Uniformierendes Denken führt zum antisozialen Fühlen und Wollen

Quelle: GA 077a, S. 056-074, 1. Ausgabe 1997, 28.07.1921, Darmstadt

Meine verehrten Anwesenden, der Mensch ist heute so stolz darauf, zu sagen, er habe den Autoritätsglauben der früheren Jahrunderte, wie ihn die Bekenntnis-Verwaltungen vorgeschrieben haben, abgestreift. Der Mensch ist heute so stolz darauf, sich zu sagen, er glaube nur an das, was er in seinem eigenen, persönlichen Wesen ergreifen könne. Und dennoch ist es für den Tieferblickenden so, als ob der alte Autoritätsglaube der Bekenntnisreligionen nur auf ein anderes Gebiet übergesprungen wäre, und dieses Gebiet ist gerade das, was man mit einer großen Unbestimmtheit, aber dafür mit einem umso stärkeren Glauben, abstrakt «die Wissenschaft» nennt. Die Wissenschaft. - Sobald der heutige Mensch hört: «die Wissenschaft», dann regt sich in ihm wiederum alles, was vom alten Autoritätsglauben einstmals nach ganz anderen Richtungen hingegangen ist. Was wissenschaftlich festgestellt sein soll, ist heute - aus Gründen, die sich die Menschen in weiteren Kreisen gar nicht sehr stark klar machen - eine Autorität von viel stärkerer Kraft, als jemals eine Autorität es war. Wie oft hört man heute die Antwort auf irgend etwas, was herausquillt als Frage aus dem menschlichen Innern: Die Wissenschaft sagt dieses oder jenes. - Diese allgemeine Macht, die Wissenschaft, hat heute alle Autorität für sich in Anspruch genommen. [] Sie hat diese Autorität bei denjenigen Menschen, die von sich selbst der Ansicht sind, daß sie auf der Höhe ihrer Zeit stehen, auch mit Bezug auf Weltanschauungsfragen in Anspruch genommen.

Nun aber, welcher Art ist das Verhältnis der heutigen Menschheit gerade gegenüber der wissenschaftlichen Autorität? Die Dinge haben es mit sich gebracht, daß wissenschaftlich dasjenige anerkannt wird, wovon man glaubt, daß es jeder Mensch, so wie er nun einmal nach der gewöhnlichen Menschenerziehung, der gebräuchlichen Menschenerziehung bis zu einer gewissen Stufe hin sich entwickelt hat, begreift. Wissenschaft soll im Grunde genommen nichts anderes feststellen, als wozu jeder Mensch, wenn er eben nur die nötigen Vorbedingungen dazu hat, Ja sagen kann. Wissenschaft soll etwas ganz Allgemeines sein. Wissenschaft soll in jedem Menschen auf ein und dieselbe Art leben. Denn man weiß ja, wie es von denen, die vor allen Dingen an der Autorität der Wissenschaft hängen, aufgenommen wird, wenn von einer einzelnen Persönlichkeit irgendwo ein Aufbäumen gegen diese allgemeine Gültigkeit des wissenschaftlichen Urteils stattfindet. So daß man sagen könnte: Das Ideal wissenschaftlicher Weltanschauung ist das, daß sie eine Summe von Urteilen über Welt- und Menschheitsangelegenheiten gibt, die mit vollständigem Nivellement in jedem Menschen auf die gleiche Art gelten. Eine Uniformierung gigantischer Art, möchte man sagen, ist das Ideal dieser wissenschaftlichen Überzeugung.

