Arbeitspflicht führt auf Dauer zur Steigerung der Selbstmordquote

Quelle: GA 199, S. 241-242, 2. Ausgabe 1985, 10.09.1920, Dornach

Sie alle haben gehört, daß überall auftaucht das Bestreben, Arbeitspflicht einzuführen, das heißt, den Menschen durch irgendwelche soziale Ordnung zu verpflichten, aus den gesetzlichen Bestimmungen der sozialen Ordnung heraus zu arbeiten, nicht mehr bloß an das zu appellieren, was den Menschen zur Arbeit zwingt - den Hunger und andere Dinge -, sondern geradezu gesetzlich festzulegen die Arbeitspflicht.

Wir sehen, wie auf der einen Seite aus sozialistischer Agitation heraus diese Arbeitspflicht gefordert wird. Wir sehen, wie in Sowjetrußland diese Arbeitspflicht geradezu schon zu einer gewissen Feststellung, einer allgemeinen Menschheitskasernierung geführt hat. Wir sehen auch, wie begeistert radikale sozialistische Menschen für diese Arbeitspflicht sind. Wir sehen allerdings auch, wie die schlafenden Seelen der Gegenwart solche Notizen aufnehmen wie die, daß da und dort wiederum ein Ministerium sogar beschlossen hat, die allgemeine Arbeitspflicht einzuführen. Man liest das wie irgendeine andere Notiz, kümmert sich nicht viel darum. Man steht auf, wie man sonst aufgestanden ist, man frühstückt, man ißt zu Mittag, man geht im Sommer aufs Land, man kommt wieder zurück, und man benimmt sich im allgemeinen heute, trotzdem die grundlegendsten Dinge durch die Welt gehen, so, wie man sich halt seither benommen hat, wie man es gewohnt worden ist seither. Aber die Menschheit sollte heute nicht an den alten Gewohnheiten durchaus festhalten; die Menschheit sollte ernst nehmen, um was es sich heute handelt: das Umlernen über alle Verhältnisse des Lebens. Und selbst wenn wir bekämpfen sehen so etwas wie die Forderung der allgemeinen Arbeitspflicht, von welchen Gesichtspunkten aus werden denn solche Dinge bekämpft? Man muß sagen, die Bekämpfer sind in der Regel nicht viel gescheiter als diejenigen, die diese Forderungen aufstellen, denn es wird höchstens gesagt: Ja, kann denn den Menschen die Arbeit noch freuen? - und dergleichen. All die Gründe, die für und gegen aufgeführt werden, sie sind in der Regel gleich viel wert, denn sie entspringen aus den gleichen Urteilen, die sich nur auf das beschränken, was hier zwischen der Geburt und dem Tod sich abspielt, sie gehen nicht hervor aus einer genügenden Durchdringung des Lebens. Und wenn der Geistesforscher kommt und sagt: Nun ja, führt die allgemeine Arbeitspflicht ein, ihr werdet nach zehn Jahren eine furchtbare Statistik haben, denn die Selbstmorde werden in rasender Eile zunehmen -, dann wird man das als eine Phantasterei betrachten und wird nicht eingehen darauf, daß ein solches Urteil aus einer inneren Erkenntnis der Zusammenhänge des Weltenalls genommen ist, wird sich nicht einlassen darauf, Geisteswissenschaft zu studieren und den Boden zu finden, von dem aus man ein solches Urteil berechtigt finden kann. Sondern man wird eben weiterleben, die einen aufstehend, frühstückend, mittagessend, aufs Land gehend im Sommer und dergleichen mehr, die andern in irgendeiner andern Weise schlafend; man wird nicht ernst nehmen, um was es sich handelt.