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Illustration zum Prinzip «Selbstausgleichende Dreigliederung statt Einheitsstaat»
Quelle: GA 083, S. 278-286, 3. Ausgabe 1981, 11.06.1922, Wien
Als ich vor drei Jahren etwa auf Verlangen einer Reihe von Freunden, die damals unter dem Eindruck der Ereignisse im sozialen Leben nach der vorläufigen Beendigung des großen Weltkriegs standen, meine « Kernpunkte der sozialen Frage » veröffentlicht hatte, da ergab sich für mich, ich möchte sagen, als unmittelbares Erlebnis, daß diese Veröffentlichung im Grunde mißverstanden worden ist auf allen Seiten, und zwar gerade aus dem Grunde, weil man sie zunächst einreihte in diejenigen Schriften, welche in einer mehr oder weniger utopistischen Weise in äußerlichen Einrichtungen versuchten darzustellen, was ihre Verfasser als eine Art Heilmittel gegen die auftretenden sozialen chaotischen Zustände empfanden, die sich im Verlauf der neueren Menschheitsentwickelung ergeben haben. Meine Schrift war gewissermaßen als ein Appell nicht an das Denken über allerlei Einrichtungen, sondern als ein Appell an die unmittelbare Menschennatur gemeint. Daß das aus geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus nicht anders sein konnte, wird ja aus der ganzen Haltung der bisher gehaltenen Vorträge hervorgehen.
So hat man namentlich vielfach dasjenige, was ich eigentlich nur zur Illustration der Hauptsache gegeben habe, für die Hauptsache selbst genommen. Ich mußte, indem ich versuchte darzustellen, wie die Menschheit zu einem sozialen Denken, Fühlen und auch Wollen kommen könne, dies zum Beispiel daran illustrieren, wie möglicherweise die Kapitalzirkulation so umgewandelt werden könnte, daß sie von vielen Menschen nicht in der Weise drückend empfunden werde, wie das in der Gegenwart vielfach der Fall ist. Ich mußte das eine oder das andere über Preisbildung, über den Wert der Arbeit und dergleichen sagen. Aber das alles nur eigentlich zur Illustration. Denn wer, wenn ich mich jetzt des Ausdrucks bedienen darf, hineingreifen will ins volle Menschenleben, dem kommt es auch darauf an, dieses Menschenleben zunächst zu belauschen, um aus ihm heraus auf menschliche Art Auswege für Verirrungen zu finden, und zwar nicht durch Anpreisen gewisser IdeenschabIonen, die dann auf den verschiedensten Gebieten des Lebens ausgeführt werden sollen.
Vor allen Dingen ergibt sich für den, der das soziale Leben Europas nicht mit dieser oder jener vorgefaßten Meinung, sondern mit unbefangenem Sinn in den letzten dreißig bis vierzig Jahren auf sich hat wirken lassen, daß eigentlich dasjenige, was heute sozial zu geschehen hat, bereits vorgezeichnet ist in dem unbewußten Wollen gerade der europäischen Menschheit. Überall kann man die unbewußten Tendenzen nach irgend etwas finden. Sie leben schon in den Menschenseelen, und man braucht ihnen durch Worte nur Ausdruck zu verleihen.
Das ist es, was mich veranlaßte, dem Drängen von Freunden nachzugeben und dieses Buch zu schreiben. Das war die Veranlassung, daß ich aus dem Wirklichkeitssinn, den die Geisteswissenschaft - in bescheidener Weise darf das ausgedrückt werden - dem Menschen anerzieht, versucht habe, das zu beobachten, was in allen sozialen Klassen und Ständen unter der Oberfläche der äußeren Erscheinungen und Einrichtungen in den letzten Jahrzehnten in Europa vorgegangen ist. Und ich wollte eigentlich nicht sagen: Das oder jenes finde ich richtig; sondern ich wollte sagen: Das oder jenes wird aus dem verborgenen Unbewußten heraus gewollt, und es ist notwendig, daß man sich einfach bewußt werde desjenigen, wonach die Menschheit eigentlich drängt. Und gerade darinnen ist der Grund für viele unserer sozialen Mißstände zu suchen, daß heute dieses unbewußte Drängen in gewissem Widerspruch steht zu dem, was die Menschheit in intellektualistischer Weise ausgedacht und in die Einrichtungen hineingetragen hat, so daß eigentlich unsere Einrichtungen dem widersprechen, was in den Tiefen der Menschenherzen heute gewollt wird.