Wenn man so etwas ausspricht, könnte es zunächst vielleicht sogar als eine Trivialität erscheinen. Im Leben bedeutet diese Trivialität aber außerordentlich viel. Denn bei dem großen Einflusse, den Wissenschaft, namentlich insofern, als sie sich auf naturwissenschaftliche [] Grundlagen stützt, in unserer Zeit gewonnen hat - und [...] mit Recht auf gewissen Gebieten -, muß man annehmen, daß, wo Wissenschaftlichkeit die Menschen immer mehr und mehr uniformiert, es immer mehr und mehr so wird, daß der eine Mensch nur der Abklatsch des anderen wird. Und in der Tat, wenn man Wissenschaft nun nicht ihrem Inhalte nach nimmt, sondern darnach, was sie geleistet hat in der neuesten Zeit in bezug auf die Entwicklung des Menschengeschlechts, so sieht man, wie diese Uniformierung aus der wissenschaftlichen Überzeugungskraft heraus zu einer allgemeinen Menschheitsangelegenheit gemacht werden will. Man braucht nur hinzusehen auf die furchtbaren, zerstörenden Mächte, die heute im Osten von Europa wüten - Mächte, deren Bedeutung hier leider in bezug auf ihre Zerstörungsgewalt noch immer nicht hinlänglich genug gewürdigt werden -, so sieht man, wie ja die Menschen, die sich heute solchen Zerstörungsgewalten mit einem gewissen Fanatismus hingeben, eigentlich davon ausgegangen sind, gewisse Lehren, die aus wissenschaftlichen Untergründen herauskommen, oder vielleicht besser gesagt eine gewisse Seelenverfassung, die aus diesen wissenschaftlichen Untergründen herauskommt, auch zur Basis des sozialen Denkens zu machen. Und was durch dieses Überführen der wissenschaftlichen Seelenverfassung in das soziale Denken angestrebt wird, jenes große Menschheitsgefängnis, wo eben der eine nur der Abklatsch des anderen auch in sozialer Beziehung sein soll, wie etwa im Leninismus oder Trotzkismus, da wird es bis zur Paradoxie, aber allerdings bis zur höchst tragischen Paradoxie geführt. Man sieht schon überall - [] schon überall, man könnte sagen wie ausfließend in den Entwicklungstendenzen unserer Zeit, wie die wissenschaftliche Seelenverfassung dieses Nivellement der Menschheit bewirken will. Das ist im Grunde eine der Hauptkräfte, welche in der Signatur der gegenwärtigen Menschheitsentwicklung sich finden: dieses Nivellement von der Theorie, vom Denken, vom Forschen her. Dadurch wird gar nichts gesagt gegen die Berechtigung dieses Forschens [...]. Denn auf naturwissenschaftlichem Boden ist dieses Forschen eben voll begründet, und es hat die Wissenschaft und die Technik einmal zu den großen, voll berechtigten Triumphen geführt, die ich hier nicht zu schildern brauche.

Diesem einen Pol der neuzeitlichen Menschheitsentwicklung steht nun aber allerdings ein anderer gegenüber, der nicht minder zur Signatur der gegenwärtigen Geistigkeit der Menschheit gehört. In demselben Maße, wie vom Intellekt und von der intellektualistischen Naturbeobachtung her dieses Nivellement der Menschheit angestrebt wird, in demselben Maße rächt sich in der menschlichen Natur das Individuelle, das Persönliche; es treten ja überall in der Welt Polaritäten auf, hier ist auch eine solche, eine innerliche. Und wir sehen, wie gegenüber dem eben geschilderten Nivellement auf der anderen Seite die instinktiven Kräfte der Menschennatur auftreten. Man möchte sagen bis zum animalischen Niveau hin treten die Willensimpulse mit instinktiver Gewalt aus dem Individuellen des Menschen heraus. Während die Menschen mit ihrem Kopf hinstreben nach einem gewissen Nivellement, macht sich überall das Allerpersönlichste aus den Untergründen des Menschen heraus geltend, dasjenige, was den einzelnen Menschen von jedem [] Nebenmenschen im höchsten Maße unterscheidet. So daß wir in dem Augenblick, wo wir absehen von den Gedanken, die sich die Menschen über die Welt im angedeuteten wissenschaftlichen Sinne machen möchten, und übergehen zu dem, was die Menschen fühlen, was die Menschen als Grundlage, als Impuls ihres Wollens anerkennen, wir sehen können, wie die Menschen vollständig aneinander vorbeigehen, wie der einzelne für den anderen nicht mehr ein irgendwie geartetes Verständnis hat. Nur auf engste Kreise noch beschränkt sich ein - oftmals auch künstlich gezüchtetes - Verständnis des einen Menschen für den anderen. Die Menschen verstehen sich heute nicht. Wir reden so viel von sozialen Idealen, von künstlichen Institutionen, welche ein soziales Leben herbeiführen sollen, und dies hauptsächlich aus dem Grunde, um uns über die elementare Tatsache hinwegzutäuschen, daß wir in unserem Instinkt, in unserer Willens- und Gefühlsentwicklung eigentlich furchtbar antisozial geworden sind. Ein antisoziales Element geht durch die Menschheit, sobald man von dem Gedankenleben absieht, und auf dasjenige sieht, was in den Untergründen des Gefühlslebens, in den Untergründen der Willensimpulse eigentlich lebt. Das ist der große Streit in unserer Zeit, in den die Menschheit eingesponnen ist: daß sie auf der einen Seite ein Kopfnivellement sucht und auf der anderen Seite aus den Untergründen der menschlichen Organisation heraus eine Differenzierung entwickelt, die eigentlich in unerhörtester Weise antisozial wirkt.

