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Auseinander von Brot und Ethik
Quelle: GA 334, S. 133-135, 1. Ausgabe 1983, 18.03.1920, Zürich
Muß heute dem wirtschaftlich Bedrückten nicht die materielle Vorbedingung geschaffen sein, damit ihm die Möglichkeit geboten wird, Geistiges aufzunehmen? Ich habe gerade in der letzten oder in der vorletzten Nummer der Zeitschrift für «Dreigliederung des sozialen Organismus», die in Stuttgart erscheint, einen Artikel geschrieben: «Ideen und Brot» -, um entgegenzutreten dem landläufigen Vorurteil, daß, wenn von seiten der Gesättigten und auch heute noch Sich-sättigen-Könnenden immer wieder und wieder darauf hingewiesen wird: Es braucht ja nichts anderes getan zu werden, um die soziale Frage zu lösen, als daß die Leute arbeiten. Das ist leicht gesagt! Es handelt sich darum, daß die Leute ein Ziel Sehen, einen Sinn in ihrer Arbeit! Aber auf der anderen Seite ist auch nichts damit getan, wenn immer gesagt wird von der anderen Seite: Erst muß den Leuten Brot geschaffen werden, dann werden sie geistig hochkommen, oder dann kann man dafür sorgen, daß sie geistig hochkommen. Geistige Arbeit ist es ja, welche dazu führt, daß das Brot erarbeitet werde. Man muß organisieren, man muß in einer gewissen Weise dasjenige, was gearbeitet wird, in irgendeine Struktur bringen, in eine soziale, sonst kann das Brot nicht entstehen. Wenn jetzt über Mitteleuropa eine furchtbare Hungersnotwelle sich ausbreitet, so ist ja diese Hungersnotwelle - wenn es auch vorher selbstverständlich nicht gut war, darüber wollen wir uns jetzt nicht unterhalten - nicht gekommen dadurch, daß plötzlich das Brot sich entzogen hat dem Menschen, sondern daß die Menschen in eine soziale Ordnung hineingekommen sind durch die Kriegskatastrophe, innerhalb welcher kein Brot erarbeitet wird, innerhalb welcher keine Ideen wirken, die das Brot erarbeiten lassen.
Die Ideen, die bis 1914 von den Leuten angebetet worden sind, die die Führenden waren, die sind ad absurdum geführt durch die letzten fünf bis sechs Jahre, die sind abgetan. Wir brauchen neue Ideen! Und wenn man sich nicht entschließt, sich zu sagen: Wir brauchen neue Ideen -, durch diese neuen Ideen wird die soziale Ordnung organisiert, dadurch wird das nötige Brot geschaffen; wenn man sich nicht entschließt dazu, dann kommen wir doch in keiner heilsamen Weise zur Weiterentwickelung in die Zukunft hinein.
Es ist sehr merkwürdig, wie sich, ich möchte sagen, im einzelnen Falle zeigt, daß die Menschen sich nicht eingestehen wollen, wie eigentlich die Wahrheit liegt und läuft. Einer der Radikalsten war gewiß bis zum Jahr 1914 der Fürst Kropotkin. Als er wieder nach Rußland gegangen war, da hörte man bald danach: Ja, wenn wir nur von dem Westen Brot bekommen, dann wird es schon besser gehen! - Und daneben hörte man, daß er eine «Ethik» schreibt. Sehen Sie, das ist dasjenige, was uns zugrunde gerichtet hat, daß die Leute auf der einen Seite das materielle Leben haben, auf der anderen Seite ein abstraktes Geistesleben, und daß von dem abstrakten Geistesleben nichts hereinspielt in das wirklich materielle Leben. Der Geist zeigt sich nicht dadurch, daß man ihn anbetet, der Geist zeigt sich dadurch, daß er fähig wird, auch die Materie zu beherrschen und zu organisieren. Das ist gerade das Schlimme, daß unsere Bekenntnisse es dahin gebracht haben, dem Menschen einen schönen Inhalt bloß geben zu wollen, wenn er aufgehört hat zu arbeiten, oder höchstens eine Direktive auf der ersten weißen Seite des Hauptbuches, wo steht: «Mit Gott» - wenn auch das, was da in Soll und Haben verarbeitet wird, durchaus nicht immer rechtfertigt, daß da steht: «Mit Gott»! Aber darinnen zeigen sich die Niedergangserscheinungen unserer Zeit, daß wir die Macht verloren haben, über das, wozu wir uns geistig bekennen, den Übergang zu finden zum materiellen Leben, daß geradezu die Gesinnung herrschend wird, die da sagt: Ach ja nicht verknüpfen das materielle Leben mit dem Geist!
Der Geist ist etwas ganz Erhabenes, den muß man frei halten vom materiellen Leben! - Nein, nicht dazu ist der Geist da, daß man ihn freihält vom materiellen Leben, daß man ihn, wenn man aus der Fabrik herausgeht, ihn als Sonntag-Nachmittag-Sensation nur haben kann, wenn auch noch so edler Art, sondern dazu ist der Geist da, daß man ihn durch das Tor der Fabrik hineinträgt, daß die Maschinen nach dem Geiste gehen, daß die Arbeiter nach dem Geiste organisiert sind. Dazu ist der Geist da, daß er das materielle Leben durchdringe! Und daran sind wir zugrunde gegangen, daß das nicht der Fall ist, daß wir ein abstraktes Geistesleben neben einem geistlosen, von bloßen Routiniers beherrschten materiellen Leben haben. Eher wird es nicht besser, bis der Geist so mächtig wird, daß er die Materie beherrschen kann. Nicht der der Materie fremde, weltenfremde Geist ist es, zu dem Geisteswissenschaft führen will, sondern der Geist, der die Menschen beherrschen kann, den man nicht nur findet, wenn man froh ist, daß man aus der Fabrik hinausgehen kann, sondern den man froh und freudig in die Fabrik hineinträgt, damit jeder einzelne Handgriff im Lichte dieses Geisteslebens geschehe.
Diejenigen, die in dem Sinne, wie es hier gemeint ist, den Geist wollen, die wollen wahrhaftig nicht einen unpraktischen Geist, die wollen den Geist, der in der Welt wirklich nicht nur etwas zu schwatzen hat, nicht nur etwas zu sagen hat, was einen in freien Stunden erfreuen kann, sondern einen Geist, der dadurch, daß er die Materie beherrscht, das Leben durchorganisiert, mit dem Leben sich innig verbinden kann. Von diesem Geiste beziehungsweise von seiner Annahme wird es abhängen, ob wir, wenn wir ihn verleugnen, immer tiefer und tiefer in das Unglück hineinsegeln wollen oder nicht. Zwischen diesem «Entweder-Oder» muß man heute entscheiden. Je mehr Menschen entscheiden werden dahin, daß sie sich zu diesem tätigen Geist aufraffen, desto besser wird es für die Zukunft der Menschheit sein.