Und noch aus einem anderen Grunde glaube ich nicht, daß es heute überhaupt einen besonderen Wert hat, irgendwie in utopistischer Weise die eine oder andere Einrichtung einfach hinzustellen. Wir sind innerhalb der geschichtlichen Menschheitsentwickelung in der zivilisierten Welt doch in das Stadium eingetreten, daß, wenn auch noch so Gescheites gesagt wird über das, was unter und zwischen Menschen geschehen soll, dies eigentlich gar keine Bedeutung haben kann, wenn die Menschen es nicht annehmen, wenn es nicht etwas ist, wozu die Menschen selber sich hindrängen, allerdings zumeist eben in unbewußter Art.
So glaube ich, daß heute, wenn man über solche Dinge überhaupt denken will, mit dem in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit heraufgekommenen demokratischen Sinn gerechnet werden muß, namentlich dem demokratischen Sinn, wie er auf dem Grund der Seelen der Menschen heute lebt, mit diesem demokratischen Sinn, daß eigentlich in sozialer Beziehung etwas nur Wert hat, wenn es darauf abzielt, nicht demokratische Meinungen zu sagen, sondern die Menschen dazu zu bringen, ihre Meinungen aussprechen zu können, geltend machen zu können. So war für mich die Hauptsache, die Frage zu beantworten: Unter welchen Verhältnissen sind die Menschen in der Lage, ihre sozialen Meinungen, ihren sozialen Willen wirklich zum Ausdruck zu bringen?
Wir müssen, wenn wir die Welt um uns herum in bezug auf das soziale Leben betrachten, uns sagen: Ja, wissen könnte man schon vieles von dem, wie das eine oder das andere anders sein sollte; aber was alles ist da an Hemmnissen, so daß das, was wir ganz gut wissen können, was wir ganz gut geltend machen wollen, nicht Wirklichkeit werden kann. Da sind die Standes- und Klassenunterschiede selber und sind Klüfte zwischen den Klassen der Menschen, Klüfte, die nicht einfach dadurch zu überbrücken sind, daß man eine Meinung darüber hat, wie sie überbrückt werden sollen, sondern Klüfte, die sich dadurch ergeben, daß eben, ich habe gestern so großen Wert darauf gelegt, der Wille, der das eigentliche Zentrum der Menschennatur ist, engagiert ist durch die Art und Weise, wie man sich in den Stand, in die Klasse oder in irgendeinen anderen sozialen Zusammenhang hineingelebt hat. - Und wiederum, wenn man auf etwas sieht, was sich in unserer neueren Zeit unter den komplizierten wirtschaftlichen Verhältnissen immer mehr und mehr neben die Standesvorurteile, die Standesempfindungen, die Standeswillensimpulse als solche Hemmnisse hingestellt hat, so findet man diese in den wirtschaftlichen Einrichtungen selber. Wir werden in gewisse wirtschaftliche Einrichtungen hineingeboren und können aus diesen nicht heraus. - Und eine dritte Art Hemmnisse für das wirkliche soziale Zusammenwirken der Menschen ist da: daß diejenigen, die vielleicht gerade als führende Persönlichkeiten in der Lage wären, jenen tiefen Einfluß auszuüben, von dem ich eben gesprochen habe, andere Schranken haben, die Schranken nämlich, die sich ergeben aus gewissen dogmatischen Lehren über das Leben, aus gewissen dogmatischen Empfindungen über das Leben. Wenn viele Menschen über die wirtschaftlichen Schranken, über die Klassen- und Standesschranken nicht hinaus können, so können viele nicht über ihre Begriffs- und Ideenschranken hinaus. Das alles ist, möchte ich sagen, schon reichlich Lebensinhalt geworden, der sich dann in seinem Ergebnis vielfach als Chaos darstellt.