Da ist der Mensch im Grunde genommen hineingestellt. Und aus dieser Frage, die zu den wichtigsten Bestandteilen in der Signatur des geistigen Lebens der Gegenwart gehört, gehen im Grunde genommen alle [] anderen Fragen hervor; ging im Grunde genommen das hervor, was sich als eine so furchtbare Katastrophe im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entwickelt hat.

Verfolgt man, was an Urteilen an der Oberfläche schwebt, wie die Völker, die Menschen einander beurteilen, wie sie sich gegenseitig Schuld und Unschuld zuschieben, wie sie reden über das, was sie als Recht oder Unrecht anerkennen wollen, dann hat man ja eben im Grunde genommen in allem, was da an der Oberfläche geredet wird, nur eine Oberflächenansicht. In den Untergründen wütet jener Gegensatz, wüten jene Polaritäten, von denen ich eben geredet habe.

Dem gegenübergestellt findet sich in einer gewissen Weise jene anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, die eine Angelegenheit des ganzen, des Vollmenschen werden will, die sein Gefühl und seinen Willen ergreifen will. [...] Wir gelangen dadurch, daß wir das Gedächtnis durchbrechen, zu einer höheren Seelenkraft, zu einer höheren Erkenntniskraft; wir gelangen dadurch zum Anschauen der geistig-seelischen Wesenheit des Menschen, wie sie war, bevor der Mensch für dieses Erdenleben hier konzipiert worden ist. Und von da aus geht dann die Strömung, an welche zu denken dem heutigen Menschen so schwer wird: die Strömung, von der Selbsterkenntnis aus zur Welterkenntnis vorzudringen. [...]

Wenn wir auf unser gewöhnliches, irdisches Erinnerungsvermögen hinblicken, so werden wir sagen: Dieses Erinnerungsvermögen gliedert uns zusammen mit all den Erlebnissen, die wir von einem gewissen Zeitpunkte dieses irdischen Daseins an durchgemacht haben. Diese Erlebnisse liegen zunächst im gegenwärtigen Augenblick mehrheitlich im Unterbewußten der menschlichen Organisation. Wir holen sie entweder willkürlich herauf, oder sie treiben durch ihre eigene Macht in das Bewußtsein herauf. Aus dem Strome der Erlebnisse, die wir durchgemacht haben, tauchen die Erinnerungen auf. Und die Erinnerungsmöglichkeit muß eine kontinuierliche sein, damit unser Seelenleben, unsere Seelenverfassung eine gesunde ist. Wir stehen so als Menschen, dadurch, daß wir diese Erinnerungsmöglichkeit haben, [] nicht nur in uns drinnen, sondern wir hängen durchaus auch zusammen mit alledem, womit wir durch die Erfahrungen durch das äußere Leben Zusammenhang haben. [...] Warum können wir in der Gegenwart das, was wir erlebt haben, wieder heraufzaubern? Weil wir einmal als Mensch damit verbunden waren, weil wir in dem Erlebnis mit der Außenwelt eine Einheit waren. [...] Und wie er als der Mensch, der eingeschlossen ist zwischen Geburt und Tod, nur damit zusammenhängt, was er in der charakterisierten Weise gemeinsam mit der Welt genossen oder erlebt hat, so hängt er damit, was man dann durch weiteres Forschen in sich entdeckt, mit der gesamten Menschheitsentwicklung der Erde und auch mit der Erdentwicklung selber zusammen. Es ist nichts anderes, als zu gleicher Zeit eine Überwindung, ein Durchbrechen des Gedächtnisses und ein Wiederauftreten der Gedächtniskraft auf einer höheren Stufe. Indem wir diejenige Gedächtniskraft im kleinen, die uns unsere irdischen Erlebnisse bewahrt, überwinden, gelangen wir auf einer höheren Stufe zu einer neuen Gedächtniskraft, durch die wir die Bilder entwickeln können von den Schicksalen, die die Erde selber durchgemacht hat in anderen planetarischen Formen, wie ich das in meiner «Geheimwissenschaft» dargestellt habe. Und so wie wir durch unser alltägliches Gedächtnis bildhaft heraufzaubern, was wir erlebt haben seit unserer Geburt, so können wir, wenn wir den ganzen Menschen kennenlernen, durch Geisteswissenschaft das aus der Menschheitsorganisation heraufzaubern, was diese ganze Menschheitsorganisation mitgemacht hat, womit sie verbunden war: die gesamte Weltenentwicklung. Denn der Mensch ist ein Mikrokosmos. Wir haben es nicht mit einer andern Welt zu tun als mit derjenigen, mit der wir selbst verknüpft waren. [...] Wir sehen, wie man dadurch, daß man in größere Tiefen des Menschenwesens hinuntersteigt, zu gleicher Zeit hineinsteigt in das objektive Weltenwerden. In demselben Maße, in dem man gewissermaßen für Augenblicke verzichtet auf das gewöhnliche Innenleben, tritt in dieses Innenleben hinein, was sonst objektives Außenleben geblieben ist. In demselben Augenblick, in dem man untertaucht in die Regionen, die sonst dem Bewußtsein entzogen sind, taucht man in diejenigen Regionen ein, die uns als objektive Wesenheit, als Mensch herausgebildet haben aus dem gesamten Weltenall. Nicht anders kommt das zustande, was anthroposophische Geisteswissenschaft an Welterkenntnis liefern will.

