Die Kernpunkte der sozialen Frage als Warnung vor dem Valutasturz

Quelle: GA 081, S. 099-102, 1. Ausgabe 1998, 08.03.1922, Berlin

Als mein Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage» zuerst veröffentlicht wurde, fiel es in eine Zeit mitteleuropäischer Entwicklung, die unmittelbar gefolgt war der furchtbaren Kriegskatastrophe. Es war eine Zeit, die dem Versailler Vertrag vorangegangen war; es war eine Zeit, in welcher die Valutaverhältnisse der mitteleuropäischen und der osteuropäischen Staaten noch wesentlich andere waren. Nicht aus irgendeinem Wolkenkuckucksheim heraus waren die Impulse gemeint, die damals in meinen «Kernpunkten» niedergeschrieben wurden, sondern sie waren aus der unmittelbaren Weltsituation der damaligen Zeit heraus so gedacht, daß ich glauben durfte, wenn eine größere Anzahl von Menschen sich fände, welche auf Grundlage dieser Anregungen Weiteres suchte, dann würde man - namentlich von Mitteleuropa aus - einen Impuls auch in die wirtschaftliche Entwicklung hineinwerfen können, der zu einer Art von Aufstieg führen könnte in dem ja damals deutlich vernehmbaren und bis heute andauernden Abfall des Wirtschaftslebens und des sozialen Lebens überhaupt. Man konnte damals sich sagen, wenn man aus den sehr komplizierten Verhältnissen der Weltsituation heraus dachte: Vielleicht bleibt kein Stein stehen, so wie er hineingebaut ist in das Ideengebäude der «Kernpunkte der sozialen Frage» -; aber diese Ideen waren überall herausgedacht aus demjenigen, was war. Doch man könnte sie angreifen, und es wäre vielleicht etwas ganz anderes herausgekommen, als man zunächst schriftlich fixieren konnte. Denn nicht darauf kam es an, Ideen in utopistischer Weise hinzustellen, die ein Bild etwa eines sozialen Zukunftsorganismus entwerfen wollten; sondern darauf kam es an, Menschen zu finden, welche verstanden: Hier liegen reale, unmittelbar im Leben vorhandene Probleme vor; wir müssen uns aus unserer Sachkenntnis heraus mit diesen Problemen befassen und müssen sehen, ob wir, indem wir uns mit diesen Problemen befassen, dann immer weiteres und weiteres Verständnis finden.

Nun ist im Grunde genommen etwas ganz anderes eingetreten. Es haben sich auf der einen Seite wohl Theoretiker gefunden, welche über das, was in meinem Buche steht, allerlei Diskussionen gepflogen haben, welche an das dort Ausgesprochene allerlei Forderungen geknüpft haben. Es hat auch Theoretiker gegeben, die in vollständig mißverstehender Art das, was gesagt war, in utopistischem Sinne umdeuteten und immer wieder fragten: Wie wird sich dieses, wie wird sich jenes gestalten?, - was man ja eigentlich hätte abwarten müssen. Es hat sich sogar die merkwürdige Tatsache herausgestellt, die für mich ganz überraschend war, daß gerade die wirtschaftlichen Praktiker, die in irgendeinem Gebiete des Wirtschaftslebens mit ihrer Routine ganz gut drinnenstanden, die sich in diesem oder jenem Geschäftszweige auskannten und es abgelehnt hätten, sich in ihrem Geschäftszweige etwas hereinreden zu lassen von dem, der nicht gerade in diesem Geschäftszweig versiert war -, daß diese Praktiker diskutierten über die Kernpunkte der sozialen Frage und sich durch das, was von ihnen als Folgerung gezogen wurde, gerade als die abstraktesten Theoretiker erwiesen. Es zeigte sich, daß man im Wirtschaftsleben ganz gut ein routinierter Praktiker sein konnte - im alten Sinne; unter den neuen Verhältnissen kannten sie sich nicht mehr aus -, daß aber diese Praktiker absolut nicht in der Lage waren, das, was hier angeschlagen war in bezug auf die Probleme auch des Wirtschaftslebens, anders als gerade von dem Gesichtspunkte der abstraktesten Theorien aus zu diskutieren; so daß man da gerade in Verzweiflung kommen konnte, wenn man Praktikern gegenüberstand und sich mit ihnen eine Diskussion entwickelte, wo sie durchaus nicht auf etwas Konkretes eingingen, sondern nur das völlig triviale Allgemeine über die soziale Frage und namentlich über den wirtschaftlichen Teil der sozialen Frage wiederholten, wenn man sich mit ihnen irgendwie darüber aussprach.