Aber wenn man nun versucht, über alles, was sich durch diese Hemmnisse und Klüfte hindurch in den unbewußten Untergründen der Seelen in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, klar zu werden, dann wird man darauf hingewiesen, daß eigentlich die Kernpunkte der sozialen Frage ganz woanders liegen, als wo man sie gewöhnlich sucht. Sie liegen darinnen, daß in der neueren Zeit der Menschheitsentwickelung gleichzeitig mit dem Heraufkommen der das Leben so kompliziert machenden Technik in der zivilisierten Welt zugleich der Glaube an die Allmacht des Einheitsstaates heraufgekommen ist. Und immer stärker und stärker ist dieser Glaube an die Allmacht des Einheitsstaates im Laufe des 19. Jahrhunderts geworden. So stark und fest ist er geworden, daß er selbst unter den mancherlei erschütternden Urteilen, die sich große Menschenmassen über die soziale Organisation gebildet haben, nicht erschüttert worden ist.
Und mit dem, was als dogmatischer Glaube so über die Menschen kommt, verbindet sich dann etwas anderes. Mit diesem Glauben will man daran festhalten, daß in demjenigen, auf das man den Glauben wendet, eine Art Allheilmittel liege, so daß man dann in der Lage sein könne, zu sagen, welches der beste Staat ist; daß man dann auch schon, ich will nicht sagen, das Paradies heraufzuzaubern versuchen kann, daß man aber doch meint, man treffe die denkbar besten Einrichtungen.
Dadurch aber ist uns eines verlorengegangen, das sich vor allem dem aufdrängt, der das Leben seiner Wirklichkeit nach so betrachtet, wie es in den letzten Tagen hier betrachtet worden ist. Wer sich gerade dadurch, daß er darauf angewiesen ist, seine Ideen für die geistige Welt auszubilden, einen rechten Sinn für die Wirklichkeit aneignet, der kommt nämlich darauf, daß die besten Einrichtungen, die man für irgendein Zeitalter ersinnen kann, nur eben höchstens ihre Güte für dieses Zeitalter behalten können, daß es aber mit dem, was in der sozialen Organisation da ist, eine ähnliche Bewandtnis hat, wie zum Beispiel mit dem natürlichen Organismus des Menschen.
Ich will nicht ein fatales Analogiespiel treiben, aber ich möchte zur Veranschaulichung auf das hinweisen, was eben vom menschlichen Organismus aus auch im sozialen Organismus begriffen werden kann: Wir können niemals sagen, daß der menschliche, übrigens auch der tierische und pflanzliche Organismus nur in einer aufsteigenden Entwickelung sein könne. Soll das, was organisch ist, gedeihen, soll es seine Kräfte aus sich heraustreiben, dann muß es alt werden können, dann muß es auch absterben können. Wer genauer den menschlichen Organismus studiert, findet, daß dieses Absterben in jedem Augenblicke in ihm vorhanden ist. Immerfort sind die aufsteigenden, sprießenden, sprossenden, fruchtenden Kräfte vorhanden, immer auch sind die abbauenden Kräfte vorhanden. Und der Mensch verdankt gerade diesen abbauenden Kräften sehr viel. Ja, derjenige, der den Materialismus vollständig überwinden will, der muß sein Augenmerk gerade auf diese abbauenden Kräfte im menschlichen Organismus richten. Er muß überall das aufsuchen im menschlichen Organismus, wo die Materie gewissermaßen unter dem Einfluß der Organisation zerfällt. Und er wird dann finden, daß gerade an den Zerfall der Materie die Ausbildung des geistigen Lebens im Menschen gebunden ist. Wir können die menschliche Organisation nur begreifen, wenn wir neben den aufsteigenden, sprießenden, sprossenden und fruchtenden Kräften den kontinuierlichen Verfall beobachten.
