Marxismus als Dreigliederungsersatz

Quelle: GA 338, S. 188-191, 4. Ausgabe 1986, 17.02.1921, Stuttgart

Gerade weil der Marxismus die modernste Form ist, muß er auch von denjenigen, die nun etwas wirklich Durchgreifendes wollen, scharf ins Auge gefaßt werden. Ganz selbstverständlich kann man heute nicht irgendwie in die Menschenmassen hineinreden, ohne ein geklärtes, wenigstens gefühlsmäßiges Verständnis zu haben für dasjenige, was der Marxismus bedeutet. Das Wesentliche dabei ist ja doch, daß der Marxismus jene Weltanschauung und Lebensauffassung ist, welche am besten der ganzen sozialen Lage des modernen Proletariers entspricht. Er ist einfach angepaßt der ganzen sozialen Lebensauffassung des modernen Proletariers. Und wenn man rein theoretisch den Marxismus bekämpft, so macht man eigentlich etwas, was der Wirklichkeit nicht gemäß ist. Man bekämpft den Marxismus und bedenkt nicht, daß man es ja hat dazu kommen lassen in der Realität, daß der moderne Proletarier so geworden ist, wie er geworden ist. Das ist zurückzuführen auf die Sorglosigkeit der übrigen Bevölkerung. Aber indem man ihn hat werden lassen, wie er geworden ist, konnte er nichts anderes, als den Marxismus als seine Weltanschauung und Lebensauffassung nehmen. Denn dieser Marxismus enthält in sich durchaus für die Auffassung des Proletariats die Dreigliederung des menschlichen sozialen Lebens. Der Arbeiter hat, indem er Marxist wird, aus dem Marxismus heraus seine für seine Klasse passende Anschauung über die Dreigliederung des sozialen Lebens. Die hat er da drinnen.

Denn sehen Sie, in der modernen Zeit wurde es immer mehr und mehr Sitte, von dem Konsum und seinem Durchschauen abzulenken und nach dem bloßen Erwerb hinzuschauen. Dabei hatte man dann nur die Notwendigkeit, von diesem Erwerben so viel abzulassen, daß der soziale Organismus noch verwaltet werden kann. Es interessierte einen, gleichgültig, ob Aristokrat oder Bourgeois, nur so viel von dem Erträgnis des Erwerbs, als man selbst bekam und als man abgeben mußte, damit überhaupt das Ganze zusammengehalten werden konnte. Wie gestaltete sich das bei den Menschen, welche durch alte Privilegien oder sonstige Umstände in dem realen sozialen Organismus drinnenstanden? Sie suchten soviel wie möglich aus dem Erwerb herauszuschlagen. Den Konsum achtete man nicht, und man bewilligte, allerdings nur mit Brummen, für dasjenige, was für den Zusammenhalt des Ganzen notwendig war, die Steuern. Was tat der moderne Proletarier? Der stand nur an der Maschine und außerhalb des Kapitalismus. Der bewilligte gewisse Steuern grundsätzlich nicht, wenn er nicht umfiel. Denn er hatte kein Interesse an der Realität des alten sozialen Organismus. Er interessierte sich auch nur für das, was übrigblieb aus dem Erwerb. Da er nicht drinnenstand in der Verwaltung des Kapitals, so wurde das bei ihm nur der Gegenstand einer Kritik dessen, was er Mehrwert nennt. Das Verhältnis des Proletariers zum Mehrwert, ihn kritisierend, ist dasselbe wie beim Bourgeois, wenn er brummend die Steuern bewilligt. Der Bourgeois ist, indem er die Steuer bewilligt, nicht vorgedrungen zu dem, was dahintersteht. Der Proletarier ist auch nicht vorgedrungen. Aber er hat Kritik geübt. Er hat den Mehrwert ins Auge gefaßt und hat Kritik geübt. Das zeigt also, daß es sich darum handelt, zu der Kritik das Positive hinzuzufügen. Das wäre selbstverständlich das assoziative Prinzip. Aber es ist in der Theorie des Mehrwertes dasjenige drinnen, was innerhalb einer Weltanschauung und Lebensauffassung dem Proletarier das wirtschaftliche Element verkörpert.

