Staat bei Dreigliederung nicht arbeitslos

Quelle: GA 338, S. 068-070, 4. Ausgabe 1986, 13.02.1921, Stuttgart

Es begegnet einem immer wiederum - in Stuttgart hier und in der Schweiz, und auch die anderen Freunde haben ähnliches erfahren -, es begegnet einem immer wiederum, daß die Leute sagen: Ja, wenn man auch einverstanden wäre mit der Gliederung in ein freies Geistesleben und ein freies Wirtschaftsleben, da bleibt aber ja nichts mehr für das Staatsgebiet übrig! Tatsächlich, so, wie das Staatsleben heute ist, wie es auf der einen Seite aufgesogen hat das Geistesleben, das nicht hineingehört, wie es auf der anderen Seite aufsaugt immer mehr und mehr das Wirtschaftsleben, da verkümmert das eigentliche Staatsleben. Da ist das eigentliche Staatsleben, nämlich dasjenige, was sich abspielen soll zwischen Mensch und Mensch, zwischen allen mündig gewordenen Menschen, gar nicht mehr da. Daher können natürlich solche Leute wie die Stammler nur so stammeln, daß sie sagen: Das Staatsleben besteht darin, daß es dem Wirtschaftsleben seine Form gibt. Aber das ist eben das Wesentliche, daß das Staatsleben erst entstehen wird, nämlich umfassen wird alles dasjenige, was zwischen mündig gewordenen Menschen, rein dadurch, daß sie Menschen sind, spielt, und dazu gehört das ganze Gebiet der Arbeitsregelung zum Beispiel, daß das erst in der richtigen Weise entstehen wird, wenn die beiden anderen Gebiete abgetrennt sind. Dann wird sich erst ein wirklich demokratisches Staatsleben herausbilden können. Daß man noch keinen rechten Begriff hat von diesem Staatsleben, das ist nicht verwunderlich, denn heute hat man noch keinen rechten Begriff von einer selbständigen Demokratie, weil man nur abstrakt denkt und darauf losgeht, Demokratie zu definieren. Definieren kann man ja immer, nicht wahr? Definitionen erinnern einen immer an das alte griechische Beispiel, das ich schon öfter angeführt habe, wo jemand den Menschen definierte in einer ganz richtigen Definition: Er ist ein lebendiges Wesen, das auf zwei Beinen geht und keine Federn hat.

Am nächsten Tag brachte man dem, der das gesagt hatte, eine gerupfte Gans und sagte: Das ist also ein Mensch, denn es geht auf zwei Beinen und hat keine Federn. Mit Definitionen kann man alles mögliche machen. Aber es handelt sich nicht um Definitionen, sondern es handelt sich darum, Realitäten zu finden.

Nehmen Sie den Begriff der Demokratie, wie er heute existiert und wie er im Grunde genommen westlichen Ursprungs ist - wie ist er denn entstanden? Sie können die Entwickelung Englands verfolgen. Verfolgen Sie sie durch die älteren englischen Herrschaften hindurch, so werden Sie finden, daß da ein Streben ist heraus aus der Gebundenheit. Aber das alles hat einen religiösen Charakter. Und das nimmt dann einen ganz religiösen Charakter an gerade unter Cromwell. Da entwickelt sich aus dem theokratisch-puritanischen Element, aus der Freiheit des Glaubens, etwas heraus, was dann losgelöst wird von der Theokratie, von dem Glauben, und was das demokratisch-politische Freiheitselement wird. Das ist also das, was man im Westen das demokratische Empfinden nennt. Das ist losgelöst aus dem religiös-unabhängigen Empfinden. So bekommt man den realen Begriff der Demokratie heraus. Und einen wirklichen Begriff von Demokratie wird es erst geben, wenn eine Organisation da ist zwischen der geistigen und der wirtschaftlichen Organisation, die nun fußt auf dem Verhältnis von Mensch zu Mensch und der Gleichheit aller mündig gewordenen Menschen. Da wird sich erst das ergeben, was das staatliche Verhältnis ist.

Aber sehen Sie, da ist es charakteristisch, daß im Grunde genommen in Mitteleuropa wirklich die Gedanken entstanden sind, ohne daß man auf diese Dreigliederung schon gekommen ist, daß die Gedanken entstanden sind: Ja, wie soll eigentlich der Staat entstehen? Es ist im höchsten Maße interessant, wie aus gewissen Schillerschen Begriffen, aus Goetheschen Begriffen heraus Wilhelm von Humboldt, der sogar ein preußischer Minister werden konnte - das ist eine merkwürdige Sache - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den schönen Aufsatz geschrieben hat: «Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen». Da ist wirklich gerungen nach den Möglichkeiten eines Staatsaufbaues, eines wirklichen Staatsaufbaues.

Da ist versucht, das alles herauszuschälen aus den sozialen Verhältnissen, was eben nur staatlich, politisch, rechtlich sein kann. Es ist gewiß Wilhelm von Humboldt nicht in einwandfreier Weise gelungen, aber darauf kommt es nicht an. Solche Dinge hätten fortgebildet werden müssen. Und ehe man nicht dazu kommt, das Reale zu schaffen für dasjenige, was staatlich ist, während «die Stammler» immer stammeln, daß das staatliche Leben nur die Formung des Wirtschaftslebens sei, kommen wir nicht weiter. Diese Dinge, die müssen notwendig heute vor ein großes Publikum gebracht werden, in ausgedehntem Maße und so schnell wie möglich. Denn nur dadurch, daß wir gesunde Gedanken in unsere Zeitgenossenschaft hineinbringen und diese Gedanken so schnell wie möglich verbreiten, können wir vorwärtskommen.