Recht auf Arbeit bei Robespierre und Bismark

Quelle: GA 079, S. 237-238, 2. Ausgabe 1988, 30.11.1921, Oslo (Kristiania)

Das Kompliziertwerden unseres Wirtschaftslebens hat eine Art von Betäubung hervorgerufen, so daß man nicht mehr mit dem, was man ethisch als das Gute ansieht, mit dem, was man als das Rechtliche ansieht, in die einzelnen kompliziert gewordenen Gebiete des Wirtschaftslebens untertauchen kann. Wenn man aber nicht aus der Praxis heraus redet, sondern von allgemein-abstrakten Gesichtspunkten ausgeht, berührt man mit dem, was man immer als Forderungen, als Prinzipien aufstellt, fast gar nicht dasjenige, was dann die Arbeit des Tages, was die Aufgaben des Tages ausmacht.

Wie ich Ihnen aus meiner eigenen Lebenspraxis dieses veranschaulichen konnte, so kann es aber auch durch allerlei Beispiele aus dem geschichtlichen Leben erhärtet werden. Ich möchte ein groteskes Beispiel anführen für das, was ich sagen will. Es war 1884, da sagte Bismarck im Deutschen Reichstag, indem er die Grundlage legen wollte für seine weitere Behandlung der wirtschaftlichen Kardinalfrage, er erkenne an das Recht eines jeden Menschen auf Arbeit. Und er apostrophierte dann die Reichstagsabgeordneten so, daß er sagte: Verschaffen Sie jedem gesunden Menschen von gemeinschaftswegen die Arbeit, die ihn ernährt, sorgen Sie dafür, daß diejenigen, die krank oder schwach sind, von gemeinschaftswegen versorgt werden, sorgen Sie dafür, daß die Alten versorgt werden, und Sie können überzeugt sein, daß das Proletariat seinen proletarischen Führern entläuft, daß die sozialdemokratischen Theorien, die verbreitet werden, keine Anhänger mehr finden. - Nun, das sprach Bismarck, der allerdings in seinen Memoiren gestand, daß er in seiner Jugend republikanische Neigungen gehabt habe, aber den Sie doch ganz gewiß als einen echten Monarchisten anerkennen werden, dem Sie ganz gewiß nicht zuschreiben werden, daß er etwa eingestimmt hätte, wenn in einer proletarischen Versammlung zum Schlusse das Hoch ausgesprochen worden wäre auf die internationale Sozialdemokratie.

Ich möchte auf eine andere Persönlichkeit hinweisen, die dasselbe fast mit denselben Worten ausgesprochen hat, und die allerdings mit ihrer ganzen Gesinnung, mit ihrer ganzen menschlichen Empfindung auf einem anderen allgemein menschlichen Boden stand. Das ist Robespierre. Robespierre hat, indem er seine «Menschenrechte» verfaßt hat, 1793 Ungefähr dasselbe gesagt, nein, ich möchte sagen, ganz genau dasselbe gesagt, was Bismarck 1884 im Deutschen Reichstag gesagt hat: Es ist die Pflicht der Gemeinschaft, jedem gesunden Menschen Arbeit zu verschaffen, für die Kranken und Schwachen von gemeinschaftswegen zu sorgen, den Alten eine Versorgung zu geben, wenn sie nicht mehr arbeiten können.

Dieselben Sätze von Robespierre, von Bismarck, ganz gewiß auf ganz verschiedenem menschlichen Boden! Und dazu kommt das dritte, das auch nicht uninteressant ist hinzuzufügen: Bismarck berief sich, indem er seine «RobespierreWorte» aussprach - die er ganz gewiß nicht von Robespierre gelernt hat - darauf, daß ja diese Forderungen bereits im Preußischen Landrecht seit 1794 stehen. Nun, man wird daraus ganz gewiß nicht schließen dürfen, daß das Preußische Landrecht ein Jahr, nachdem Robespierre die «Menschenrechte» verfaßt hat, diese Menschenrechte in seinen Gesetzeskodex aufgenommen hat, und man wird ganz gewiß in der Welt nicht so urteilen, daß der preußische Staat die Ideen Robespierres durch fast ein Jahrhundert hat verwirklichen wollen gemäß seinem Landrechte, als Bismarck 1884 neuerdings diese Forderung ausgesprochen hatte. Da entsteht schon auch gegenüber den historischen Tatsachen die Frage: Wie kommt es denn eigentlich, daß zwei so verschiedene Menschen wie Robespierre und Bismarck wörtlich dasselbe sagen können, und daß doch beide sich ganz gewiß vorstellen, daß das soziale Milieu, das sie danach bilden wollen, ein ganz anderes ist?

Ich kann die Sache nicht anders ansehen als so, daß eben wir heute, wenn wir über die konkreten Fragen des durch die neueren Jahrhunderte kompliziert gewordenen Lebens sprechen, in so starken Abstraktionen sprechen, daß wir eigentlich alle, der Bismarck von rechts, von der äußersten Rechten, der Robespierre von der äußersten Linken, in bezug auf die allgemeinen Prinzipien miteinander harmonisieren. Wir finden uns in den allgemeinen Prinzipien alle zusammen. Im Leben aber fangen wir sogleich an, in die äußersten Disharmonien zu zerfallen, weil eben unsere allgemeinen Prinzipien ganz weit abliegen von dem, was wir den ganzen Tag im einzelnen treiben müssen. Wir habe heute gerade dann, wenn es auf die Lebenspraxis ankommt, keine Möglichkeit, das, was wir im allgemeinen denken, auch im einzelnen wirklich durchzuführen. Und am meisten abstrakt ist das, was in der proletarischen Theorie heute als wirtschaftliche Forderung auftritt, aus den Gründen, die ich versuchte zu charakterisieren.