Semstwos wirtschaftliche Assoziationen statt geistige Korporationen

Quelle: GA 334, S. 148-150, 1. Ausgabe 1983, 19.03.1920, Zürich

Nun wähle ich vielleicht als ein Beispiel den Osten Europas, Rußland, nicht bloß deshalb, weil Rußland durch sein heutiges tragisches Schicksal besonders bedeutsam ist für die Menschenbetrachtung, sondern weil Rußland nach den praktischen politischen Urteilen der führenden englischen Politiker auch das Land ist, an dem sich am alleranschaulichsten, ich möchte sagen, wie an einem im Völkerleben sich abspielenden Experiment zeigen muß, was für Bedürfnisse und was für Unmöglichkeiten im modernen Völkerleben walten. Nur einiges aus diesem russischen Volkswesen lassen Sie mich Ihnen hervorheben.

Da tritt uns, mitten hineingestellt in den Ihnen ja sattsam bekannten russischen Absolutismus in den sechziger Jahren, die merkwürdige Einrichtung der Semstwos entgegen. Landschaftsversammlungen, wo sich die Vertreter des landschaftlichen Lebens, diejenigen Menschen, die im Wirtschaftsleben oder in sonstigen Lebensgebieten in einzelnen Landschaften drinnenstehen, in gewissen Versammlungen zusammenfinden, UM, ich möchte sagen, nach Art eines Rates oder dergleichen, eines Kantonsrates, über diese Angelegenheiten zu beraten.

Rußland ist von den sechziger Jahren an mit solchen Semstwos erfüllt. Sie leisten eigentlich eine fruchtbare Arbeit; sie arbeiten zusammen mit etwas anderem, was Althergebrachtes in Rußland ist: den Mir-Organisationen der einzelnen Dorfgemeinden, eine Art Zwangsorganisation zum wirtschaftlichen Leben des Dorfes. Da haben wir drinnenstehend erstens altdemokratische Gebräuche in der russischen Bauernorganisation, wir haben aber in dem Auftreten der Semstwos etwas Neueres, was durchaus nach dem Demokratischen hintendiert. Aber etwas höchst Merkwürdiges zeigt sich. Und dieses Merkwürdige wird noch auffälliger, wenn wir eine andere Erscheinung betrachten, wie sie sich ergeben hat in Rußland, bevor die Weltkatastrophe das alles vernichtet oder in ein anderes Licht gestellt hat.

In Rußland hat sich ergeben, daß sich die Menschen der verschiedensten einzelnen Berufe untereinander assoziiert haben, und wiederum, daß Assoziationen entstanden sind von Beruf zu Beruf - Bankkassenbeamte, Bankkassenausträger haben Assoziationen gebildet. Diese Assoziationen haben sich wiederum zu umfassenderen Assoziationen zusammengetan. Wer nach Rußland gekommen ist, hat eigentlich seine Begegnungen gehalten nicht mit einzelnen Menschen, sondern er stieß überall, wo er mit irgend etwas zu tun hatte, auf solche Assoziationen.

Das alles schob sich hinein in das sonstige Staatsleben des Absolutismus. Nun, wenn man diese Semstwos, wenn man die Assoziationen, wenn man selbst die Mir-Organisation studiert, so bemerkt man eines. Gewiß, diese Organisationen erstrecken sich auch auf manche andere Gebiete des Lebens, Schuleinrichtungen und dergleichen, aber da leisten sie nichts Besonderes. Wer sich auf ein unbefangenes Studium dieser Assoziationen einläßt - denn schließlich gestalteten sich die Semstwos auch nicht zu Korporationen, sondern eigentlich zu Assoziationen, die Landwirte verbanden sich mit denen, die im Aufgange des industriellen Lebens standen und so weiter -, wenn das auch alles einen solchen Charakter bekam, der wie eine öffentliche Einrichtung aussah, in Wirklichkeit hatte man es mit Assoziationen zu tun, und sie alle leisteten Gutes.

Aber was sie leisteten, leisteten sie eigentlich nur auf dem Boden des Wirtschaftslebens. Und wir können sagen: In diesem Rußland zeigt sich das Merkwürdige, daß ein auf Assoziationswesen begründetes organisches System entsteht. Es erweist sich weiter, daß der russische Staat unfähig ist, irgend etwas mit dem anzufangen, was da im Werden ist. So daß wir sagen können: Indem die Notwendigkeit der frühkapitalistischen Entwickelung, wie sie in Rußland auftritt, zu wirtschaftlichen Organisationen führt, müssen sich diese aus einer inneren Notwendigkeit heraus neben die politischen Institutionen hinstellen.

Nun, etwas anderes Eigentümliches tritt in Rußland auf im 19. und im Beginn des 20. Jahrhunderts. Ja, gewiß, der Absolutismus gründet seine Schulen; aber diese Schulen sind nichts anderes als, ich möchte sagen, ein Spiegelbild für die Bedürfnisse des absolutistischen staatlichen Lebens. Nun, ein Geistesleben entwickelt sich in Rußland, ein intensiveres Geistesleben, als der Westen Europas annimmt. Aber wie muß dieses Geistesleben sich entwickeln? Durchaus in Opposition, ja in revolutionärem Aufruhr gegen alles, was russisches Staatswesen ist. Man sieht, dieser stramm einheitlich organisierte Staat splittert sich auseinander in drei Glieder, aber will sich eigentlich bloß auseinandersplittern. Er kann es aber nicht. Er zeigt uns gerade an dem, was er erlebt, wie unmöglich es ist, mit dem Einheitsstaat diese drei vorzüglichsten Lebensgebiete der Menschen zusammenzupressen.