Das andere, was einem da entgegentreten konnte, war, daß zunächst ja diejenigen, die nun so die ganz handfesten Praktiker sind, es überhaupt ablehnten, sich in solcher Weise über die mögliche Gestaltung der wirtschaftlichen Probleme zu unterhalten. Das Weitere war, daß ja einiges Interesse zum Beispiel in sozialistischen Kreisen erweckt werden konnte, daß man aber gerade dort die Erfahrung machen konnte, daß das, was gewollt war, am allerwenigsten von dieser Seite verstanden wurde, und daß alles nur danach beurteilt wurde, ob es sich in die alten Parteischablonen einfüge oder nicht. Und so verging jene Zeit, aus der heraus diese Anregungen gedacht waren. Es kam das ganze furchtbare Valuta- Elend, das aber in einer ganz anderen Weise eigentlich zu beurteilen ist, als man es heute gewöhnlich beurteilt.

Als zuerst mein «Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt» und dann die «Kernpunkte der sozialen Frage» erschienen waren, da zeigte sich sogleich, wie einzelne Persönlichkeiten, die es ja in ihrer Art mit einer Gesundung des mitteleuropäischen Wirtschaftslebens ganz ehrlich meinten, sagten: Ja, solche Vorschläge - sie nannten das Vorschläge - sind ja ganz schön, aber es sollte zunächst einmal gesagt werden, wie wir zu einer Aufbesserung der Valuta kommen. Das wurde in Zeiten gesagt, als das Valuta-Elend gegenüber den heutigen Verhältnissen noch das reine Paradies war. Nun zeigt sich in solchen Forderungen, wie man überall nur an den äußeren Symptomen herumpfuschen will. Es zeigt sich wenig Verständnis dafür, daß ja in den Valutaverhältnissen nur die an die Oberfläche schlagenden ungesunden Wirtschaftsverhältnisse sich symptomatisch anzeigen, daß man mit einer solchen Symptomenkur überhaupt das Übel gar nicht anpackt, und daß es sich darum handelt, viel tiefer und tiefer in die sozialwirtschaftlichen Zustände der Gegenwart hineinzugehen, wenn man in irgendeiner Weise dazu kommen will, die Probleme realistisch zu besprechen, für die die Andeutung gegeben werden sollte in den «Kernpunkten der sozialen Frage». Und so ist es denn gekommen, daß das, was ich wiederholt am Schlusse von Vorträgen, die ich im Anschlusse an die «Kernpunkte» hielt, damals gerufen habe: man solle sich besinnen, ehe es zu spät ist -, daß dieses «Zu spät! » in einem hohen Grade heute eingetreten ist, daß wir gar nicht mehr in der Lage sind, in dem ursprünglichen Sinne, der die «Kernpunkte» durchpulst, die Sache anzufassen; denn mittlerweile ist das Chaos des Wirtschaftslebens so hereingebrochen, daß wiederum ganz andere Ergänzungen notwendig wären zu dem, was dazumal nicht bloß ausgesprochen werden sollte, sondern ausgesprochen werden mußte, meiner Überzeugung nach. Und man wird wohl doch kaum vorübergehen können an einer Charakteristik unseres Zeitalters im allgemeinen, wenn man das besprechen will, was heute auch dem Wirtschaftsleben am allerschädlichsten ist.