Blutverwandschaft ist heute Verführung

Quelle: GA 196, S. 160-163, 2. Ausgabe 1992, 06.02.1920, Dornach

Nehmen Sie alles dasjenige, was in unsere bisherigen Gemeinschaften führt - die Menschen verdanken es keineswegs ihrer Aufklärung; sie verdanken es nicht den Vorstellungen, die sie voll in ihr Bewußtsein aufgenommen haben, sie verdanken es denjenigen geistigen Kräften, die durch das Blut hindurchscheinend sind, welche ersprossen sind aus den alten Blutszusammenhängen, Blutsverwandtschaften. Wir haben da gerade heute noch immer etwas, was sich hereinstellt in unsere Welt als ein Überbleibsel jener alten Blutsverwandtschaft, was uns das nationale Prinzip gibt, was in ihm zum Vorschein kommt. Weswegen sich der eine einen Engländer, der andere einen Franzosen, der andere einen Polen nennt, das rührt her von alledem, wovon von jeher hergerührt haben diejenigen Zusammenhänge unter den Menschen, die auf Blutsverwandtschaft gebaut sind. Diese Blutsverwandtschaft hatte durch die Jahrtausende der Menschheitsentwickelung ihre gute Berechtigung, denn durch diese Blutsverwandtschaft stieg dasjenige herauf in die Menschheit, was die Menschen zusammenbrachte, was Menschheitsgemeinschaften begründete. Und die Menschen waren im Ausgange der Erdenentwickelung, wie Sie sich aus meiner «Geheimwissenschaft» überzeugen können, durchaus nicht so einheitlich. Die Menschenseelen waren von den verschiedensten Orten, wie Sie wissen, auf die Erde gekommen, haben sich wahrhaftig nicht geliebt, lernten sich lieben nur dadurch, daß sie als Seelen hineingeboren wurden in blutsverwandte Leiber. Ich habe in früheren Vorträgen wiederholt gezeigt, wie das Wohltätige dieser Blutsverwandtschaft, Blutsgemeinschaft von den den Menschen gegnerischen Mächten bekämpft worden ist, von den luziferisch-ahrimanischen Mächten. Das war in alten Zeiten. Da waren gerade die Menschen darauf angewiesen, Menschengemeinschaften aus der Blutsverwandtschaft heraus begründen zu lassen. Heute zu glauben, daß man nur zu übersetzen braucht das alte Blutsverwandtschaftsprinzip in die abstrakte Sprache und daß man sagen kann, indem man die Abstraktheit in «Vierzehn Punkte» kleidet: Jedem einzelnen, auch dem kleinsten Volke sein Selbstbestimmungsrecht ! - man muß Woodrow Wilson in seiner Weltfremdheit, in seiner Abstraktheit sein, wenn man so etwas tun kann. Heute muß man einsehen: Das war einmal. Blutsverwandtschaften begründeten einmal menschliche Gemeinschaften. Heute ist bei den der Menschheit gegnerischen ahrimanischen und luziferischen Mächten anderes bestimmend, heute sollen die Menschen verführt werden durch die Blutsverwandtschaft. Geradesowenig wie der Christus in die Welt gekommen ist, um das Gesetz abzuschaffen, sondern in sich aufzunehmen, ebensowenig soll die Blutsverwandtschaft aus der Welt geschafft werden, im Gegenteil muß man die Blutsverwandtschaft erst in die richtigen Wege leiten. Aber während in alten Zeiten in Menschenherzen die ahrimanischen und luziferischen Wesenheiten gegen die Blutsverwandtschaft aufgetreten sind und die Menschen in egoistische Individuen zerspalten wollten gegen die Blutsverwandtschaft, handelt es sich heute darum, daß die Menschen durch ahrimanische und luziferische Mächte verführt werden sollen, nur auf die Blutsverwandtschaft aufzubauen, während heute die Zeit reif ist, einzusehen, jeder Mensch, der wirklich Leib, Seele und Geist hat und vor uns dasteht, der kommt aus der geistigen Welt herunter, der kommt aus der geistigen Welt so herunter, daß er ein vorirdisches Leben durchgemacht hat. Er sucht sich selber das Blut, durch