Demokratie als arithmetisches Mittel

Quelle: GA 334, S. 166-167, 1. Ausgabe 1983, 19.03.1920, Zürich

So daß also das Wesentliche bei mir liegt in der Art und Weise, wie die drei Glieder organisiert sind, und man kann nicht sagen: Jeder wird in drei Parlamenten drinnenstehen; es ist nur ein Parlament, in dem jeder drinnenstehen kann, aber nur auf der Urteilsfähigkeit eines jeden mündig gewordenen Menschen beruhend. Also sagen wir, um das wichtigste Gebiet herauszuheben: alle Rechtsfragen. Die Rechtsfragen sind tatsächlich so, daß sie zum mindesten im Interesse jedes mündig gewordenen Menschen liegen, und ich möchte sagen, selbstverständlich, jeder mündig gewordene Mensch ist ja auch nicht idealiter gleich fähig mit jedem anderen mündig gewordenen Menschen. Dafür aber ergibt ein gewisses arithmetisches Mittel doch das Entsprechende in bezug auf die Rechtsfragen. Da müßte man jetzt auf die Theorie der Rechtsbegründung überhaupt zu sprechen kommen. Das Recht beruht eigentlich nicht auf dem Urteil, sondern auf der Empfindung, auf den Gewohnheiten, die aus dem Wechselspiel der zusammenwohnenden Menschen entstehen. Darüber läßt sich urteilen, wenn zusammengehörige Menschen darüber urteilen. Ich glaube nicht, Herr Doktor S., daß der einzelne Mensch deshalb das richtige Recht zu finden braucht, aber zusammen werden sie es finden. Das macht die Demokratie. Ich sehe viel Wichtigeres im Wechselspiel als im einzelnen. Also ich möchte die mündig gewordenen Menschen im demokratischen Parlament haben und sie da beschließen lassen hauptsächlich über Rechtssachen, aber mit Recht auch über Wohlfahrtseinrichtungen, weil da auch jeder mündig gewordene Mensch entscheiden kann; selbstverständlich in vielen Dingen nicht über das Sachliche und Fachliche.

Nun, der Achtstundentag, der ist etwas, was überhaupt für die Dreigliederung des sozialen Organismus ernsthaftig doch nicht in Frage kommen kann, denn was heißt eigentlich Achtstundentag? Ich muß gestehen, ich renommiere nicht, aber den größten Teil des Jahres arbeite ich viel mehr als acht Stunden und finde es durchaus nicht irgendwie übertrieben, und ich glaube nicht, daß es möglich ist, ohne eine Untergrabung unseres wirklichen sozialen Lebens einen solchen Achtstundentag festzulegen. In meinen «Kernpunkten der sozialen Frage» finden Sie deshalb ausgeführt, daß alles das, was sich auf die Zeit der Arbeit bezieht, innerhalb des demokratischen Staatswesens festgesetzt wird, und auf Grundlage dessen kommen dann die Verträge zustande über die Verteilung der Erträgnisse, nicht Arbeitsverträge, sondern Verträge über die Verteilung des Ergebnisses zwischen dem, was ich Arbeitsleiter nenne, und zwischen dem, was ich eben Arbeiter nennen muß.