Das zweite, was in der marxistischen Theorie drinnenlebt, insoferne sie die Lebensauffassung und Weltanschauung des Proletariers ist, ist der Klassenkampf, der nach seiner Ansicht sein muß. Das ist das politisch-rechtliche Element. Auf dem Wege des Klassenkampfes will er sich seine Rechte erkämpfen, will er die Arbeit organisieren und so weiter. Es ist also das zweite Gebiet des sozialen Lebens darinnen. Es ist nur die Kehrseite zu dem, wie es bei dem Bourgeois und den Aristokraten ist. Die kommen aus ihrer Klasse nicht heraus. Die haben nicht das Talent, aus dem Klassenmäßigen in das allgemein Menschliche hineinzukommen. Der Arbeiter macht das bewußt, aber er nimmt natürlich seine Klasse. So haben wir also im Marxismus auch dasjenige, was sich im modernen Leben als das politisch-rechtliche Element herausgebildet hat, das noch nicht den Übergang gefunden hat zu dem wirklich demokratischen Element, das ja nirgends durchgeführt ist, wozu man aber kommen muß, wo sich auf dem Boden des staatlich-rechtlichen Gebietes des sozialen Organismus alle Menschen gleichberechtigt gegenüberstehen, die mündig geworden sind. Das ist ungefähr dasjenige, was immer die betreffenden Klassen gemeint haben bis jetzt. Als es noch, sagen wir, vor der Französischen Revolution im wesentlichen das aristokratische Element gegeben hat, war dieses unter sich ganz demokratisch, aber unterhalb seiner Klasse hat der Mensch eben aufgehört, er war nicht mehr im vollsten Sinne des Wortes Mensch. Dann kam das Bourgeoistum herauf. Das war unter sich wiederum ganz demokratisch. Aber darunter hörte wiederum der Mensch auf. Dasjenige, wohin alles tendiert in der neueren Zeit, ist die allgemeine Demokratie. Derjenige, der außerhalb des sozialen Organismus stand wie der Proletarier, der konstituierte seine eigene Klasse gegen die anderen an die Stelle des allgemeinen Menschlichen, das so zu definieren ist, daß in alledem, worüber demokratisch parlamentarisiert werden soll, alle Menschen, was sie auch vorstellen, alle Menschen, die mündig geworden sind, als gleiche sich behandelnd sich gegenüberstehen. So haben wir, ich möchte sagen, auch in dem Klassenkampf dasjenige, was wir etwa so charakterisieren müssen: Der Proletarier weiß, es muß - er ist insofern modern -, es muß etwas ganz anderes kommen, als bisher dagewesen ist. Aber das allgemein Menschliche hat er nicht gelernt. Daher geht er von seiner Klasse aus, statt von dem allgemein Menschlichen.

Und auch für das Geistige hat innerhalb der marxistischen Weltanschauung und Lebensauffassung der Proletarier sein Element. Das ist die materialistische Geschichtsauffassung. Im materialistischen Zeitalter und bei der ganzen Erziehung des modernen Proletariers, der nur an den Mechanismus des Lebens herankommt und nicht an die Psyche und an den Geist, wurde dieses Geistesleben in der Anschauung des Proletariers ganz selbstverständlich zu der materialistischen Geschichtsauffassung. Aber diese stellt welt- und lebensanschauungsgemäß das geistige Element dar.

Sie haben also das alleräußerste radikale Ausleben desjenigen, was die moderne Menschheit eigentlich will und worin sie sich nicht zu helfen weiß, in dem proletarischen Marxismus. Und Sie müssen dem gegenüber etwas stellen, was ebenso fundiert ist wie der proletarische Marxismus für das Proletariat. Was ist das Wesentliche dieses proletarischen Marxismus als Weltanschauung? Das Wesentliche des proletarischen Marxismus als Weltanschauung ist der Unglaube an den Menschen.

