Quelle: GA 337b, S. 218, 1. Ausgabe 1999, 10.10.1920, Dornach
Aber lassen Sie nur einmal durch Ihre Seele ziehen - empfindungsgemäß und unbefangen, nicht beeinflußt von dem, was schon da ist und immerfort von der Staatsseite her in das Geistesleben hineingetragen worden ist -, lassen Sie durch Ihre Seele ziehen das, was das auf sich selbst gestellte Geistesleben ist. Nun, meine sehr verehrten Anwesenden, ich denke, darin werden Sie mich eigentlich alle recht gut verstehen können: Wenn das Geistesleben erst frei ist, dann wird im Geistesleben zuallernächst die Tüchtigkeit wirken, die durch das Vertrauen erkannt wird, getragen wird; diese Tüchtigkeit wird wirken, und sie wird in demselben Maße wirken, in dem dieses Geistesleben vom Staate emanzipiert wird. Und bei all denjenigen « Zöpfen », die nichts wissen wollten von unserem Kulturrat, da konnte man recht gut merken - ich habe das schon von einer anderen Seite her angedeutet - : Wenn es auf die durch das Vertrauen getragene Tüchtigkeit ankommen sollte, nicht auf die vom Staate abgestempelte Tüchtigkeit, dann würden sie sehr bald nicht mehr auf ihren kurulischen Stühlen sitzen. Das ist dasjenige, was nach allen Seiten die Leute so schnell hat verduften lassen vor unserem Kulturrats-Aufruf, daß noch - bildlich vorgestellt - die Frack- und Rockschöße weit, weit im Winde geflogen sind von der Schnelligkeit, mit der sie Reißaus genommen haben, als wir sie aufforderten zu einem freien Geistesleben.