das er auf der Erde sich verkörpern will. Und ein Gefühl muß nach und nach entstehen für diese geistige Gemeinschaft. In vorchristlichen Zeiten ist die Reinkarnation als Gefühl vorhanden gewesen, denn eine Erkenntnis war sie nur vor dem Jahre 1860 vor dem Christentum; nach dem Jahre 1860 war sie im ganzen Ägypten, in vorderasiatischen, römischen Zeiten nur ein instinktives Gefühl. Jetzt aber kommt die Zeit, wo die Anschauung von dem Menschen als einem geistigen Wesen, das eine Entwickelung durchmacht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, ein lebendiges Gefühl, eine lebendige Empfindung wird, wo man in der Vorstellung leben muß von der überirdischen Bedeutung der Menschenseelen. Denn ohne diese Vorstellung wird die Kultur der Erde ertötet. Man wird nicht eine praktische Tätigkeit entfalten können in der Zukunft, ohne daß man aufblicken kann zu der geistigen Bedeutung der Tatsache, daß jeder Mensch ein geistiges Wesen ist. Und man wird hinzufügen müssen, so paradox das dem heutigen Menschen noch erscheint - paradox weniger der Theorie nach, denn ich will nicht theoretisieren, aber parallelisieren, dem Gefühle nach, es ist aber doch so -, daß man wird lernen müssen, nicht nur sich zu sagen: Wir freuen uns als Eltern, daß uns ein Kind geboren wird, wir freuen uns über diesen Zuwachs unserer Familie, weil uns dieses Kind geboren wird -, sondern man wird sagen müssen: Nein, wir sind bloß das Werkzeug dafür, daß eine geistige Individualität, die wartet, auf der Erde ihr Dasein fortzusetzen, durch uns Gelegenheit dazu findet! - Zu den antiquierten Dingen wird gehören müssen zum Beispiel die Aristokratenvorstellung vom Stammhalter, die Aristokratenvorstellung von der bloßen Blutsfortsetzung der Familie, und ausdehnen wird sich müssen die Empfindung, das Gefühl auf die ganze Menschheit. Aristokraten haben heute noch die Gesinnung, es sei vor allen Dingen ihre Aufgabe, ihr Geschlecht fortzusetzen, so daß der physische Mensch Nachkommen hat mit demselben Namen. Die Empfindung wird sich umkehren müssen dahingehend, daß man diese Nachfolger wird haben müssen im Dienste der ganzen Menschheit, damit gewisse Individualitäten, die herunter wollen auf die Welt, hier auf dieser Erde ihr Dasein fortsetzen können. Die alten Empfindungen ragen im Aristokratentum, im Familienaristokratentum in unsere jetzige Zeit herein. Dem muß sich entgegenstellen die Empfindung jener allgemeinen Menschenkenntnis; dann werden wir auch den Christus neu begreifen können. Denn er ist nicht um des Familienegoismus willen auf der Erde erschienen, sondern um der ganzen Menschheit willen. Er ist auch nicht um irgendeiner Nationalität willen auf der Erde erschienen, sondern um der ganzen Menschheit willen. Er ist nicht erschienen, damit diejenigen, die sich die Sieger nennen, die Nationalstaaten aufrichten können, sondern daß das Allgemeinmenschliche durch den Rahmen des Nationalen auf der Erde gepflegt werde.

Auf dem Grunde desjenigen, was jetzt vorgeht, liegen diese Dinge. Und sie liegen so, daß im Grunde genommen das, was heute mit dem Erdendasein gewollt wird, bekämpft wird von dem, was der größte Teil der Menschen heute noch sagt, was der größte Teil der Menschen heute noch will. Aber die Menschen werden, wenn sie so weiter wollen, nur Dinge begründen, die sich selbst ad absurdum führen, die sich selbst in die Unmöglichkeit führen. Entweder wird man dieses einsehen, oder man wird noch lange im europäischen Chaos drinnen waten müssen. Es ist das beste Mittel, weiter zu waten in diesem europäischen Chaos, wenn man Nationalstaaten gründet.