Dieser Unglaube an den Menschen hatte in den Zeiten der Urweisheit der Menschheit seine Berechtigung, denn da waren es göttliche Kräfte, die in dem menschlichen Innern saßen und den Menschen führten. Die Menschen wußten sich auf dasjenige verwiesen, was sie unbewußt aus Seelentiefen heraus als die Offenbarungen der Götter als Richtkräfte für das Leben erkennen konnten. Da war es der Unglaube an den Menschen und der Glaube an die Götter. Als herausgebunden war aus dem alten theokratisch-kirchlichen Element das staatlich-administrative, das beamtlich-militärische Element, da bestand noch immer dieser Unglaube an den Menschen. Denn da entstand der Glaube, der Mensch als solcher kann doch nicht die Geschicke leiten, das muß der Staat tun. Der Staat wurde zum Götzen, zum Fetisch. Und das führte den Menschen, der nun in das Staatssystem eingespannt war, zum Unglauben an den Menschen, zum Glauben an den äußeren Fetisch. Natürlich, sobald der Gott herunterkommt, wird er immer mehr und mehr zum Fetisch. Der proletarische Marxismus ist die dritte und letzte Stufe des Unglaubens an den Menschen. Denn der Proletarier sagt sich in seiner materialistischen Geschichtsphilosophie: Nicht der Mensch ist es, der die Geschicke leitet, sondern « die Produktionskräfte » sind es, die ihn leiten. Wir stehen als Menschen ohnmächtig da mit unserer Ideologie. So, wie die Produktionsprozesse verlaufen, so ist der geschichtliche Gang. Und was die Menschen innerhalb dieser Produktionskräfte sind, ist nur das Ergebnis der Produktionskräfte selbst.

Unglaube an den Menschen und wirklicher Glaube auch an den handgreiflichen Fetisch! Es ist kein prinzipieller Unterschied, ob der auf andere Weise in die Dekadenz gekommene afrikanische Wilde einen äußeren Holzklotz anbetet, zum Fetisch macht, oder ob der europäische Proletarier die Produktionsmittel und Produktionsprozesse als dasjenige ansieht, was die Geschichte dirigiert. Da ist logisch prinzipiell gar kein Unterschied, es ist unser Zauber-Aberglaube ! Und das müssen wir genügend ansehen. In verschiedener Weise sind die Menschen in die Dekadenz gekommen. In Afrika war auch eine Urweisheit da. Dann ist das heruntergekommen in der Verwaltung; in Ägypten sehen wir das. Dann verfällt es. Der Fetischismus ist nicht dasjenige, was am Ausgangspunkte steht, sondern was in der Dekadenz eintritt. Am Ausgangspunkt steht überall der reine Götterglaube, und im Verkommen liegt erst der Fetischismus. Innerhalb der zivilisierten Gegenden wurden, statt daß man äußerliche Holzklötze anbetete, die « Produktionskräfte » angebetet. Die Gebete wurden natürlich auch anders eingerichtet. Aber « die Produktionskräfte » und « Produktionsprozesse » wurden zu Götzen gemacht. Es ist die letzte Phase des Unglaubens an den Menschen, die Phase der wirtschaftlich abergläubischen Denkweise. Es ist auch prinzipiell kein Unterschied, ob man sich als afrikanischer Wilder mit einem Zauberspruch zu seinem Götzen begibt oder in einer modernen proletarischen Versammlung sich zusammenfindet und marxistische Phrasen drischt. Das Gebet klingt anders, aber man muß sich klar sein darüber, was das innere Wesen der Sache ist.

Dem muß gegenübergestellt werden, was nun nicht Unglaube an den Menschen, sondern Glaube an den Menschen ist. Und letzten Endes kommt es darauf an, daß der Glaube an den Menschen gefunden werde, der Glaube, daß im Innern des Menschen sich die Richtkräfte für das Leben offenbaren. Der Mensch muß zu sich selbst kommen, zum vollen Selbstbewußtsein. Er muß die Möglichkeit finden, sich zu sagen: Alles Äußere ist Aberglaube. Einzig und allein die Richtkräfte im eigenen Innern sind es, die in das Leben eingreifen müssen!