Wirtschaft eher Kriegsgrund als Attentat in Sarajewo

Quelle: GA 174b, S. 364-365, 1. Ausgabe 1974, 21.03.1921, Stuttgart

Nun, die Notwendigkeit lag eben vor, gerade aus den komplizierten österreichischen Verhältnissen heraus, überzugehen zu einer klaren Einsicht in die Frage: Wie hat irgendeine Assoziation von Volkstümern dasjenige zu studieren, was geistige Angelegenheiten sind, und in einem Assoziationsstaate, wie es der österreichische war, lag durchaus in den nationalen Fragen so etwas vor wie die Ausflüsse des geistigen Lebens. Diese Frage hat die österreichische Politik nicht einmal ordentlich anzuschauen begonnen, geschweige denn in Wirklichkeit studiert. Und wenn ich Überschau halte mit einem gewissen Willen, die Dinge zu wägen, sie nicht nach Leidenschaften bloß zu gruppieren oder aus der äußeren Geschichte herzunehmen, so erscheinen mir doch in der Vorgeschichte des serbischen Ultimatums andere Dinge ausschlaggebender noch als das, wozu sich dann die Ereignisse zusammengeballt haben, als die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand. Ich sehe da hin zum Beispiel auf den Umstand, daß sich vom Herbste des Jahres 1911 in das Jahr 1912 hinein wirtschaftliche Debatten im österreichischen Parlament abgespielt haben, die ja bis auf die Straße hinaus bedeutsam geworden sind, und die immer an die dazumal in Österreich bestehenden Verhältnisse anknüpften. Auf der einen Seite wurde dazumal eine ganze Anzahl von Betrieben stillgelegt aus dem Grunde, weil die ganze österreichische Politik so in die Enge getrieben war, daß sie sich nicht auskannte und in fruchtloser Weise versuchte, neue Absatzmärkte zu finden, aber diese nicht finden konnte. Das führte dann im Jahre 1912 zur Stillegung zahlreicher Betriebe und dazu, daß die Preise ungeheuer stiegen. Teuerungsunruhen, die bis zum Revolutionären gingen, entstanden dazumal in Wien und in anderen Gegenden Österreichs, und die Teuerungsdebatten, an denen der verstorbene Abgeordnete Adler einen so großen Anteil nahm im österreichischen Parlament, führten dazu, daß von der Galerie aus auf den Justizminister fünf Schüsse abgegeben wurden. Diese waren das Signal: so läßt sich in Österreich nicht weiter fortwirtschaften, so läßt sich das wirtschaftliche Leben nicht aufrechterhalten. Was hat der Zwischenminister Gautsch dazumal als einen Hauptinhalt seiner Rede gefunden? Er sagte, daß man sich mit aller Energie, das heißt mit den alten administrativen Maßregeln Österreichs, dafür einsetzen müsse, daß die Agitation gegen die Teuerung verschwinde. Das bezeugt Ihnen die Stimmung nach der anderen Seite hin.

Das geistige Leben spielte sich in den nationalen Kämpfen ab. Das wirtschaftliche Leben war in eine Sackgasse getrieben - das können Sie in allen Einzelheiten studieren -, aber niemand hatte Herz und Sinn dafür, daß es notwendig sei, die Bedingungen der weiteren Entwickelung des geistigen Lebens und des wirtschaftlichen Lebens abgesondert von den alten Staatsansichten, die gerade in Österreich sich in ihrer Nullität zeigten, zu studieren. In Österreich zeigte sich die Notwendigkeit, das Studium der weltgeschichtlichen Angelegenheiten so in Angriff zu nehmen, daß die Sache hinarbeitete auf eine Dreigliederung des sozialen Organismus. Das geht einfach aus solchen Tatsachen hervor, wie ich sie jetzt geschildert habe. Daran wollte niemand denken, und weil niemand daran denken wollte, deshalb spielten sich die Dinge so ab. Sehen Sie, dasjenige, was sich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, im Beginne derselben, unter dem Einfluß der Wirkungen des Berliner Kongresses abspielte in Österreich, man braucht es nur mit ein paar Strichen zu beleuchten und man wird sehen, welche Kräfte da spielten. In österreich waren die Verhältnisse schon im Beginne der achtziger Jahre so weit gediehen, ja sogar noch früher, daß der polnische Abgeordnete Otto Hausner im öffentlichen Parlamente die Worte aussprach: Wenn man so fortarbeitet in der österreichischen Politik, so werden wir in drei Jahren überhaupt kein Parlament mehr haben, sondern etwas ganz anderes. - Er meinte das staatliche Chaos. Nun natürlich, man übertreibt in solchen Auseinandersetzungen, man macht Hyperbeln. Es kam nicht in drei Jahren schon, es kam aber in einigen Jahrzehnten, was er für die Zukunft der nächsten drei Jahre prophezeit hatte.

Ich könnte Unzähliges anführen gerade aus den Parlamentsdebatten Österreichs um die Wende der siebziger und achtziger Jahre, woraus Ihnen hervorgehen würde, wie man in Österreich sah, daß auch das Agrarproblem in furchtbarer Weise heraufrückte. Ich erinnere mich zum Beispiel sehr gut, wie dazumal anschließend an die Rechtfertigung des Baues der Arlbergbahn es ausgesprochen wurde von einzelnen Politikern der verschiedensten Schattierungen, daß man den Bau dieser Bahn in Angriff nehmen müsse, weil sich zeige, daß es einfach nicht mehr gehe, agrarisch richtig fortzuarbeiten, wenn in derselben Weise wie früher von Westen her die ungeheure Influenz mit landwirtschaftlichen Produkten so weiterginge. Selbstverständlich war das Problem nicht in der richtigen Weise angefaßt, aber es war eine richtige Prophetie gesprochen. Und alle diese Dinge - man könnte Hunderte anführen - würden zeigen, wie Österreich zuletzt, im Jahre 1914, so weit war, daß es sich sagen mußte: Entweder können wir nicht mehr weiter, wir müssen als Staat abdanken, wir müssen sagen, wir sind hilflos! - oder wir müssen durch ein Vabanquespiel, durch irgend etwas, was einer Oberschichte Prestige schafft, irgendwie aus der Sache herauskommen. - Wer überhaupt auf dem Standpunkte stand, Usterreich solle weiterbestehen - und ich möchte wissen, wie ein österreichischer Staatsmann hätte ein Staatsmann bleiben können, wenn er nicht diesen Standpunkt gehabt hätte -, selbst wenn er ein solcher Tropf war wie Graf Berchtold, konnte sich nicht anders sagen, als: Es muß so etwas geschehen -, man konnte eben nicht anders, als ein Vabanquespiel spielen. Mag es von gewissen Gesichtspunkten aus noch so eigenartig erscheinen, man muß das in seinen historischen Impulsen begreifen.