Reduzierung auf notwendige Arbeit statt Arbeitszwang schafft Freizeit für Kunst

Quelle: GA 337b, S. 097-101, 1. Ausgabe 1999, 30.08.1920, Dornach

Paul Baumann: In welchem Verhältnis steht der Künstler beziehungsweise seine Arbeitsleistung zur sozialen Urzelle? Hat er nicht auch Arbeitsleistungen zu erbringen in Zeiten der Vorbereitung?

Rudolf Steiner: Wenn es sich um Kunst und soziales Leben handelt, so habe ich eigentlich immer ein gewisses unbefriedigendes Gefühl bei einer diese beiden Dinge betreffenden Diskussion, aus dem einfachen Grunde, weil schon die ganze Art der Gedankeneinstellung, der Seeleneinstellung, die in Frage kommt, wenn man von sozialer Gestaltung, von sozialer Struktur spricht, eine etwas andere sein muß als diejenige, die man haben muß, wenn man von Kunst, von ihrem richtigen Hervorgehen aus der Menschennatur und ihrer Geltendmachung im Leben, vor den Menschen reden soll.

In einer gewissen Beziehung sind die beiden Gebiete miteinander nicht recht vergleichbar. Und gerade weil sie das nicht sind nicht, weil sie es sind, sondern weil sie es nicht sind - scheint mir, daß man gerade vom Gesichtspunkte der Dreigliederung des sozialen Organismus die ganze Stellung der Kunst zum Künstler und zur Menschheit beleuchten kann. Wenn man allerdings von der Kunst im sozialen Organismus spricht, so sollte man keinen Augenblick vergessen, daß die Kunst zu den höchsten Blüten des menschlichen Lebens gehört und daß der Kunst alles schädlich ist, was an ihr so ist, daß man es nicht zu den höchsten Blüten der Ausgestaltung des menschlichen Lebens rechnen kann. Und so muß man sagen: Wird es einem dreigliedrigen sozialen Organismus möglich sein, das Leben im allgemeinen so zu gestalten, daß Künstler und Kunst aus diesem Leben hervorgehen können, so wird dies eine gewisse Probe für die Richtigkeit, auch für die innerliche Berechtigung der Dreigliederung des sozialen Organismus sein. Aber es wird sich nicht gut die Frage stellen lassen: Wie muß man das eine oder andere einrichten im dreigliedrigen sozialen Organismus, um zu einer richtigen Kunstpflege oder zu einem richtigen Geltendmachen des Künstlers zu kommen? Vor allen Dingen wird ja die Frage sein: Wie werden die Menschen leben im dreigliedrigen sozialen Organismus? Man kann sagen: Wäre die Idee von der Dreigliederung des sozialen Organismus irgendeine utopistische Idee, so würde man natürlich sagen können, was man von Utopien sagt: Die Menschen werden glücklich leben - so glücklich, als es nur sein kann. - Nun geht ja die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus gar nicht von solchen utopistischen Bedingungen aus, sondern sie fragt einfach: Wie ist die naturgemäße Struktur, die selbstverständliche Struktur des sozialen Organismus?

Man könnte sich ja gut vorstellen, daß irgendein Mensch die Idee hätte, der Mensch als solcher könnte ja viel schöner sein, als er ist, und die Natur habe eigentlich nicht alles getan, um den Menschen schön genug zu machen. Ja aber, so wie einmal die Welt im ganzen ist, so mußte der Mensch so werden, wie er ist. Es kann natürlich sein, daß irgendein Lenin oder Trotzki sagt: Der soziale Organismus muß so und so sein. - Darauf kommt es aber gar nicht an. Ebensowenig kommt es darauf an, ob sich irgend jemand ein anderes Wesen des Menschen vorstellt, als aus dem Ganzen der Natur heraus entstehen kann. Es kommt darauf an, welche inneren Gesetzmäßigkeiten der soziale Organismus haben muß. Und versteht man von diesem ganz durch und durch praktischen Gesichtspunkte aus den dreigliedrigen sozialen Organismus, so kann man dann auch schon Vorstellungen gewinnen darüber, was in diesem dreigliedrigen sozialen Organismus möglich sein wird. Vor allen Dingen wird eine gewisse ökonomische Ausnutzung der Zeit möglich sein im dreigliedrigen sozialen Organismus, ohne daß man Arbeitszwang oder dergleichen schöne Dinge brauchen wird, die alle Freiheit gründlich ausrotten würden. Es wird einfach unmöglich sein durch die Dinge, wie sie sich im dreigliedrigen sozialen Organismus ergeben, daß so viele Menschen wie jetzt unnütz herumlungern. Ich weiß, daß man mit diesen Worten «unnütz herumlungern» Mißverständnisse hervorruft; denn die Leute werden sagen: Ja, die eigentlichen Herumlungerer, die eigentlichen Lebens-bummler, das sind nur sehr wenige. - Darauf kommt es aber nicht an, sondern es kommt darauf an, ob diejenigen Menschen, die viel tun, etwas tun, was unbedingt für das Leben notwendig ist, ob sie etwas tun, was sich rationell, fruchtbar in das Leben hineinstellt.

