Waldorfpädagogik kennt keine Kompromisse

Quelle: GA 300a, S. 165-167, 4. Ausgabe 1975, 24.07.1920, Stuttgart

Wir müssen selbstverständlich die Waldorfschule behüten vor jedem Scheinwesen. Wir müssen uns klar sein darüber, daß wir gewissermaßen immer zurückhaltender und zurückhaltender sein müssen gegenüber all denjenigen Leuten, die, nachdem sie gehört haben, die Waldorfschule ist begründet worden, es nun als nächste Aufgabe betrachten, ihr Welt-Herumlungern darauf auszudehnen, daß sie auch in die Waldorfschule hineinriechen, um hier zu hospitieren, um hier einiges mitzunehmen, um etwas Ähnliches da oder dort einfließen zu lassen. Wir müssen uns klar sein darüber, daß es sich nicht darum handelt, das zu fördern, daß möglichst viel Welt-Herumlungerer hier hospitieren, sondern daß es darauf ankommt, daß der anthroposophische Geist klar da sein muß, aus dem heraus die Nachfolgeschaft der Waldorfschule entstehen soll.

Zu mir kam vor einigen Monaten eine Persönlichkeit, die auch in Frankreich etwas Ähnliches begründen will wie eine Waldorfschule, und fragte, ob ich nicht Ratschläge dazu geben könne, ob sie nicht hier in der Waldorfschule hospitieren könne. Ich habe ihr gesagt, anerkannt, als im Geiste der Waldorfschule gehalten, würde dasjenige, was sie in Frankreich, in Paris, begründen will, von mir nur dann, wenn es ganz genau ebenso eingerichtet würde, wie die Waldorfschule eingerichtet ist. Es müßten sich sodann die französischen Freunde zunächst bereit erklären, mich dorthin zu rufen, um einen Kurs abzuhalten, nicht wahr, und ausdrücklich erklären, daß die Schule aus demselben Geist hervorgegangen ist. Sonst würde ich es strikt ablehnen, daß so etwas wie eine Nachfolgerschaft vorliegt. Glauben Sie nicht, daß solche Antworten nur eigensinnige Dinge sind. Sie müssen sich klar sein darüber, wir kommen nicht weiter, wenn wir uns nicht auf den Standpunkt des bestimmt Anthroposophischen stellen, wenn wir uns nicht freihalten von jeder irgendwie gearteten Kompromißlerei. Stellen wir uns auf einen scharfbegrenzten Standpunkt, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß wir selbst in Paris eine Waldorfschule begründen können. Es kommt nur darauf an, daß wir uns nicht bewegen lassen, irgendwie Kompromisse zu schließen. Heute ist es so, daß man am weitesten kommt, wenn man sich fest auf einen bestimmten Standpunkt stellt. Nach außen mag man konziliant sein, aber innerlich, wenn es sich um Prinzipielles handelt, da kommt es darauf an, daß man ganz fest auf seinen Standpunkt sich stellt. Dazu ist es notwendig, die Kraft zu haben, die Dinge wirklich radikal zu durchschauen und keine Neigung zu irgendwelchem Kompromiß zu haben. Sie wissen ja, wenigstens im Sinne und Geist der Führung nach haben wir uns bemüht, während des ersten Jahres solche feste Standpunkte anzustreben. Ich hoffe, daß sie immer mehr zum Ausdruck kommen werden. Sie selbst als Lehrer der Waldorfschule werden sich immer mehr in die Durchschlagskraft des Geistes hineinfinden und die Möglichkeit finden, alle Kompromisse beiseite zu lassen. Wir können nicht darum herum kommen, daß allerlei Leute von außen in die Angelegenheiten der Schule hineinreden. Wenn wir nur selbst in unserem Gemüte nichts von der notwendigen Anschauung, die wir haben müssen, aufgeben, daß im Grunde genommen jede Zustimmung, die von irgendwelcher pädagogischen Seite von heute kommt, zu dem, was in der Waldorfschule geschieht, uns eher traurig stimmen könnte als heiter. Wenn solche Leute, die im heutigen pädagogischen Leben drinnenstehen, uns loben, da müssen wir denken, da muß etwas bei uns nicht stimmen. Wir brauchen nicht jeden gleich hinauszuwerfen, der uns lobt, aber wir müssen uns klar sein, daß wir sorgfältig untersuchen, was wir nicht richtig machen, wenn wir gelobt werden von denjenigen, die im heutigen Erziehungswesen drinnenstehen. Das muß unsere gründliche Überzeugung werden.