugen, was das Recht ist, sondern der hat einfach hinzuschauen auf das, was unter Menschen als Recht entsteht, und hat es mehr oder weniger zu registrieren. Wir sehen auch in der Naturwissenschaft nicht so in die Tatsachenwelt hinein, daß wir aus unserem Kopf heraus die Naturgesetze formen, sondern wir lassen die Dinge zu uns reden und bilden danach die Naturgesetze. Wir nehmen an: das, was wir in die Naturgesetze hineinfassen wollen, sei bereits geschaffen; das aber, was im Rechtsleben vorhanden ist, das werde unter den Menschen geschaffen. Da ist das Leben auf einem anderen Niveau. Da steht der Mensch im Gebiete des Schaffens, und zwar als soziales Wesen, neben den anderen Menschen, [] damit ein Leben, das den Entwickelungssinn der Menschheit in die soziale Ordnung hineingießen will, zustande komme. Das ist eben der demokratische Sinn.

Das dritte, das sich heute hinstellt vor den Menschen und nach sozialen Neugestaltungen ruft, das sind die komplizierten wirtschaftlichen Verhältnisse, die heraufgekommen sind in der neueren Zeit, die ich nicht zu schildern brauche, weil sie sachgemäß von vielen Seiten geschildert werden. Man kann nun sagen: Diese wirtschaftlichen Verhältnisse sind durchaus so, daß sie wiederum aus anderen Bedingungen hervorgehen als die beiden anderen Gebiete des sozialen Organismus, als das Geistesleben - da muß alles, was fruchtbar werden kann in der sozialen Ordnung, aus der einzelnen menschlichen Individualität hervorgehen, nur das Schaffen des Einzelnen kann da den rechten Beitrag geben zur gesamten sozialen Ordnung - und als das Rechtsleben, auf dessen Gebiet es sich nur darum handeln kann, daß das Recht und damit auch das staatliche Wesen hervorgeht aus der Verständigung der Menschen. Beide Bedingungen, die eine, wie sie für das Geistesleben, die andere, wie sie für das staatlich-rechtliche Leben gilt, sind nicht da im wirtschaftlichen Leben.

Im wirtschaftlichen Leben ist es nicht so, daß das Urteil über das, was geschehen könne, aus einem einzelnen hervorspringen kann. Wir haben gerade im Laufe des 19. Jahrhunderts, wo unter der Menschheit der Intellektualismus so zur Blüte gekommen ist, sehen können, wie einzelne sehr bedeutende Menschen - ich sage das nicht aus Ironie heraus, sondern um die Dinge wahrheitsgemäß zu charakterisieren -, die auf den verschiedenen Gebieten stehen, über das eine und andere ihre Meinungen geäußert haben, Leute, die gut darinnenstanden im wirtschaftlichen Leben, [] denen man auch zutrauen konnte, daß sie ein Urteil hatten. Wenn sie sich dann über irgend etwas, was über ihr Gebiet hinausging, was auf die Gesetzgebung Einfluß gewann, äußern sollten, dann konnte man oftmals sagen: Ja, das, was dieser oder jener gesagt hat, zum Beispiel über den praktischen Einfluß der Goldwährung, ist bedeutend und gescheit -, man staunt sogar, wenn man verfolgt, was sich abgespielt hat in den verschiedenen wirtschaftlichen Verbänden in der Zeit, als in verschiedenen Staaten der Übergang zu dieser Goldwährung gemacht worden ist, über die Summe von Gescheitheit, die da in die Welt gebracht worden ist; wenn man aber weiterstudiert, wie sich dann die Dinge entwickelt haben, die vorausgesagt worden sind, dann sieht man: da hat dieser oder jener sehr bedeutende Mensch zum Beispiel gesagt, unter dem Einfluß der Goldwährung würden die Zollschranken verschwinden. Das Gegenteil davon ist eingetreten!

Und man muß sagen: Auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens ist es so, daß einem Gescheitheit, die einem sehr viel helfen kann auf dem Gebiete des Geisteslebens, eigentlich nicht immer ein sicherer Führer sein kann. Man kommt allmählich darauf, sich zu sagen: In bezug auf das Wirtschaftsleben kann überhaupt die einzelne Individualität keine maßgebenden Urteile fällen. Da können Urteile nur zustande kommen gewissermaßen als Kollektivurteile, indem sie sich ergeben durch das Zusammenwirken vieler, die in den verschiedensten Gebieten des Lebens drinnenstehen. Das darf wiederum nicht bloße theoretische Weisheit sein, sondern muß lebenspraktische Lebensweisheit werden, daß wirklich Geltung habende Urteile nur aus dem Zusammenklang von vielen hervorgehen können. []

Damit gliedert sich das gesamte soziale Leben in drei voneinander verschiedene Gebiete. Auf dem Boden des Geisteslebens hat der Einzelne zu sprechen, auf dem Boden des demokratischen Rechtslebens haben alle Menschen zu sprechen, weil es da auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch aus der rein menschlichen Wesenheit heraus ankommt, darüber kann sich jeder Mensch äußern, und auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens ist weder das Urteil der Individualität noch das Urteil, das zusammenfließt aus den unterschiedslosen Urteilen aller Menschen, möglich. Auf diesem Gebiete handelt es sich darum, daß der Einzelne in eine Ganzheit Sachkenntnis und Erfahrung auf seinem Gebiete hineinträgt, daß aber dann aus Verbänden heraus ein Kollektivurteil in der richtigen Weise entstehen kann. Das kann nur entstehen, wenn die berechtigten Urteile der einzelnen sich abschleifen können. Darum aber müssen die Verbände so gestaltet sein, daß in ihnen zusammenfließt, was sich abschleifen kann und dann in der Lage ist, ein Gesamturteil zu geben. So zerfällt das gesamte soziale Leben in diese drei Gebiete. Nicht irgendeine utopistische Idee sagt uns das, sondern die wirklichkeitsgemäße Betrachtung des Lebens.