Wenn Sie heute irgendeinen Zweig des Lebens ins Auge fassen - ich will gleich denjenigen herausheben, der ja am brüchigsten ist in diesem heutigen Leben -, wenn Sie zum Beispiel den Journalismus ins Auge fassen und sehen, wieviel menschliche Arbeitskraft notwendig ist, vom Setzergesellen an bis zu all den anderen, die damit beschäftigt sind, daß Zeitungen zustandekommen. Nehmen Sie all das zusammen, was da an Arbeit geleistet wird - der größte Teil dieser Arbeit wird von Lebensbummlern geleistet, denn der größte Teil dieser Arbeit ist eigentlich unnötige Arbeit. Man kann das alles rationeller machen, ohne so viele Menschen dabei zu beschäftigen. Nicht darum handelt es sich, daß man möglichst viele Menschen mit etwas sich befassen läßt, damit sie leben können, sondern darum, daß im Sinne eines wirklichen sozialen Lebens-kreislaufes diejenigen Beschäftigungen verrichtet werden, die zu einem gedeihlichen Entfalten dieses Lebens, dieses sozialen Kreislaufs, nötig sind. Das alles, was heute an Chaotischem entsteht in bezug auf die Verwertung der menschlichen Arbeitskraft, das hängt ja damit zusammen, daß wir eigentlich gar keinen sozialen Organismus haben, sondern wir haben eigentlich ein durch die Vergötterung des Einheitsstaates hervorgerufenes soziales Chaos. Ich habe oftmals Beispiele hervorgehoben von diesem sozialen Chaos. Nehmen Sie nur einmal an, wie viele Bücher heute gedruckt werden, von denen keine fünfzig Exemplare verkauft werden. Nun, nehmen Sie solch ein Buch - wie viele Menschen sind damit beschäftigt, bis es fertig ist! Die haben ihr Auskommen, aber sie machen ganz unnötige Arbeit. Wenn sie etwas anderes täten, wäre es gescheiter, und es würden dadurch unzählige andere Menschen nach einer gewissen Seite hin entlastet. So aber arbeiten unzählige Setzer, arbeiten unzählige Buchbinder, sie machen Stöße von Büchern - meistens sind es lyrische Gedichte, es kommen aber auch noch andere Dinge in Betracht -, Stöße von Büchern werden fabriziert; fast alle müssen wieder eingestampft werden. Aber solche unnötigen Dinge gibt es viele im heutigen Leben; unzähliges ist absolut unnötig.

Was bedeutet das? Denken Sie sich einmal, unser menschlicher Organismus wäre nicht ordentlich gegliedert in das Nerven-Sinnes-System, das seine Lokalisierung im Kopf hat, in das rhythmische und in das Gliedmaßensystem, die in regulärer Weise zusammenwirken und dadurch ökonomisch wirken. Denken Sie sich einmal, wir wären so ein Einheitswesen, das überall durcheinandergeht, wo überall Unnützes fabriziert wird, das alles schnell wieder ablaufen muß: es würde gar nicht genügend sein, was der Mensch heute an Abflußorganen hätte für unnütze Dinge. Das müssen wir bedenken. Wir müssen uns klar darüber sein, daß es darauf ankommt, daß dieser soziale Organismus gegliedert, daß er tatsächlich innerlich gesetzmäßig gestaltet sein muß; dann wird er auch ökonomisch sein. Dann wird die menschliche Arbeit an ihrem richtigen Platze überall stehen, und vor allen Dinge, es wird nicht unnütze Arbeit verrichtet werden.

Was folgt daraus? Die Menschen werden Zeit haben. Und dann, meine sehr verehrten Anwesenden, dann ist die Grundlage erst gegeben für solche freie Betätigungen, wie es die Kunst und ähnliche Dinge sind. Dazu gehört Zeit. Und aus der Zeit heraus wird dasjenige kommen, was da sein muß zur Kunst, und die Kunst wird dann mit etwas anderem zusammen wirken, sie wird wirken zusammen mit dem freien Geistesleben. Dieses freie Geistesleben geht darauf hinaus, mit der im dreigliedrigen sozialen Organismus vorhandenen Zeit zusammen die Begabungen zu entwickeln - nicht in dieser perversen Weise, wie es heute der Fall ist, sondern in einer naturgemäßen Weise. Wenn der freie geistige Organismus wirklich von den anderen Organismen abgesondert wird, dann wird die Zahl der verkannten Genies wesentlich abnehmen, denn es wird eine viel naturgemäßere Entwicklung da sein. Man wird viel weniger Träumereien von irgendwelchem Künstlertum und dergleichen nachgehen. Also, es wird die Entfaltung der Talente einfach durch die Entfaltung des freien Geisteslebens auf naturgemäßeren Boden gestellt. Und noch etwas anderes ist notwendig, wenn die Kunst sich entfalten soll: es ist künstlerischer Sinn, künstlerisches Bedürfnis, naturgemäßes Verlangen und Begehren der Menschen nach der Kunst notwendig. Das alles muß sich ergeben aus dem dreigliedrigen sozialen Organismus heraus als dasjenige, was eben entsteht, wenn ein organisiertes gesellschaftliches Zusammenleben da ist, nicht ein chaotisches wie heute. Sehen Sie, vor allen Dingen sind wir ja in der neueren Zeit in das Chaos des künstlerischen Empfindens hineingekommen. Das ursprüngliche künstlerische Empfinden, das mit elementarer Kraft aus der menschlichen Erkenntnis herausquillt, das ist ja unter der modernen Bildung ganz und gar verschwunden. Das würde wieder kommen, wenn wir uns im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus entwickeln würden. Und so muß man sich das Ganze, was da entsteht, nun denken.