Aus der Signatur der Gegenwart heraus, wie ich sie charakterisiert habe, wendet der heutige Mensch gegen ein solches Welterkennen ein: Ja, aber da gelangt man ja in eine Region hinein, in der die Subjektivität in beliebiger Weise sich geltend machen kann. [...] geradeso, wie das Photographieren eines Baumes von einer bestimmten Seite objektiv [richtig] ist, so kann auch die Schilderung eines Geistesforschers objektiv [richtig] sein - trotzdem sie anders lautet als bei einem anderen, der eben von einem anderen Gesichtspunkt ausgegangen ist. Man wird aber bemerken, daß die anthroposophische Geisteswissenschaft, die ich zu vertreten habe, sich bemüht, dasjenige, was charakterisiert wird, stets von den verschiedensten Seiten zu charakterisieren, und daß dadurch in einer gewissen Weise ausgeglichen werden soll, was durch die Schilderung von nur einem Gesichtspunkte aus einseitig werden kann dieses Schildern von einem Gesichtspunkte aus, das ja namentlich auftreten kann, wenn irgend jemand meine Bücher nimmt und sie in abstrakter Weise miteinander vergleicht und sich dann sagt: Ja, da steht über eine Sache dieses und hier steht jenes. - Das kann sehr leicht ausgemünzt werden, als ob Widersprüche da wären. Dieses entspringt aber aus nichts anderem, als aus dem Bemühen, die Dinge von den verschiedensten Seiten her zu schildern, damit eben gerade durch diese besonderen Wendungen in der anthroposophischen Geisteswissenschaft eine Art Allseitigkeit erzielt werden könne.

Wer das ganz kennenlernt, was auf dem inneren Wege gesucht und gefunden wird, der wird immer mehr und mehr sich klarmachen können, wie sich da ein inneres Vermögen, eine innere Fähigkeit entwickelt, die eigentlich dem ähnlich ist, was der Mensch in der mathematischen Seelenverfassung hat. [Es ist] wie in der Mathematik, wo wir etwas haben, was uns einen bestimmten seelischen Inhalt gibt, der ganz aus dem Innern gewonnen ist. Denn die Mathematik ist ganz aus dem Innern gewonnen; wir wissen, daß eine mathematische Wahrheit wahr ist, wenn wir sie innerlich durchschaut haben, mögen auch Millionen von Menschen es anders sagen. Dasjenige, was sich da abspielt in der Seele, indem wir eine mathematische Wahrheit festzuhalten wissen, die zu gleicher Zeit innerlich und äußerlich ist, das spielt sich in ähnlicher Weise [in der Seele] ab, wenn wir - allerdings durch das Subjektive hindurch - zu dem innerlich Objektiven kommen, das uns in anthroposophischer Geisteswissenschaft wirklich vorliegen kann. Nur der Anfang des Forschungsweges ist subjektiv, von dem schweigt aber der wahre Anthroposoph. Das, was sich dann nach Überwindung der subjektiven Eigentümlichkeiten des Forschers ergibt, das ist durchaus ein Objektives, von dem kann man sprechen wie von einer äußeren Beobachtung, die man durch die Sinne oder auch durch die Waage oder mit dem Meßstab gemacht hat; geradeso, wie man von mathematischen Feststellungen sprechen kann, nur daß diese formal sind, während diejenigen Feststellungen, die man durch Geisteswissenschaft macht, eben inhaltvoll sind.

