Schweiz vom römischen Recht und Rechtsstaat unberührt

Quelle: GA 339, S. 069-072, 3. Ausgabe 1984, 14.10.1921, Dornach

Die schweizerische Geschichte ist eine scheinbar ganz politische, so wie das schweizerische Denken ein scheinbar ganz demokratisches ist. Aber auch mit der Politik verhält es sich so für die Schweiz, wie ich es vorhin für die Demokratie auseinandergesetzt habe: Es ist eine Politik, die eigentlich keine ist, die auf einem kleinen Fleck Erde das Geistesleben und das Wirtschaftsleben verwaltet, aber eigentlich in Wirklichkeit gar nicht Politik treibt. Vergleichen Sie, was in der Schweiz und was anderwärts Politik ist! Es muß manchmal das eine oder andere politisch gemacht werden, weil man mit den anderen Ländern in Korrespondenz treten muß.

Aber wirkliche schweizerische Politik - man müßte eben die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man eine wirkliche schweizerische Politik finden wollte. Die gibt es eigentlich nicht. Auch daraus ist eben ersichtlich, daß hier ein Landgebilde geschaffen worden ist, auf dem im politischen Sinne das Geistesleben, im politischen Sinne das Wirtschaftsleben verwaltet wird, in dem aber eigentlich gar nicht eine wirkliche Empfindung, ein wirkliches Erleben von dem Rechtsdasein vorhanden ist.

Daher handelt es sich darum, daß man hier ganz besonders tief einschärft, daß das Recht etwas ist, was man nicht definieren kann, so wie man Rot oder Blau nicht definieren kann, daß das Recht etwas ist, was in seiner Selbständigkeit erlebt werden muß, und was erlebt werden muß, wenn sich als Mensch bewußt wird jeder mündig gewordene Mensch. Es wird sich also darum handeln, zu versuchen, für schweizerische Mittel gerade dieses menschliche Empfindungs- und Gefühlsverhältnis im Rechtsleben herauszuarbeiten, daß im einzelnen Menschen die Gleichheit leben müsse, wenn Rechtsleben da sein soll. Gerade die Schweiz ist nämlich dazu berufen, und ich möchte sagen: Die Engel der ganzen Welt schauen auf die Schweiz, ob hier das Richtige geschieht -, gerade die Schweiz ist dazu berufen, da sie, ich möchte sagen, völlig jungfräulich ist in bezug auf den Rechtsstaat, nur einen geistigen, nur einen Wirtschaftsstaat hat, einen Rechtsstaat zu schaffen unter Freigebung des geistigen und des Wirtschaftslebens.

An den schweizerischen Bergen hat sich für die Herzen der Menschen eigentlich gebrochen das römische Recht, das in ganz anderer Weise in Frankreich und in Deutschland und anderen europäischen Ländern eingezogen ist. Es ist nur in das Äußerliche hineingegangen, nicht aber in das Empfinden der Menschen. Es ist also jungfräulicher Rechtsboden, auf dem alles geschaffen werden kann. Wenn nur die Menschen zur wirklichen Besinnung kommen, was es für ein unendliches Glück ist, hier zwischen den Bergen zu leben und einen eigenen Willen haben zu können, unabhängig von der ganzen Welt, die sich um dieses kleine Ländchen dreht. Hier können, gerade wegen dieser Weltverhältnisse, die Rechtselemente bloß aus dem Menschen herausgearbeitet werden.

Also ich deute Ihnen an, wie man die besondere Lokalität, die besondere Örtlichkeit in das Vorbereiten hineinbringen muß für solch einen Vortrag, wie man tatsächlich mit sich selber völlig eins sein muß, was das Wesen des Schweizertums ist. Ich kann es natürlich hier nur skizzieren; aber jeder, der in der Schweiz reden will, müßte eigentlich sich bemühen, ganz zu verstehen, welch besonderer Art dieses Schweizertum ist.

Nicht wahr, Sie können sagen: Wir sind ja Schweizer - so wie die Engländer sagen können - Wir sind ja Engländer -, und du willst uns jetzt sagen, wie der Schweizer das Schweizertum kennenlernen soll, und was der Engländer alles nicht hat von solcher Empfindung und so weiter. - Gewiß, das kann man sagen. Aber diejenigen, die heute zu den Gebildeten gehören, haben ja nirgends eine wirklich erlebte Bildung, nirgends eine Bildung, die heraus ist aus dem Unmittelbaren des Erlebens. Daher muß gerade gegenüber dem Rechte auch sehr hingewiesen werden auf dieses unmittelbare Erleben.

Da kommen wir zu der Betrachtung, wie die Menschen allmählich unter der neueren Zivilisation in gegenseitige Verhältnisse, in soziale Verhältnisse hineingekommen sind auf dem Gebiete, wo sich eigentlich das Recht entwickeln sollte. Von Mensch zu Mensch sollte sich das Recht entwickeln. Und alles also, alles Parlamentarisieren ist eigentlich im Grunde genommen nur ein Surrogat für das, was sich von Mensch zu Mensch abspielen müßte in einem wirklich richtigen Rechtsgebiete.

Da hat man dann Gelegenheit, wenn man nun nachdenkt über das Rechtsgebiet, wiederum einzugehen - aber jetzt in einer realeren Weise einzugehen - auf dasjenige, was die Begriffe des Proletariats sind und die Empfindungen der Bourgeoisie. Man kann aber jetzt in einer realeren Weise dasjenige, was das Proletariat an Begriffen entwickelt hat, herüberführen in das Empfinden der Bourgeoisie. Ich sage: Begriffe des Proletariats, Empfindungen der Bourgeoisie. Die Erklärung dafür finden Sie in meinen «Kernpunkten der sozialen Frage».

Das Proletariat hat aus den vier Begriffen, die ich gestern hier entwickelt habe, durchaus eben das Gefühl des Klassenbewußtseins entwickelt; es muß erobern, was im Besitze der Bourgeoisie ist, den Staat.

Inwieweit der Staat nun ein wirklicher Rechtsstaat ist oder nicht, das ist natürlich dem Proletariat auch nicht klargeworden. Aber was als Rechtsstaat sich entwickelt hat, davon ist die Schweiz am allerwenigsten berührt, daher sie am leichtesten ohne Vorurteile einen wirklichen Rechtsstaat begreifen könnte. Was sich als ein wirklicher Rechtsstaat entwickelt hat, das lebt ja nur zwischen den Äußerungen des eigentlichen Seelenlebens der Menschen fast in der ganzen Welt heute, nur eben nicht in der Schweiz! Überall sonst in der Welt lebt eigentlich dasjenige, was Rechtsstaat ist, ein, ich möchte sagen, Unter-der-Hand-Dasein, währenddem dasjenige, was wirklich von Mensch zu Mensch erlebt wird, auf etwas ganz anderem beruht, und zwar auf etwas ganz durch und durch Bürgerlichem. Was der Mensch im öffentlichen Leben eigentlich sucht, was er hineinträgt in das ganze öffentliche Leben, wodurch ihm eine Verdunkelung des eigentlichen Rechtslebens geschieht, das kann man nur erfassen, wenn man ein wenig die konkreten Beziehungen ins Auge faßt.