Und wenn ich das auch nur zur Veranschaulichung sage, so kann es eben doch veranschaulichen, was der unbefangene Beobachter auch für den sozialen Organismus finden muß: Der soziale Organismus stirbt zwar nicht, dadurch unterscheidet er sich zum Beispiel von dem menschlichen Organismus, aber er wandelt sich, und aufsteigende und absteigende Kräfte sind ihm naturgemäß. Nur der begreift den sozialen Organismus, der weiß: wenn man die besten Absichten verwirklicht und irgend etwas auf irgendeinem Gebiet des sozialen Lebens herstellt, was aus den Verhältnissen heraus gewonnen ist, wird es nach einiger Zeit dadurch, daß Menschen mit ihren Individualitäten drinnen arbeiten, Absterbekräfte, Niedergangskräfte zeigen. Was für das Jahr zwanzig eines Jahrhunderts das Richtige ist, das hat sich bis zum Jahre vierzig desselben Jahrhunderts so verwandelt, daß es bereits seine Niedergangskräfte in sich enthält. Derlei Dinge werden manchmal gewiß in Abstraktionen ausgesprochen. Aber man bleibt im intellektualistischen Zeitalter bei diesen Abstraktionen, auch wenn man vermeint, noch so praktisch zu denken. Und so erleben wir es auch, daß die Leute zwar im allgemeinen zugeben, es seien im sozialen Organismus Absterbekräfte, Niedergangskräfte enthalten, der soziale Organismus müsse sich immer umwandeln, die Niedergangskräfte müßten immer neben den Aufgangskräften wirksam sein - aber da, wo wir mit unsern Absichten, mit unserm Willen in die soziale Ordnung eingreifen, da bemerken wir das in der Abstraktion Zugegebene doch nicht.
So konnte man in der sozialen Ordnung, die vor dem Weltkrieg war, sehen, daß der Kapitalismus zu einer gewissen Befriedigung auch für breitere Massen dann geführt hat, wenn er in einer Entwickelung drinnensteckte, die aufsteigender Art war. Die Löhne stiegen, wenn der Kapitalismus für irgendeinen Zweig des Lebens in aufsteigender Entwickelung war. Wenn man also immer weiter und weiter kam, wenn sich das Kapital immer freier und freier betätigen konnte, dann konnte man sehen, daß tatsächlich der Arbeitslohn und die Verwendungsmöglichkeiten der Arbeit immer mehr und mehr stiegen. Aber nicht in derselben Weise hat man das Augenmerk darauf gelenkt, wie in diesem Steigen zu gleicher Zeit andere soziale Faktoren enthalten sind, die ganz parallel gehen und die bewirken müssen, daß sich Niedergangskräfte geltend machten, daß sich zum Beispiel bei steigenden Löhnen die Lebensverhältnisse so gestalten mußten, daß eben die steigenden Löhne nach und nach so wirkten, daß sie gar nicht außerordentlich viel zur Besserung der Lebenslage beitrugen. Gemerkt hat man selbstverständlich solche Dinge. Aber die sozialen Strömungen verfolgte man nicht so, daß die Anschauungen selber lebens- und wirklichkeitsgemäß gewesen wären.
Und deshalb muß das soziale Leben heute, wo wir an einen wichtigen historischen Punkt hingestellt sind, in seinen Fundamenten betrachtet werden, nicht an den Oberflächenerscheinungen. Und da wird man auf die einzelnen Zweige, die in unserem sozialen Leben enthalten sind, geführt.