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Abbau beim sozialen wie beim natürlichen Organismus
Quelle: GA 083, S. 283-285, 3. Ausgabe 1981, 11.06.1922, Wien
Aber wenn man versucht, über alles, was sich durch diese Hemmnisse und Klüfte hindurch in den unbewußten Untergründen der Seelen in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, klar zu werden, dann wird man darauf hingewiesen, daß eigentlich die Kernpunkte der sozialen Frage ganz woanders liegen, als wo man sie gewöhnlich sucht. Sie liegen darinnen, daß in der neueren Zeit der Menscheitsentwicklung gleichzeitig mit dem Heraufkommen der das Leben so kompliziert machenden Technik in der zivilisierten Welt zugleich der Glaube an die Allmacht des Einheitsstaates heraufgekommen ist. Und immer stärker und stärker ist dieser Glaube an die Allmacht des Einheitsstaates im Laufe des 19. Jahrhunderts geworden. So stark und fest ist er geworden, daß er selbst unter der mancherlei erschütternden Urteilen, die sich große Menschenmassen über die soziale Organisation gebildet haben, nicht erschüttert worden ist.
Und mit dem, was als dogmatischer Glaube so über die Menschen kommt, verbindet sich dann etwas anderes. Mit diesem Glauben will man daran festhalten, daß in demjenigen, auf das man den Glauben wendet, eine Art Allheilmittel liege, so daß man dann in der Lage sein könne, zu sagen, welches der beste Staat ist; daß man dann auch schon, ich will nicht sagen, das Paradies heraufzuzaubern versuchen kann, daß man aber doch meint, man treffe die denkbar besten Einrichtungen.
Dadurch ist uns eines verlorengegangen, das sich vor allem dem aufdrängt, der das Leben seiner Wirklichkeit nach so betrachtet, wie es in den letzten Tagen hier betrachtet worden ist. Wer sich gerade dadurch, daß er darauf angewiesen ist, seine Ideen für die geistige Welt auszubilden, einen rechten Sinn für die Wirklichkeit aneignet, der kommt nämlich darauf, daß die besten Einrichtungen, die man für irgendein Zeitalter ersinnen kann, nur eben höchstens ihre Güte für dieses Zeitalter behalten können, daß es aber mit dem, was in der sozialen Organisation da ist, eine ähnliche Bewandtnis hat, wie zum Beispiel mit dem natürlichen Organismus des Menschen.
Ich will nicht ein fatales Analogiespiel treiben, aber möchte zur Veranschaulichung auf das hinweisen, was eben vom menschlichen Organismus aus auch im sozialen Organismus begriffen werden kann: Wir können niemals sagen, daß der menschliche, übrigens auch der tierische und pflanzliche Organismus nur in einer aufsteigenden Entwicklung sein könne. Soll das, was organisch ist, gedeihen, soll es seine Kräfte aus sich heraustreiben, dann muß es alt werden können, dann muß es auch absterben können. Wer genauer den menschlichen Organismus studiert, findet, daß dieses Absterben in jeden Augenblicke in ihm vorhanden ist. Immerfort sind die aufsteigenden, sprießenden, sprossenden, fruchtenden Kräfte vorhanden, immer auch sind die abbauenden Kräfte vorhanden. Und der Mensch verdankt gerade diesen abbauenden Kräfte sehr viel. Ja, derjenige, der den Materialismus vollständig überwinden will, der muß sein Augenmerk gerade auf diese abbauenden Kräfte im menschlichen Organismus richten. Er muß überall das aufsuchen im menschlichen Organismus, wo die Materie gewissermaßen unter dem Einfluß der Organisation zerfällt. Und er wird dann finden, daß gerade an den Zerfall der Materie die Ausbildung des geistigen Lebens im Menschen gebunden ist. Wir können die menschliche Organisation nur begreifen, wenn wir neben den aufsteigenden, sprießenden, sprossenden und fruchtenden Kräften den kontinuierlichen Verfall beobachten.
Und wenn ich das auch nur zur Veranschaulichung sage, so kann es eben doch veranschaulichen, was der unbefangene Beobachter auch für den sozialen Organismus finden muß: Der soziale Organismus stirbt zwar nicht, dadurch unterscheidet er sich zum Beispiel von dem menschlichen Organismus, aber er wandelt sich, und aufsteigende und absteigende Kräfte sind ihm naturgemäß. Nur der begreift den sozialen Organismus, der weiß: wenn man die besten Absichten verwirklicht und irgend etwas auf irgendeinem Gebiet des sozialen Lebens herstellt, was aus den Verhältnissen heraus gewonnen ist, wird es nach einiger Zeit dadurch, daß Menschen mit ihren Individualitäten drinnen arbeiten, Absterbekräfte, Niedergangskräfte zeigen. Was für das Jahr zwanzig eines Jahrhunderts das Richtige ist, das hat sich bis zum Jahre vierzig desselben Jahrhunderts so verwandelt, daß es bereits seine Niedergangskräfte in sich enthält. Derlei Dinge werden manchmal gewiß in Abstraktionen ausgesprochen. Aber man bleibt im intellektualistischen Zeitalter bei diesen Abstraktionen, auch wenn man vermeint, noch so praktisch zu denken. Und so erleben wir es auch, daß die Leute zwar im allgemeinen zugeben, es seien im sozialen Organismus Absterbekräfte, Niedergangskräfte enthalten, der soziale Organismus müsse sich immer umwandeln, die Niedergangskräfte müßten immer neben den Aufgangskräften wirksam sein - aber da, wo wir mit unseren Absichten, mit unserm Willen in die soziale Ordnung eingreifen, da bemerken wir das in der Abstraktion Zugegebene doch nicht.