Das zeigt aber, daß diese anthroposophische Geisteswissenschaft vor allen Dingen bemüht ist, unmittelbar zum Menschen zu sprechen. Das ist auch ihre Aufgabe. Während die gegenwärtige Wissenschaftlichkeit nach einem Nivellement strebt, gewissermaßen danach strebt, den einen Menschen zum Abklatsch des andern zu machen, kann anthroposophische Geisteswissenschaft nicht anders, als zu jedem Menschen als zu einer Individualität zu sprechen. Das ist, möchte ich sagen, das unmittelbare soziale Vertrauen, das man sich im Wirken für diese anthroposophische Geisteswissenschaft erwirbt, daß man nicht irgendetwas hinstellen will, was dadurch, daß man es erforscht hat, nun gelten soll für alle Menschen, sondern durch das man nur appellieren will an die Menschen, indem man sagt: man hat den Inhalt anthroposophischer Geisteswissenschaft selbst erforscht. Aber dieser Inhalt ist der wahre Inhalt der Menschennatur. Spreche ich zu den einzelnen Menschen, so spreche ich so, daß ich sie nicht im Nivellement sehe, sondern jeden einzelnen als Individualität anspreche. Ich rechne darauf, daß, weil ja der Mensch Mensch ist, weil die Menschen gleichen seelisch-geistig-leiblichen Ursprungs sind, daß verwandte Saiten anklingen, daß aus dem Innersten heraus auf individuelle Weise dasselbe wiederkommt, was von dem einen Menschen angeschlagen wird. Nicht so, wie man sonst in der Wissenschaft spricht, spricht man durch Anthroposophie zu den Menschen, als ob man Anhängerschaft für etwas nun einmal Festgestelltes suchen würde, sondern so spricht man durch Anthroposophie, daß man an das Innere eines jeden einzelnen Menschen appelliert und sagt: Wenn du in dein eigenes Inneres hineinschaust, dann entdeckst du auf diesem Wege in deiner eigenen Wesenheit das, was ich dir mitteilen will, weil ich es erforscht habe. - Die Art des Sprechens von Mensch zu Mensch über Geisteswissenschaft, alle Art des Unterrichtens nimmt einen anderen Ton, eine andere [] Gesinnung an, indem man die Mitteilungen in Formeln der anthroposophischen Geisteswissenschaft hüllt. Das ist das, was an anthroposophischer Geisteswissenschaft wirksam ist gegen die Signatur unserer Zeit, wie ich sie geschildert habe: Dasjenige, was wiederum aus dem Denken, aber aus dem Denken aus dem Vollmenschen heraus, appelliert, appelliert zu gleicher Zeit an jeden einzelnen Menschen. Das Gegenteil davon ist das, was angestrebt wird im Nivellement. Es wird angestrebt die Individualisierung des Menschen durch das, was Erkenntnis ist, durch das, was Erarbeitung eines Weltanschauungsinhaltes ist. Dieser Inhalt anthroposophischer Geisteswissenschaft soll der allersubjektivste und zugleich der objektive, der allerpersönlichste und zugleich der allgemein geltende Inhalt der menschlichen Wissenschaftlichkeit sein. Die Menschheit der Gegenwart braucht diesen Gegensatz gegen das Nivellement. Von dem Nivellement ist ausgegangen das, was ich Ihnen geschildert habe, was im Grunde genommen ein antisoziales Element ist, weil es sich als Gegenpol geltend macht: das Unverständnis des einen Menschen gegenüber dem anderen Menschen. Von anthroposophischer Geisteswissenschaft soll ausgehen das liebevolle Verstehen des einen Menschen gegenüber dem anderen; und es wird vor allen Dingen nicht nur eine allgemeine Menschenkenntnis, eine allgemeine Anthroposophie kommen, sondern durch das, was diese allgemeine Anthroposophie und Welterkenntnis sein wird, wird eine Seelenverfassung angeregt werden, die auch wiederum liebevolles Verständnis für jede einzelne Eigentümlichkeit unseres nächsten Menschen in sich schließt.

