Das rechte assoziative Leben zu finden, ist die Aufgabe des Westens

Quelle: GA 083, S. 365-368, 3. Ausgabe 1981, 06.1922, Wien

Der alte Orientale fühlte sich in einer geistgewollten sozialen Ordnung. Gebote der Geistmacht, die ihm seine Führer zum Bewußtsein brachten, gaben ihm die Vorstellungen davon, wie er sich dieser Ordnung einzugliedern hatte. Diese Führer hatten diese Vorstellungen aus ihrem Schauen in die übersinnliche Welt. Der Geführte empfand in ihnen die aus der Geistwelt ihm übermittelten Richtlinien für sein geistiges, rechtliches und wirtschaftliches Leben. Die Anschauungen über des Menschen Verhältnis zum Geistigen, die über das Verhalten von Mensch zu Mensch, und auch die über die Besorgung des Wirtschaftlichen kamen für ihn aus derselben Quelle der geistgewollten Gebote. Geistesleben, rechtlich-staatliche Ordnung, Wirtschaftsbesorgung waren im Erleben eine Einheit. - Je weiter die Kultur nach dem Westen zog, desto mehr trennten sich die rechtlichen Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch und die Wirtschaftsbesorgung von dem Geistesleben im Bewußtsein der Menschen ab. Das Geistesleben wurde selbständiger. Die anderen Glieder der sozialen Ordnung blieben noch eine Einheit. Beim weiteren Vordringen nach dem Westen trennten sich auch diese. Neben dem rechtlich-staatlichen, das eine Zeitlang auch alles Wirtschaften regelte, bildete sich ein selbständiges ökonomisches Denken aus. In dem Vorgange dieser letztern Trennung lebt der Westmensch noch drinnen. Und zugleich erwächst ihm die Aufgabe, die drei getrennten Glieder des sozialen Lebens, das Geistesleben, das rechtlich-staatliche Verhalten, die Wirtschaftsbesorgung, zu einer höheren Einheit zu gestalten. Gelingt ihm dies, so wird der Ostmensch verständnisvoll auf seine Schöpfung schauen, denn er wird wiederfinden, was er einst verloren hat, die Einheit des menschlichen Erlebens.

Unter den Teilströmungen, deren Zusammenwirken und gegenseitiges Sich-Bekämpfen die menschliche Geschichte ausmachen, befindet sich die Eroberung der Arbeit durch das menschliche Bewußtsein. Im alten Orient arbeitete der Mensch im Sinne der ihm auferlegten geistgewollten Ordnung. In diesem Sinne fand er sich als Herrenmensch oder Arbeitsmensch. Mit dem Zuge des Kulturlebens nach dem Westen trat in das menschliche Bewußtsein das Verhältnis von Mensch zu Mensch. In dieses wurde eingesponnen die Arbeit, die der eine für den anderen tut. In die Rechtsvorstellungen drangen die von dem Arbeitswert ein. Ein großer Teil der römischen Geschichte des Altertums stellt dieses Zusammenwachsen der Rechts- und der Arbeitsbegriffe dar. Beim weiteren Vordringen der Kultur nach dem Westen nahm das Wirtschaftsleben immer kompliziertere Formen an. Es zog die Arbeit in sich, ohne daß die rechtliche Gestaltung, die sie vorher angenommen hatte, den Forderungen der neuen Formen genügt. Disharmonie zwischen Arbeits- und Rechtsvorstellungen entstand. Harmonie wieder herzustellen zwischen beiden ist das große soziale Problem des Westens. Wie die Arbeit im Rechtswesen ihre Gestaltung finden kann, ohne durch die Wirtschaftsbesorgung aus diesem Wesen herausgerissen zu werden, das ist der Inhalt des Problems. Wenn der Westen sich durch Einsicht in sozialer Ruhe auf den Weg der Lösung begibt, wird der Osten dem mit Verständnis begegnen. Wenn im Westen das Problem ein Denken erzeugt, das in sozialen Erschütterungen sich auslebt, wird der Osten das Vertrauen in die Weiterentwicklung der Menschheit durch den Westen nicht gewinnen können.

Die Einheit von Geistesleben, Rechtswesen und Wirtschaftsbesorgung im Sinne einer geistgewollten Ordnung kann nur bestehen, solange in der Wirtschaft das Land-Bebauen überwiegt, und Handel sowie Gewerbe sich als untergeordnet der Land-Bewirtschaftung eingliedern. Deshalb trägt das geistgewollte soziale Denken des alten Orients im wesentlichen für die Wirtschaftsbesorgung den auf die Landwirtschaft hingeordneten Charakter. Mit dem Gang der Zivilisation nach dem Westen tritt zuerst der Handel als selbständige Wirtschaftsbesorgung auf. Er fordert die Bestimmungen des Rechtes. Man muß mit jedem Menschen Handel treiben können. Dem kommt nur die abstrakte Rechtsnorm entgegen. - Indem die Zivilisation weiter nach dem Westen fortschreitet, wird das Gewerbe in der Industrie zum selbständigen Element in der Wirtschaftsbesorgung. Man kann nur fruchtbringend Güter erzeugen, wenn man mit den Menschen, mit denen man in der Erzeugung arbeiten muß, in einer den menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechenden Verbindung lebt. Die Entfaltung des industriellen Wesens erfordert aus dem Wirtschaftsleben heraus gestaltete assoziative Verbindungen, in denen die Menschen ihre Bedürfnisse befriedigt wissen, soweit die Naturverhältnisse das ermöglichen. Das rechte assoziative Leben zu finden, ist die Aufgabe des Westens. Wird er sich ihm gewachsen bezeugen, so wird der Osten sagen: unser Leben verfloß einst in Brüderlichkeit; sie ist im Laufe der Zeiten geschwunden; der Fortschritt der Menschheit hat sie uns genommen. Der Westen läßt sie aus dem assoziativen Wirtschaftsleben wieder erblühen. Das hingeschwundene Vertrauen in die wahre Menschlichkeit stellt er wieder her.