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Äußere Stände und innere Demokratie
Quelle: GA 083, S. 279-282, 3. Ausgabe 1981, 11.06.1922, Wien
Vor allen Dingen ergibt sich für den, der das soziale Leben Europas nicht mit dieser oder jener vorgefaßten Meinung, sondern mit unbefangenem Sinn in den letzten dreißig bis vierzigjahren auf sich hat wirken lassen, daß eigentlich dasjenige, was heute sozial zu geschehen hat, bereits vorgezeichnet ist in dem unbewußten Wollen gerade der europäischen Menschheit. Überall kann man die unbewußten Tendenzen nach irgend etwas finden. Sie leben schon in den Menschenseelen, und man braucht ihnen durch Worte nur Ausdruck zu verleihen.
Das ist es, was mich veranlaßte, dem Drängen von Freunden nachzugeben und dieses Buch zu schreiben. Das war die Veranlassung, daß ich aus dem Wirklichkeitssinn, den die Geisteswissenschaft - in bescheidener Weise darf das ausgedrückt werden - dem Menschen anerzieht, versucht habe, das zu beobachten, was in allen sozialen Klassen und Ständen unter der Oberfläche der äußeren Erscheinungen und Einrichtungen in den letzten Jahrzehnten in Europa vorgegangen ist. Und ich wollte eigentlich nicht sagen: Das oder jenes finde ich richtig; sondern ich wollte sagen: Das oder jenes wird aus dem verborgenen Unbewußten heraus gewollt, und es ist notwendig, daß man sich einfach bewußt werde desjenigen, wonach die Menschheit eigentlich drängt. Und gerade darinnen ist der Grund für viele unserer sozialen Mißstände zu suchen, daß heute dieses unbewußte Drängen in gewissem Widerspruch steht zu dem, was die Menschheit in intellektualistischer Weise ausgedacht und in die Einrichtungen hineingetragen hat, so daß eigentlich unsere Einrichtungen dem widersprechen, was in den Tiefen der Menschenherzen heute gewollt wird.
Und noch aus einem anderen Grunde glaube ich nicht, daß es heute überhaupt einen besonderen Wert hat, irgendwie in utopistischer Weise die eine oder andere Einrichtung einfach hinzustellen. Wir sind innerhalb der geschichtlichen Menschheitsentwickelung in der zivilisierten Welt doch in das Stadium eingetreten, daß, wenn auch noch so Gescheites gesagt wird über das, was unter und zwischen Menschen geschehen soll, dies eigentlich gar keine Bedeutung haben kann, wenn die Menschen es nicht annehmen, wenn es nicht etwas ist, wozu die Menschen selber sich hindrängen, allerdings zumeist eben in unbewußter Art.
So glaube ich, daß heute, wenn man über solche Dinge überhaupt denken will, mit dem in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit heraufgekommenen demokratischen Sinn gerechnet werden muß, namentlich dem demokratischen Sinn, wie er auf dem Grund der Seelen der Menschen heute lebt, mit diesem demokratischen Sinn, daß eigentlich in sozialer Beziehung etwas nur Wert hat, wenn es darauf abzielt, nicht demokratische Meinungen zu sagen, sondern die Menschen dazu zu bringen, ihre Meinungen aussprechen zu können, geltend machen zu können. So war für mich die Hauptsache, die Frage zu beantworten: Unter welchen Verhältnissen sind die Menschen in der Lage, ihre sozialen Meinungen, ihren sozialen Willen wirklich zum Ausdruck zu bringen?
Wir müssen, wenn wir die Welt um uns herum in bezug auf das soziale Leben betrachten, uns sagen: Ja, wissen könnte man schon vieles von dem, wie das eine oder das andere anders sein sollte; aber was alles ist da an Hemmnissen, so daß das, was wir ganz gut wissen können, was wir ganz gut geltend machen wollen, nicht Wirklichkeit werden kann. Da sind die Standes- und Klassenunterschiede selber und sind Klüfte zwischen den Klassen der Menschen, Klüfte, die nicht einfach dadurch zu überbrücken sind, daß man eine Meinung darüber hat, wie sie überbrückt werden sollen, sondern Klüfte, die sich dadurch ergeben, daß eben, ich habe gestern so großen Wert darauf gelegt, der Wille, der das eigentliche Zentrum der Menschennatur ist, engagiert ist durch die Art und Weise, wie man sich in den Stand, in die Klasse oder in irgendeinen anderen sozialen Zusammenhang hineingelebt hat. - Und wiederum, wenn man auf etwas sieht, was sich in unserer neueren Zeit unter den komplizierten wirtschaftlichen Verhältnissen immer mehr und mehr neben die Standesvorurteile, die Standesempfindungen, die Standeswillensimpulse als solche Hemmnisse hingestellt hat, so findet man diese in den wirtschaftlichen Einrichtungen selber. Wir werden in gewisse wirtschaftliche Einrichtungen hineingeboren und können aus diesen nicht heraus. - Und eine dritte Art Hemmnisse für das wirkliche soziale Zusammenwirken der Menschen ist da: daß diejenigen, die vielleicht gerade als führende Persönlichkeiten in der Lage wären, jenen tiefen Einfluß auszuüben, von dem ich eben gesprochen habe, andere Schranken haben, die Schranken nämlich, die sich ergeben aus gewissen dogmatischen Lehren über das Leben, aus gewissen dogmatischen Empfindungen über das Leben. Wenn viele Menschen über die wirtschaftlichen Schranken, über die Klassen- und Standesschranken nicht hinaus können, so können viele nicht über ihre Begriffs- und Ideenschranken hinaus. Das alles ist, möchte ich sagen, schon reichlich Lebensinhalt geworden, der sich dann in seinem Ergebnis vielfach als Chaos darstellt.