Was soziales Leben ist, kann nicht begründet werden, wenn es nicht begründet wird aus den tiefsten, heiligsten [] Wurzeln der Menschenwesenheit selber heraus; die sind aber doch für die heutige Menschheitsentwicklungsphase die individuellen, wie ich gestern andeutete. Daher wird Geisteswissenschaft im wesentlichen diesen anderen Einschlag der geistigen Signatur der Gegenwart geben, den wir so stark brauchen.

Damit ist aber schon gesagt, daß auch der andere Pol, der charakterisiert werden mußte mit Bezug auf die Signatur der Gegenwart, einen anderen Charakter annehmen wird. Im praktischen Leben wird eintreten, was nun nicht ein antisoziales Element ist, sondern was ein soziales Element ist. Dieses antisoziale Element, woher kommt es denn eigentlich? Es kommt davon her, daß, indem gerade die Kopfkultur einen Höhepunkt erreicht hat, die Instinkte aus der menschlichen Natur heraus walten und das Fühlen und Wollen ergreifen. Was anthroposophisches Erkennen ist, leuchtet hinein in das Fühlen, leuchtet hinein in das Wollen; es stumpft nicht ab die elementare Gewalt des Fühlens und Wollens, wie die Menschen so leicht glauben; es nimmt den Menschen nicht ihre ursprüngliche Naivität. Nein, wenn irgend etwas Schönes beleuchtet wird, verliert es seine Eigentümlichkeit nicht, sondern sie tritt erst recht hervor. Das, was in den Untergründen der menschlichen Natur liegt, wird nicht stumpfer, wenn es anthroposophisch beleuchtet wird, sondern es wird gerade in richtiger Weise entfaltet, ohne daß der Mensch die heutige Zeitkrankheit, die Nervosität, dadurch mitzumachen hat. Der Gedanke leuchtet wiederum hinein in das Fühlen, das Fühlen ergreift ihn, und indem wir in das Fühlen mit dem Gedanken hineinleuchten, verwandelt sich das «Ich denke, also bin ich nicht», das «Ich bin nur im Bilde, indem ich denke» - es verwandelt sich das Denken in ein Sein.

