Konvention durch materialistische Demokratie

Quelle: GA 334, S. 247-248, 1. Ausgabe 1983, 04.05.1920, Basel

Das zweite ist: Es hat sich deutlich ergeben, daß diese neuere Zeit ganz unter dem Einfluß steht des Triebes, demokratisches, wahrhaftig demokratisches Leben entwickeln zu wollen. Das hat die Menschen ergriffen, wie sonst den einzelnen Menschen die Geschlechtsreife erfaßt oder andere Perioden des Lebens. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts macht sich immer mehr und mehr geltend in der ganzen zivilisierten Welt der Ruf nach Demokratie, nach wahrer Demokratie. Und was ist wahre Demokratie? Ehrlich erfaßt ist Demokratie ein solches Zusammenleben der Menschen im sozialen Organismus, daß jeder Mündiggewordene als Gleichberechtigter jedem anderen Mündiggewordenen gegenübersteht. Das kann nicht entwickelt werden mit Bezug auf das Geistesleben; denn da kommt es auf die Fähigkeiten an. Das Geistesleben muß auf seinem eigenen Boden abgesondert werden. Die Demokratie kann nur umfassen das politische Leben. Aber was ist das politische Leben geworden? Weil der Trieb zwar da ist, Demokratie zu bilden, aber dieser Trieb überall unterbrochen wird unter dem Einfluß des modernen materialistischen Ungeistes - was ist dieses Leben geworden? Es ist geworden statt eines rechtlichen Zusammenlebens, statt des wirklichen, vom Inneren des Menschen heraus geborenen Rechtslebens, ein Leben der Konvention. Wie wir im Geistesleben in der Phrase leben, so im Rechtsleben in den Konventionen, in dem, was paragraphenmäßig festgesetzt ist, dem der Mensch nicht mit seiner Seele angehört, sondern gehorcht, indem es von einer absoluten Macht oder zum Beispiel einer Demokratie konventionell festgesetzt wird. Das zweite, das Geisteswissenschaft mit Bezug auf die Dreigliederung des sozialen Organismus will, ist: Wirkliche Demokratie auf dem Gebiet, wo Demokratie sein kann, begründen. So daß die Konvention ersetzt wird durch dasjenige, was sich vom Innersten der Menschennatur heraus unter gleichberechtigten mündiggewordenen Menschen ergeben muß.