Und erst indem wir in das Wollen untertauchen, das sonst nur im Schlafe erlebt wird - denn was weiß der Mensch im gewöhnlichen Erkennen von der Beziehung, die da herrscht zwischen einem Gedanken, der zum Willen führen soll, und dem Heben der Hand? -, indem dieses Denken geisteswissenschaftlich in dieses Wollen eintaucht, entwickelt sich das, was nun, wie man sagen könnte, im hellen Licht der Geisteserkenntnis von dem einen Menschen zum anderen Menschen hinführt. Die Menschheit kann ein soziales Ganzes nur dadurch werden, daß die Gefühle, daß die Willensimpulse durchleuchtet werden, jetzt nicht von abstrakter, intellektualistischer Erkenntnis, sondern von dem höheren Schauen. Dadurch aber, daß sie von dem höheren Schauen durchtränkt werden, wird eine wahrhafte Sozialwissenschaft, eine Sozialethik entstehen. Gerade eine solche Sozialethik sollte in meinem Buche «Die Philosophie der Freiheit» gegeben werden. Da zeigte ich, daß sich der Mensch ja im Grunde genommen nur frei fühlen kann, indem er aus dem reinsten Denken heraus einen Impuls für das Handeln, für das Wollen entwickelt. Der Mensch könnte sich niemals frei fühlen, wenn er aus irgendwelchen anderen Untergründen heraus Willensimpulse schöpfen müßte. Wenn wir einem Spiegel gegenüberstehen, und bloß ein Bild vor uns haben - der Vergeich ist mehr als ein Vergleich -, so kann uns dieses Bild nicht zwingen. Wenn mich irgend etwas schiebt, so bin ich gezwungen durch Kausalität. Wenn ich das Bild anschaue, kann ich nicht gezwungen werden; das Bild hat keine Kraft in sich, um mich zu zwingen. Wenn ich meine Willensimpulse in dem reinen Bildgedanken erfasse, dann haben diese Bildgedanken keine kausale Macht, keine Schwungkraft. Indem man die Bildhaftigkeit des [] Denkens erkennt, erkennt man, wie im reinen Denken der freie Wille wirklich aufgeht, so daß nur im Individuellsten des Menschen auch die Impulse für freies Handeln gefunden werden können. Dadurch aber, daß in dieses reine Denken, das uns zunächst Bild ist, der Wille einzieht, gerade dadurch, daß der Wille einzieht, wie es der Fall ist beim liebevollen sozialen Handeln oder bei höherer übersinnlicher Erkenntnis, wie Sie in den Ausführungen meines Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» sehen können, dadurch wird das sonst reine Denken von dem erfüllt, was des Menschen ureigene, ewige Wesenheit ist. Und das erste Hellsehen, meine verehrten Anwesenden, ist schon da, wenn ein freier Willensentschluß im Gedanken aufleuchtet. Und im Grunde genommen ist alles das, was dann von mir als Methode zum Heraufführen in die höchsten Geisteswelten angegeben wird, nichts anderes als eine metamorphosierte Ausgestaltung dessen, was ich in meiner «Philosophie der Freiheit» als dem freien Wollen zugrunde liegend geschildert habe. Erkennt man, wie in diesem vom Willen durchzogenen reinen Denken dasjenige vorliegt, worin der Mensch das Weltgeschehen zunächst erfassen kann wie an einem Zipfel, dann lernt man auch allmählich einsehen, wie man diese Seelenverfassung, die sonst nur in der freien Handlung des Menschen vorhanden ist, in der gestern geschilderten Weise erweitern kann, und wie man dadurch zu übersinnlichen Erkenntnissen kommen kann. Will der Mensch sich als freies Wesen erkennen, so muß er den Anfang machen mit diesem wahren übersinnlichen Schauen, sonst wird ihm Freiheit immer etwas Unmögliches sein. Die Freiheit verträgt sich auch nicht mit der Naturkausalität - auch nicht für den Kantianer oder für [] den, der wenigstens behauptet, einer zu sein. Und auf keine andere Weise kommt man zu einem Harmonisieren von Naturkausalität und menschlicher Freiheit, als indem man die Sache so durchschaut, wie ich es eben geschildert habe.

Dann aber begründet sich noch etwas anderes. Was ich in meiner «Philosophie der Freiheit» geschildert habe als Grundlage des sozialen Wollens, ist viel, viel verkannt worden. Die Leute haben eingewendet: Wie sollen die Menschen denn zusammenwirken im sozialen Organismus, wenn jeder nur den inneren Antrieben seiner individuellen Wesenheit folgt? - Darum geht es aber gar nicht. Es geht darum, daß durch eine wirkliche, echte, wahre geistige Entwicklung des Menschen heranerzogen werden kann, was ich nennen möchte: das wirkliche soziale Vertrauen. Ein menschenwürdiges Dasein im sozialen Leben ist ja doch nur möglich, wenn wir nicht von außen her durch Gebote oder anderes zum Handeln gezwungen werden, sondern wenn wir aus dem innersten Triebe unseres Wesens heraus frei handeln können. Dann aber müssen wir dieses große Vertrauen zum anderen entwickeln können, das Vertrauen, daß er allmählich auch dazu gelangt, aus dem innersten Trieb seiner Menschennatur heraus zu handeln. Und dadurch, daß der Mensch vorschreitet zum Innersten seines Wesens und allmählich sich ein solches Verständnis des einen zum anderen entwickelt, wird durch ein volles gegenseitiges Vertrauen eine soziale Ethik, ein sozialer Organismus aus der individuellen Gestaltung des einzelnen Wollens heraus sich ergeben können. - So hängt das, was bewußtes Vertrauen ist, zusammen mit dem, was ja im Sinne des heutigen Strebens der Menschennatur doch nur als das soziale Wollen angesehen werden kann.